Platzfragen

Einige historische Einlassungen zur aktuellen Debatte über die Literaturkritik

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Endlich wird mal wieder debattiert im literarischen Feld – „perlentaucher.de“ sei Dank: Nachdem die Anfang des Jahres losgetretene Diskussion über den vorgeblichen Niedergang der deutschsprachigen Literaturkritik nur langsam an Fahrt gewinnen wollte, hat sich die etwas lahme „Sundermeier-Debatte“ in eine durchaus rege „Schütte-Debatte“ verwandelt, die inzwischen primär über die Möglichkeiten des Web für die Zukunft der Kritik geführt wird. Nachdem zu Wolfram Schüttes Idee eines zentralen Netzorgans für Literaturkritik in der Zwischenzeit schon so einiges gesagt worden ist, das an dieser Stelle nicht im Detail resümiert zu werden braucht, möchte der folgende Beitrag noch einmal zum Ausgangspunkt des Ganzen zurückkehren, den Thierry Chervel in seinem „perlentaucher“-Editorial vom 24. Juni benannt hat und der – Schüttes Plädoyer inbegriffen – nach wie vor durch die diversen Diskussionsbeiträge als augenfälligster Indikator der Krise geistert. Die Rede ist vom zunehmend schwindenden Raum, der im Feuilleton der Tages- und Wochenpresse für ausführliche Rezensionen zur Verfügung steht.

Ekkehard Knörer etwa nimmt in seiner rundum bedenkenswerten Wortmeldung im „perlentaucher“ die vorletzte Nummer der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 25. Juni 2015 zum Anlass, ein erschreckendes Bild vom (nicht nur dort) grassierenden „Häppchenjournalismus“ zu zeichnen, der die ernsthafte Literaturkritik kaputt mache. In seiner exemplarisch für das Feuilleton der „Zeit“ in toto getroffenen Einschätzung, die besagte Ausgabe habe in Hinblick auf Literaturkritik nur Irrelevantes enthalten, wird er vorderhand von der Presseschau des „perlentaucher“ bestätigt. Denn diese meldete am 25. Juni 2015 in ihrer üblichen Diktion, dass es „heute leider keine Kritiken“ in der „Zeit“ gegeben hätte. Was so nicht stimmt.

Tatsächlich wurde am 25. Juni 2015 in der „Zeit“ auf drei Seiten in zwölf Texten über zwölf Bücher gesprochen – nicht auf vollen drei Seiten, zugegeben, denn dazu war die Bebilderung denn doch zu opulent und hätte zweifellos jedem der zwölf enthaltenen Texte im Wortsinne noch „Luft nach Oben“ gelassen, wenn sie denn etwas dezenter ausgefallen wäre (was man sich als literaturaffiner Feuilletonleser freilich wünschen kann). Man hatte es also mit Kurzkritiken im Umfang von durchschnittlich etwa 350 Worten zu tun, die sich legitimerweise weder als Verrisse noch als eingehende Analysen, sondern ohne Umschweife als Empfehlungen von LiteraturkritikerInnen verstanden wissen wollten – ging es doch um Urlaubslektüre, und warum sollte die zur Sommerszeit nicht pointiert empfohlen werden dürfen? Die Frage, ob längere, ausführlich ästhetische Probleme wälzende Rezensionen diesem aktuellen und sehr konkreten Anliegen überhaupt angemessen gewesen wären, stellt Knörer in seiner besorgten Metakritik ebenso wenig wie die Frage, welche Bücher denn da überhaupt empfohlen wurden. Dass es sich bei letzteren nur um Mainstream, ästhetisch minderwertigen Schmus oder ausschließlich Großverlagsproduktionen gehandelt haben würde – wie die im Laufe der Debatte oft und gern geäußerte Pauschalvorwürfe eben lauten –, trifft jedenfalls nicht zu.

