Gesetz und Fiktion

Interferenzen zwischen Literatur und Recht

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Literarische Rechtskritik und die juristische Bewertung von Literatur

„Wehe dem Gerechten, wenn der Schurke vor Gericht als Sieger davongeht“, heißt es in einem der Begründungstexte der europäischen Literatur, in Hesiods Werken und Tagen. Immer schon hält Dichtung das Ideal unparteilichen Rechts einer durch ihre realen Verhältnisse korrumpierbaren Rechtsprechung entgegen. „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“, sagt zweieinhalb Jahrtausende später Friedrich Schiller in seiner Mannheimer Vorlesung über die Wirkmacht des Theaters: „Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt […], übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.“ Aktuell ist es vor allem die Juristin Juli Zeh, die in Romanen und Essays vor allzu wohlmeinenden Übergriffen von Staat und Recht auf die Bürger und ihr Privatleben warnt. Egal ob es um die konkrete Rechtspraxis, einzelne Gesetze oder Verfassungsprinzipien insgesamt geht: Literatur beansprucht für sich das Recht, zumindest moralisch Recht sprechen zu können über das Rechtssystem.

Sie kann dies, weil sie im Medium des Rechts, der Sprache, über jene Dominanz verfügt, die das Recht über die Gesellschaft beansprucht – und damit wiederum über die Literatur, die ja selbst Bestandteil dieser Gesellschaft ist. Konflikte zwischen Literatur und Recht beruhen so auf gegenseitigem Hoheitsanspruch. In der Moderne verstehen beide sich als autonom und frei von äußeren Einflüssen, sind theoretisch nur noch ihrem Ideal von sich selbst verpflichtet und bleiben doch zutiefst verstrickt in ihre gesellschaftliche Umgebung. Das gilt auch für ihr Verhältnis zueinander: Literatur unterliegt immer auch der Gesetzgebung, während das Rechtsgefüge umgekehrt im Medium der Literatur reflektiert und kritisiert wird.

Eine der Funktionen von Literatur ist es, ohne Rücksicht auf politische oder eben rechtliche Bedenken im Modus des fiktionalen „als ob“ die Entfaltung des gesellschaftlichen Vorstellungsvermögens voranzutreiben. Dazu gehören unter anderem Imaginationen eines besseren Rechts oder Dystopien, die zum Beispiel vor denkbaren juristischen Missständen warnen können, aber auch die Vorstellung von Handlungen, die in der realen Welt verboten sind. Deren reale Umsetzung unterliegt dem Strafrecht, ihre literarische Evokation aber ist keine verfolgbare tatsächliche Tat. Sie muss zudem nicht einmal affirmativ gemeint sein und stellt der Gesellschaft „nur“ Vorstellungsbilder zur freien Verfügung. Die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Kunst eröffnet der Literatur den dafür nötigen Freiraum. Manchen Rezipienten allerdings geht diese Freiheit zu weit. Wann immer diese die Gerichte anrufen gegen Literatur, die Unliebsames ausdrückt oder ausmalt, sind die Richter genötigt zur Rechtsgüterabwägung zwischen der Freiheit der Kunst einerseits und Rechtsgütern wie zum Beispiel Persönlichkeitsrechten Dritter, dem Schutz von Staat oder Religion vor angeblicher oder tatsächlicher Beleidigung oder dem Verbot von Gewalt- oder Kinderpornographie andererseits.

Aus Sicht der Literatur erscheint jede derartige juristische Auseinandersetzung leicht als Kampf gegen Zensur und unbotmäßige Herrschaft. Das Rechtssystem seinerseits steht vor dem Dilemma, alle Äußerungen unparteilich gleich behandeln und dabei doch wiederum die Freiheit der Kunst als privilegierende Ausnahme für solche Texte akzeptieren zu müssen, die im Modus der Fiktion operieren. Doch soll diese Ausnahme auch für Texte gelten, die im Bereich der Imagination Grundwerte einer Gesellschaft in Frage stellen oder etwa den Nationalsozialismus verherrlichen? Das Recht kann jedenfalls auf literarische Äußerungen nur reagieren, wenn diese auch in der außerliterarischen Wirklichkeit meinen, was sie im Möglichkeitsraum der Imagination evozieren. Dort ist freilich alles formulierbar, ohne dass sich immer zweifelsfrei feststellen ließe, inwieweit mit Worten auch ein Wirklichkeitsanspruch verbunden ist.

Das Recht reagiert empfindlich auf literarische Fiktion auch deshalb, weil viele heute selbstverständliche Rechtsregelungen einst gewagte literarische Phantasie waren. Man denke an Schillers „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ im Don Karlos. Literatur kann zu Rechtsänderungen beitragen wie Ibsens Nora zu der des Scheidungsrechts. Letztlich sind alle Gesetze Umsetzungen von etwas zunächst nur Erdachtem. Zensur-Gesetze beispielsweise beruhen auf autoritären Phantasien von einer Gesellschaft, in der nichts mehr die Mächtigen stört. Spiegel-online bezeichnete am 1.7.2015 das neue chinesische Sicherheitsgesetz nicht umsonst als „Autokraten-Poesie aus Peking“. In Literatur wie Recht werden normative Vorstellungen von einem „richtigen“ Leben entwickelt, wobei Literatur spielerischer agieren, bisher Unbekanntes versuchsweise imaginieren, geltende Normen leicht in Frage stellen oder schlicht und einfach missachten kann (bis hin zur Vorstellung völliger Anomie). Das Recht hingegen gestaltet Normen und verteidigt sie – je nach Strenge der Rechtsauffassung auch gegen Phantasien von einer anderen Gesellschaft.

Der Gesetzgeber schreibt keine Romane, sondern Gesetze; diese formen nicht Phantasie, sondern Wirklichkeit – auch diese freilich mit dem Werkzeug der Sprache. Juristische Fiktion („fictio juris“) verbleibt nicht im Modus des Spielerischen und hat unmittelbare Wirkung. Man denke nur an juristische Konstruktionen wie die „juristische Person“, die „Gesamthandgemeinschaft“, die Rolle des fiktiven (als erreichbar unterstellten) Einkommens bei der Festlegung von Unterhaltsansprüchen, an die Leistungspunkte in den Prüfungsordnungen modularisierter Studiengänge oder an den in Prozessen gegen literarische Texte wiederholt bemühten „Durchschnittsleser“, dessen vom Gericht angenommenes Textverständnis dann zur Grundlage der juristischen Bewertung eines Textes wird. Heinrich Böll hatte gegen die Verwendung dieser juristischen Fiktion in einem ihn betreffenden Urteil des Bundesgerichtshofs über eine Äußerung zur Terrorgruppe RAF in einem seiner Texte erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt (Urteil vom 3.6.1980). Freilich ist mit diesem Einzelfallurteil die Verwendung des „Durchschnittslesers“ nicht generell aus der Rechtssprechung verschwunden.

Juristische und literarische Fiktion

Juristische Fiktion will Wirklichkeit formen. Dass literarische Fiktion für sich Freiheit von der Frage nach realer Wirkung des literarisch Geäußerten beansprucht, ist Vertretern des Rechts nicht immer leicht zu vermitteln. Schließlich kann der dadurch der Literatur eingeräumte Freiraum durchaus auch dazu genutzt werden, über die Fiktionalitätsschranke zwischen Kunst und Leben hinaus reale Wirkung anzustreben. Juristische Beurteilung von Literatur muss immer entlang dieser heiklen, nie wirklich eindeutigen Referenzialitätsgrenze operieren. Spätestens seit 404 v. Chr. gibt es immer wieder Versuche, des Problems durch Komplexitätsreduzierung Herr zu werden und Literatur per Gesetz auf ihr unterstellte eindeutige Wirklichkeitsbezüge festzulegen, um auf dieser Basis dann den Bereich dessen einzuschränken, was sie evozieren darf und was nicht. Im Sommer dieses Jahres putschten in Athen die Dreißig Tyrannen (vom Kriegsgegner Sparta unterstütze reiche Oligarchen) gegen die Demokratie und setzten das Verbot durch, reale Personen und Ereignisse zur Grundlage auf der Bühne gezeigter fiktionaler Handlungen zu nehmen. Da Literarisches gerade aufgrund seiner nie eindeutigen und oft fehlenden unmittelbaren Wirklichkeitsbezüge immer als verschlüsselte Anspielung auf etwas zwar nicht Gesagtes, angeblich oder tatsächlich aber Gemeintes (miss)verstanden werden kann, muss unter der Herrschaft solcher Gesetze jeder Autor, der Strafverfolgung vermeiden will, in seinen Darstellungen so detailarm und allgemein wie möglich werden. Er darf im Extremfall keine der Realität entnommenen Stoffe mehr verarbeiten, auch wenn er gar nicht auf diese verweisen, sondern sie nur als von jeder konkreten Wirklichkeit hinweg führende Anregung nutzen will.