Ohne das von Knörer aufs Tapet gebrachte Beispiel zu Tode reiten zu wollen: mir scheint es denn doch ein schlechtes Exempel, um als Anlass für generelle Apokalyptik genommen zu werden, zumal ein sommerliches „Special“ eben ein Special und durchaus nicht die Regel ist. Das legen im Übrigen schon die unmittelbar davor und danach erschienenen Ausgaben der „Zeit“ nahe, auf deren Feuilletonseiten der „perlentaucher“ wieder mehrere Buchbesprechungen von hinlänglicher Ausführlichkeit registrieren konnte (darunter „klassische“ Rezensionen von Ina Hartwig und Helmut Böttiger). Solchermaßen kontextualisiert, erscheint mir der  exemplarisch geschmähte Sommer-Schwerpunkt der „Zeit“ eher als ein Beispiel für die Formenvielfalt literaturkritischer Schreibweisen, die situationsbedingt zum Einsatz kommen – und dabei mal länger, mal kürzer ausfallen. Einigen Beiträgern der aktuellen Debatte kann es ohnehin nicht kurz genug sein, wenn sie – wie Dana Buchzik in ihrer Wortmeldung vom 2. Juli – ein gewisses Unbehagen gegenüber „langatmige[n] Buchrezensionen“ artikulieren und stattdessen den Ratschlag erteilen, „sich kurz zu fassen“, wenn man die Literaturkritik überhaupt noch retten wolle. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, in der Mitte, so dass mit Klaus Kastberger auf die in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Volltext“ aufgeworfene Frage, worin denn die größte Herausforderung für die Literaturkritik in der Gegenwart bestehe, zu antworten wäre: „Platz haben, aber nicht zu viel.“

Man wird sich vor diesem Hintergrund einmal mehr fragen dürfen, ob die „Bücherschau“ des „perlentauchers“ mit ihrer letztlich recht formalistischen Fokussierung auf die „klassische Rezension“ – die es überhaupt erst einmal präzise zu definieren gilt – nicht generell ein verzerrtes Bild von Zustand und Praxis der gegenwärtigen Literaturkritik im Printfeuilleton zeichnet, wenn eine Reihe von literaturkritischen Formaten und Schreibweisen unbeachtet bleibt, die den interessierten Leser gleichwohl auch zur Lektüre der behandelten Bücher hinführen, ohne dabei die Vorstellung von umfänglichen Rezensionen bedienen zu können (oder zu wollen). Thorsten Jantscheks lesenswertem Debattenbeitrag vom 6. Juli ist in diesem Zusammenhang nur vollauf beizupflichten: Er trifft nämlich ins Schwarze, wenn er mit Blick auf Wolfram Schütte darauf hinweist, dass es den Krisen-Beschwörern der Literaturkritik primär überhaupt nicht um die Rettung des literaturkritischen Diskurses über Bücher an sich geht; sondern lediglich um die Rettung eines spezifischen literaturkritischen Genres in diesem Diskurs: eben der klassischen Rezension, die als Instrument kunstrichterlicher Deutungsmacht fungiert.

Am Beispiel des Hörfunks (der im Argumentationsgang der bisherigen Debatte überhaupt zu kurz zu kommen scheint) führt Jantschek überzeugend aus, dass auch dort trotz eines offenkundigen Rückgangs an Rezensionen heute „mehr über Bücher und Literatur gesprochen wird als vorher, Autorengespräche, Portraits, Literaturtipps, aktuelle Berichterstattung zur Literatur“ seien allerorten anzutreffen. Sein Fazit: „Es gibt weniger Rezensionen und mehr Literatur. Zum Finden von Büchern, ohne sie gesucht zu haben, ist für die literarisch interessierte Öffentlichkeit sehr viel Raum gegeben.“ – Ein Raum also, der nicht mehr allein von einer „Königsdisziplin“ wie der „klassischen Rezension“ besetzt werde, die inzwischen „neben all die anderen Formen des journalistischen Umgangs mit Literatur“ getreten sei. Das gilt fürs Feuilleton der großen Zeitungen genauso.

Ist diese Vielfalt eine Verarmung? Wer eine Antwort auf diese Frage wagt, wird sich unversehens in einer anderen, längst überwunden geglaubten Debatte von vor zehn Jahren wiederfinden, indem er sich nämlich als „Emphatiker“ oder „Gnostiker“ outet. Die einschlägigen Positionen und Aversionen jedenfalls scheinen zumindest unterschwellig auch die aktuelle Diskussion weiter anzuheizen. Hie und da blitzen sie dann mit allen ihren Argumentationsweisen auch explizit wieder auf, ohne jedoch das von Hubert Winkels eingeführte Begriffspaar in den Mund zu nehmen – vielleicht, weil sonst offenkundig würde, dass es sich um alte Hüte handelt?