Die Demokratie in Athen war bereits im Frühjahr 403 v.Chr. wieder hergestellt, aber dieses Verbot blieb bestehen. Es bedeutete das Ende der Alten Komödie des Aristophanes mit ihren großartigen, detailgesättigten Phantasmen. Ergebnis war die Entstehung flacher Typenkomödien mit schematisierten, einfallslosen Handlungen, die bis heute medial vermittelte Handlungsgefüge zu bloßer Unterhaltungsware ohne Hintersinn und semantischen Schatten banalisieren. Zuvor hatte Aristophanes auch das Rechtssystem als Vorlage dichterischer Inspiration benutzt und dessen Auswüchse unter anderem in den Wespen (422 v. Chr.) persifliert. Das mag zur Härte des Verdikts gegen literarische Phantasie beigetragen haben.

Nicht nur Zensurgesetze schaffen das fiktionale Bild einer Gesellschaft, in der nicht vorkommt, was die Autoren solcher Gesetze stört. Jedes Gesetz entwirft eine Fiktion, einen denkbaren Zustand, der dann außerhalb des Textes erst durchgesetzt werden muss. „Die Rechtsbegriffe und Rechtsvorstellungen haben in der realen Welt kein Gegenstück, lassen sich ohne Sprache zumeist nicht darstellen. Sie existieren durch Sprache und in Sprache.“ (Bernhard Grossfeld) Im Kern unterscheidet literarische und juristische Texte nur der Grad der Verbindlichkeit, den sie außerhalb ihrer selbst beanspruchen – wobei juristische Texte nur solange von Bedeutung sind, wie hinter ihnen eine Macht steht, die ihre Befolgung durchsetzen kann.

Juristische und literaturwissenschaftliche Textinterpretationen

„Gesetz ist, was geschrieben steht“ (Hans Peter Walter), „Recht ist Sprache“ (Hermann Weck) und damit selbst eine Art literarisches Kunstwerk. Juristische Texte lassen sich denn auch mit literaturwissenschaftlichen Mitteln analysieren. Ursprungsmythen wie die von Moses und den zehn Geboten oder eine ausführliche Vorstellung des Gesetzgebers wie zu Beginn des Codex Hammurabi binden Gesetzesmitteilung in einen narrativen Kontext, der bis heute nachlebt in der Konstruktion einer rechtstranszendentalen Rechts-Urquelle, sei es ein Gott, die Natur, die Vernunft, die Fürstin, das Volk oder das Parlament. Jede Verfassung bedarf als Grundtext ihrer Rechtsordnung einer solchen narrativen Basis der Rechtsschöpfung durch den Souverän, man könnte auch „Erzähler“ sagen oder „impliziter Autor“. Aus textanalytischer Sicht besonders ergiebig ist in dieser Hinsicht die älteste schriftliche Verfassung Europas, die polnische Reformverfassung vom 3.5.1791 (vier Monate vor der französischen Revolutionsverfassung vom 3.9.1791), in der mehrere Gesetzgebungsinstanzen miteinander konkurrieren, der König, der sie verkündigt, aber auch die Rechtsquelle „Volk“: „Jede Gewalt in der menschlichen Gesellschaft entspringt aus dem Willen der Nation“, heißt es in Paragraph 5 nach ursprünglich fiktionalen Vorgaben der Aufklärung (und dem Vorbild der Amerikanischen Verfassung von 1787).

Die Umsetzung des Rechts bedarf nicht nur realer Macht, sondern auch klärender Interpretation der Bedeutung einzelner Gesetze. Interpretationsarbeit kann zum gesellschaftlichen Problem werden, Deutungskämpfe können im Extremfall Bürgerkriege auslösen. Mit den Verfassungsgerichten sind in die Rechts-Welt Institutionen eingebaut, die darauf achten, dass die Interpretation in sich schlüssig und einheitlich bleibt und kein neu hinzukommender Satz die Logik der bereits bestehenden Textur verletzt – kein leichtes Unterfangen, da nicht nur innerhalb einzelner Gesetzestexte, sondern auch zwischen ihnen Übereinstimmung herrschen muss (man stelle sich vor, ein Literaturwissenschaftler müsste eine ganze Nationalliteratur als in sich einheitliche Größe darstellen). Der Arbeitsumfang lässt sich erahnen aus einer 2005 von Ulrich Karpen in der Welt vorgenommenen Aufstellung: „Im Augenblick gelten für Sie und mich 2.197 Bundesgesetze mit 46.777 Einzelvorschriften und 3.131 Verordnungen mit 39.197 Einzelvorschriften. Hinzu kommen Landesgesetze und Regelungen der Europäischen Union. Insgesamt schätze ich die Zahl aller Einzelvorschriften, die einen Deutschen derzeit binden, auf rund 150.000.“ Die Zahlen sind seither gewiss nicht kleiner geworden.