Kramen wir also, wie es auch Thierry Chervel in seinem „perlentaucher“-Editorial vom 24. Juni empfiehlt, einmal „im Gedächtnis treuer Zeitungsleser“. Und das nicht etwa nur, um den nicht wegzudiskutierenden Schrumpfungsprozess des Gesamtraums zu benennen, den das Feuilleton der Tagespresse im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre durchgemacht hat. Denn wer – wie Chervel – aktuell wieder ins Feld führt, dass etwa das Feuilleton der „FAZ“ um das Jahr 2000 herum „gut und gerne zehn bis elf Zeitungsseiten täglich“ umfasst habe, während es heute nur mehr vier bis fünf seien, der sollte doch auch erwähnen, dass diesem quantitativen Niedergang ein ebenso rasanter Seitenvermehrungsprozess in den 1980er und 1990er Jahren vorausgegangen war – was „treue Zeitungsleser“ durchaus wissen und unter dem Stichwort „Feuilletonboom“ abgespeichert haben. Jens Jessen hatte das vor Jahr und Tag am Beispiel der „FAZ“ schon einmal wie folgt kommentiert:

Als ich als Hospitant zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ kam, hatte das Feuilleton einen Umfang von knapp zwei Seiten. Als es berühmt wurde, standen uns vier bis fünf Seiten zur Verfügung. Die Zeiten, als das Feuilleton zehn Seiten besaß, waren kurz und vergänglich, und es waren nicht die besten.

Statt alarmistisch von Niedergang könnte man also auch etwas nüchterner von einem Rückbau sprechen, der einen status quo ante wiederherstellt. Jessen hatte seinerzeit das Bild einer Diät zur Hand, denn „wenn ein Feuilleton von zehn Seiten Umfang auf fünf reduziert wird, dann ist das auch nur gesund.“

Nachzulesen steht das alles in dem bis heute empfehlenswerten Bändchen „Was vom Tage bleibt“, das Thomas Steinfeld 2004 als Begleitpublikation zur Tagung der Kulturstiftung des Bundes über die Zukunft des Feuilletons und der kritischen Öffentlichkeit im Kontext der Zeitungskrise herausgegeben hat. Auch diese Debatte samt staatlich unterstützter Krisen-Konferenz liegt nun schon wieder ein volles Jahrzehnt zurück. Eine Zukunft, in der nach der umfangsmäßigen wie thematisch ausgreifenden Kompetenzerweiterungen des Feuilletons in einer Art von Rollback wieder seitenfüllende Besprechungen ganz „selbstverständlich zum Aufmacher“ werden sollten, hat man sich damals übrigens keineswegs einhellig gewünscht. Die geheime „Sehnsucht nach […] einer Rückkehr des Rezensionsfeuilletons“ – die Ulrich Greiner gleichwohl konstatierte – scheint freilich bis heute unvermindert anzuhalten. Wolfram Schüttes aktuelle Idee für dessen Auslagerung ins Netz ist das beste Beispiel dafür. Und auch insofern alter Wein in neuen Schläuchen.

Stichwort alter Wein: Um festzustellen, wie gut oder schlecht es um die Literaturkritik in der Gegenwart bestellt ist, lohnt es sich vielleicht doch, eine historische Perspektive einzunehmen und längerfristige Vergleiche anzustellen. Werden wir also einmal richtig historisch und blicken nicht nur ein volles Jahrzehnt zurück, sondern weiter, nämlich in jene Zeit, als das Feuilleton noch gar nicht in eigenen Seiten bemessen wurde, sondern seinen berühmten Ort „unterm Strich“ der Tagespresse fand. Und fragen uns dabei, ob der schwindende Umfang nicht des ‚Gesamtraums‘ Feuilleton, sondern der einzelnen Besprechungsformate in der Gegenwart tatsächlich nur ein aktueller Effekt mangelnden Leserinteresses, fehlender kritischer Bereitschaft oder gar der zunehmenden Dominanz nicht-rezensierender Formen des Literaturjournalismus ist, wie die unterschiedlichsten Erklärungsmodelle lauten. Kurz gefragt: Wie viel Platz hatten eigentlich seinerzeit die Rezensenten „unterm Strich“ für eine typische Buchbesprechung? Und wie umfangreich können Rezensionen heute sein?

Der „perlentaucher“ geht – das hat Thierry Chervel in der Zwischenzeit offen gelegt – von etwa 60 bis 80 Zeilen Mindestumfang aus, um eine Rezension als annotationsfähig (und ergo „klassisch“) zu bewerten, weshalb denn auch die eingangs erwähnten 12 Sommer-Kritiken der „Zeit“ vom 25. Juni durch die Maschen seines Netzes gerutscht sind. Sie waren im Durchschnitt nämlich nur etwa halb so lang als das geforderte Mindestmaß: 30–40 Zeilen. Das freilich ist in etwa der Platzumfang, der noch in der Zwischenkriegszeit „unterm Strich“ oder auch in den Buchbeilagen führender Tageszeitungen wie dem „Berliner Tageblatt“, der „Neuen Freien Presse“ oder der „Vossischen Zeitung“ oft genug für eine Buchbesprechung Gang und Gäbe war – in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen. Es ist in etwa auch der Raum, den ein Kurt Tucholsky zur selben Zeit in seiner berühmten Literaturglosse „Auf dem Nachttisch“ in der „Weltbühne“ bisweilen für einzelne Titel übrig hatte: Seine Sammelbesprechungen waren zwar in aller Regel mehrseitig; wie es sich für Sammelbesprechungen versteht, kam bei fünf oder mehr Titeln pro Glosse dem einzelnen Buch aber nur mehr verhältnismäßig geringer Raum zu, der pointiert gefüllt werden wollte. Auch ein Hermann Hesse hat in seinen kritischen Referaten für  Rundschauzeitschriften und Tageszeitungen, in denen er zahllose Sammelrezensionen veröffentlichte, für viele Einzeltitel die 60-Zeilen-Marke unterschritten, und wäre damit – wie mancher andere seiner Kollegen, die heute als Klassiker der Literaturkritik gelten, den auf Witzigkeit gepolten Kurz-Kritiker Alfred Kerr selbstredend eingeschlossen – mit seinen Besprechungen im „perlentaucher“ kaum vertreten gewesen. Auch hier empfiehlt es sich durchaus, nachzublättern, wo die besagten literaturkritischen Texte längst in zuverlässigen Editionen vorliegen – als Teil der Literaturgeschichte, kanonisierte Abteilung.

Nun wird man den Literaturkritikern von heute schwerlich zum Vorwurf machen, dass sich unter ihnen kein zweiter Kurt Tucholsky befindet (und dass ein neuer Hermann Hesse oder gar ein Alfred Kerr fehlt, darüber kann man vielleicht sogar froh sein); dass es gleichwohl „kurze Formate der Kritik“ gibt, „in denen sich Großartiges leisten lässt“ – um mit Ekkehard Knörer zu sprechen – wird auch für die Gegenwart niemand bezweifeln, nur allenfalls immer seltener in konkreten Beispielen finden wollen. Insofern Knörer immerhin zugesteht, dass auch auf engem Raum relevante Literaturkritik betrieben werden könne, deckt sich seine qualitativ argumentierende Beschreibung der gegenwärtigen Krisensituation keineswegs mit der rein quantitativen Argumentation Chervels, der einer Besprechung erst ab einer gewissen Zeilenzahl Relevanz zubilligen will.

Bleiben wir also beim Quantitativen und der historischen Perspektive, die manchen Klageruf über Erosionsphänomene von heute denn doch etwas relativieren hilft. Selbst in Zeiten, in denen die Tageszeitung noch das weitgehend unangetastete Leitmedium schlechthin war und nicht nur überregionale Blätter zwei Mal täglich erschienen, war die „tägliche Buchkritik“ oder gar eine „tägliche Buchseite“ – deren Schrumpfen Wolfram Schütte beklagt – noch weitestgehend inexistent. Wer es nicht glaubt, möge einmal mehr nachblättern. Der Digitalisierung und dem Netz sei Dank, ist das heute leichter möglich denn je: Durch die großen Retrodigitalisierungsunternehmungen der europäischen Bibliotheken sind inzwischen nicht nur große Partien der österreichischen Presselandschaft (einschließlich seinerzeit führender Blätter wie der „Neuen Freien Presse“ oder der Wiener „Arbeiterzeitung“) online recherchierbar, sondern auch schon einige wichtige deutsche Tageszeitungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, etwa die „Vossische Zeitung“ oder das „Berliner Tageblatt“.