Gesetzestexte bedürfen eines philologisch geschulten Lesers in ähnlicher Weise wie der Variantenapparat Historisch-kritischer Werkausgaben. So liest sich beispielsweise im Bundesgesetzblatt vom 31.10.2007 das Zweite Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft – wie alle anderen neu gefassten Gesetze auch – als bloße Annotation zu als bekannt vorausgesetzten früheren Fassungen dieses Gesetzes. Hier nur ein kurzer Ausschnitt als Beispiel: „In § 20b Abs. 2 Satz 4 werden nach dem Wort ‚Tarifverträgen‘ das Wort ‚und‘ durch ein Komma ersetzt und nach dem Wort ‚Betriebsvereinbarungen‘ die Wörter ‚und gemeinsamen Vergütungsregeln‘ eingefügt“. Dass es eigens Schriftkundiger bedarf, die zwischen der Welt der Schrift und dem Rest der Gesellschaft vermitteln, liegt auch an der Art, in der die jeweiligen Texte verfasst sind. Das wahrt ihre Unzugänglichkeit, ihre Aura.

Eine nicht überschaubare Zahl von Sekundärtexten, Kommentaren, Kritiken usw. begleiten literarische wie juristische Texte, erklären sie und versuchen, sie in Bezug zu den Regeln der gerade vorherrschenden Poetik oder Rechtsvorstellung zu setzen. Juristische und literarisch-philologische Tätigkeit haben in der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts denn auch gemeinsame Wurzeln und befruchten sich immer wieder gegenseitig. So zählt die Erforschung der deutschen Rechtsaltertümer, wie sie Jakob Grimm betrieb, zu den Anfängen auch der Germanistik. Die Frage nach dem ursprünglich gemeinten Wortsinn ist für den Philologen ebenso zentral wie für den Juristen. „Literaturwissenschaftler und Juristen tun, wenn sie ‚ihre‛ Texte auslegen, grundsätzlich das Gleiche. D.h.: Die wesentlichen Verfahren der literarischen und juristischen Hermeneutik sind gleich.“ (Susanne Bleich)

Die praktische Interpretation des Rechts, seine Anwendung auf konkrete Fälle vor Gericht gleicht dann der Interpretation bzw. Aufführung dramatischer Texte auf der Bühne. Literarische Institutionen des Urteilens wie Literaturkritik oder das Theater werden ja ohnehin gerne mit Gerichten verglichen – und umgekehrt juristische Verfahren des Urteilens gerne mit dem Theater. Der Erhöhung der Schaubühne zur moralischen Anstalt durch Schiller entspricht seit (Wieder-)Einführung des mündlichen Verfahrens im 18. Jahrhundert die In-Szene-Setzung der Rechtsfindung vor Gericht. An der Schnittstelle zwischen Text und Anwendung, Gesetz und Wirklichkeit agieren Agenten des Rechts (Richter und Staatsanwälte) und der Bevölkerung (Verteidiger) und kämpfen um die juristische Deutung des in „Fälle“ zersplitterten Alltags. Die Gefahr der Willkür, die daraus resultiert, dass das Recht bzw. seine Vertreter über Menschen urteilen, wird aufgefangen durch die Öffentlichkeit des Verfahrens. Schon der Vorgang als solcher ist spannend (und inspiriert nicht umsonst Literatur, ihn aufzugreifen), manchmal sogar spektakulär und zieht Schaulustige an, von denen einige eher an der Dramatik der Ereignisse als an den trockenen juristischen Fragen interessiert sind. In Victor Ehrenburgs Klassiker Aristophanes und das Volk von Athen heißt es bereits über die attischen Gerichte: „Die Gerichtshöfe waren wie eine Vorstellung im Theater, bei der sich die Leute um die besten Plätze balgten.“ Die Ähnlichkeiten zwischen Gerichtssaal und Bühne sind unübersehbar: „Der Gerichtssaal ist angefüllt mit Theaterrequisiten: Roben, Platzordnung. Wiederkehrende Rituale erinnern an Aufführungen: Eintritt des Gerichts, Erheben beim Erscheinen des Gerichts, Eidesformalien, Verkündung des Urteils etc.“ (Louis Maxim Wambach)