Das tägliche Rezensionsfeuilleton dieser Blätter bestand noch überwiegend aus Theater- und Musikkritik (über deren gegenwärtigen Zustand sich weidlich eine eigene Debatte führen ließe), nicht aber aus Literatur- im Sinne der Buchkritik. Ein wahllos herausgegriffenes Beispiel, das runde 90 Jahre zurückliegt: In der ersten Dezemberwoche 1925 – also mitten im Weihnachtsgeschäft – enthielt das sechs Tage die Woche jeweils in einer Morgen- und einer Abendausgabe sowie einer zusätzlichen Sonntagsausgabe (also 13 mal in 7 Tagen!) erscheinende „Berliner Tageblatt“ unterm Strich seines Feuilletons lediglich zwei Buchrezensionen „klassischen“ Zuschnitts (darunter eine Sachbuchkritik), während selbstverständlich in jeder Ausgabe ein bis zu vierseitiger Wirtschaftsteil enthalten war. Die Sonntagsausgabe vom 6. Dezember 1925 enthielt zwar eine auf zwei werbungssatte Beiblätter ausgedehnte, saisonale Buchbeilage im Gesamtumfang von fünf Seiten, unterschied sich aber weder in ihrer jahreszeitlichen Anlassgebundenheit noch in den Umfängen der einzelnen Buchbesprechungen vom diesjährigen Sommer-Special der „Zeit“. Der kritische Leser der Gegenwart ist gerne eingeladen, sich die Frage zu stellen, welche der annotierenden Titellisten, Sammelreferate oder Kurzbesprechungen von durchschnittlich 15 bis 20 Zeilen Umfang aus der Weihnachtsbuchbeilage des „BT“ wohl heute in den Fokus des „perlentauchers“ geraten wäre. Die Sammelbesprechung auf Seite 1, die der namentlich zeichnende Wilhelm Bölsche neuen „Naturwissenschaftlichen Büchern“ gewidmet hat, wohl sicherlich nicht … „Heute leider keine Kritiken!“ hätte es vermutlich schon damals oft genug geheißen.

Nun wird man gegen solche Vergleiche so manches einwenden wollen. Etwa, dass es sich um Beispiele aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt, die nun wirklich schon weit zurückliegt und vielleicht einen schlechten Maßstab für die Gegenwart abgibt. Dass es sich damals um eine Krisenzeit des Feuilletons gehandelt habe, lässt sich freilich kaum behaupten – im Gegenteil: es war seine viel beschworene Glanzzeit.

Darüber hinaus wird man mit einiger Berechtigung einwenden können, dass ein wesentlicher Teil der Literaturkritik seinerzeit überhaupt nicht im Feuilleton der Tagespresse, sondern komplementär zu dieser in wichtigen und breit rezipierten Literatur- und Kulturzeitschriften erschienen ist – von den großen Rundschauzeitschriften bis hin zur spezialisierten Blättern wie etwa der „Literarischen Welt“ –, wo mehr Platz für tiefer gehende Analysen sogar in essayistischer Breite zur Verfügung stand. Und man wird hinzufügen müssen, dass auch diese einstmals blühende Zeitschriftenlandschaft heute weitestgehend ausgedörrt und in ihren verbliebenen Resten bestenfalls marginalisiert ist. Indes: Wenn – wie Ekkehard Knörer festhält – das Interesse an Literaturkritik heute längst „eine Sache für recht kleine Kreise“ geworden ist (und das heißt mithin: zu einem Spezialinteresse unter vielen anderen), dann sollten in der aktuellen Debatte auch die nach wie vor existenten special interest-Zeitschriften für Literatur und ihre Kritik nicht gänzlich aus dem Blickfeld geraten – ob sie nun „Volltext“, „Literatur und Kritik“ oder „Literarischer Monat“ heißen. Dass sich insbesondere der durchaus populär gestaltete „Volltext“ bereits in Aufmachung und Druckqualität als „Zeitung für Literatur“ geriert, stellt ihn übrigens nicht nur optisch in die Tradition der alten „Literarischen Welt“ von Willy Haas. Das Blatt findet mit diesem Format ebenso seinen festen Abnehmerkreis, wie Magazine über Kite-Surfen oder Bonsai-Gärtnerei ihre LeserInnen finden. Nur sind es im Falle der Literaturzeitschriften eben Leserinnen und Leser, die auch vor ausführlichen, bisweilen mehrseitigen Rezensionen „klassischen“ Zuschnitts nicht zurückschrecken. Auch im Print gibt es heute also nach wie vor Orte jenseits der Tages- und Wochenpresse, die gerade diese Form der Literaturkritik pflegen. Wer sie lesen will, wird fündig werden.

Und was ist mit dem Internet? In dem sind alle – einschließlich der Literaturkritik – doch längst schon angekommen. Der „perlentaucher“ und die von ihm angestoßene Debatte selbst, die nahezu ausschließlich online geführt wird, beweist das ebenso wie der Ort des vorliegenden Beitrags. Denn das Online-Journal, in dem diese Auslassungen erscheinen, ist – falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten – ein durchaus traditionsreicher Teil jenes breiten Spektrums an Möglichkeiten, das tagtäglich unter Beweis stellt, welcher Raum für Literaturkritik im Netz schon seit langem vorhanden ist.