Theatralität, Poesie und Rhetorik des Rechts

Die Kunst der Inszenierung ist ebenso Bestandteil der Rechtsdurchsetzung wie die Kunst der Formulierung Bestandteil der Rechtssetzung ist. Gerichtsverhandlungen sind immer auch symbolisch-ästhetische Veranstaltungen, Gerichtsreden seit jeher eine literarische Gattung und ihr Vortrag vor Gericht wird ganz selbstverständlich wie eine Theateraufführung rezipiert. Oscar Blumenthal, einer der erfolgreichsten Unterhaltungsdramatiker der deutschen Bühnengeschichte, schrieb 1901:

Durch die Oeffentlichkeit der Verhandlungen ist der Schwurgerichtssaal in der That allmälig zu einer Schaubühne geworden. Ein komödiantischer Zug ist in die Stätten der Verteidigung eingedrungen. Der Staatsanwalt plädirt zum Fenster hinaus und empfiehlt sich nach oben durch seine schneidige Rhetorik. Der Anwalt fühlt sich im Besitz einer dankbaren Rolle und vertheidigt auf Applaus. Beide sprechen wie mittelmäßige oder gefallsüchtige Schauspieler in das Publikum hinein. […] Und es ist wirklich den Zuhörern, für die ja eigentlich die ganze Verhandlung stattfindet […], nicht zu verargen, wenn sie am Schluß sich vollständig in das Theater versetzt fühlen und dem Präsidenten, der den Freispruch verkündet, die Ehre eines dreimaligen Hervorrufes nicht versagen wollen…

Einer der großen deutschen Justizpaläste „athmet die fröhlichste, südliche Karnevalsstimmung, und wenn man einen Anwalt in seiner Robe die Treppen hinaufschreiten sieht, so möchte man beinahe glauben, daß er sich nur für eine Redoute kostümirt hat. Das ist kein Amtsgericht – das ist ein Schau-Gericht“ (noch einmal Blumenthal). Die europaweit Erregung auslösenden Zeitungsberichte über den Pariser Mordfall Gouffée, einem der sensationellsten Prozesse des 19. Jahrhunderts, handelten nicht nur von Indizien und Aussagen, sondern auch von der Toilette des Publikums und der theatralischen Qualität der Auftritte von Angeklagten, Zeugen und Anwälten, von Schau-Effekten und nicht zuletzt der emotionalen Reaktion der Zuschauer auf die zahlreichen Überraschungen und Enthüllungen, die der Fall bot. Prozessbericht und an Theaterkritik erinnernde wirkungsästhetische Gerichtsrezension gingen fließend ineinander über. Dies gilt auch noch für große Teile aktueller Gerichtsberichterstattung etwa zum umstrittenen Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann (2010/11) oder zum Prozess gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe. Auch Gerichtsfilme und Fernsehgerichte dienen der Auslösung von „Rührung und Schreck“, wie Aristoteles die Wirkung dramatischer Aufführungen auf die Zuschauer beschrieb. Ob damit immer „Katharsis“, „Reinigung“ bzw. Läuterung des Publikums, einhergeht, sei dahingestellt.

In frühen Kulturzuständen sind die Grenzen zwischen Literatur und Recht oft fließend. „Dasz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren, hält nicht schwer zu glauben. in ihnen beiden […] stöszt man auf etwas […] auszergeschichtliches“, stellt Jakob Grimm 1816 in Von der Poesie des Rechts fest. Beide entwerfen Vorstellungen, die nicht ganz von dieser Welt sind. Aus Sicht der Literatur kann dies dazu verlocken, die Rechtsgeschichte als imaginativ etwas beschränkte Seitenlinie der Literatur zu betrachten. Doch ließe sich von einem gemeinsamen Ursprung aus auch die Poesie als Abkömmling der Rechtstextur betrachten: Die ältesten identifizierbaren Texte sind Listen von Waren, die Sinn nur machen als eine Form der Eigentumsfeststellung oder als Teil vertragsförmig abgesicherter ökonomischer Praktiken; in ihrer Vielfalt heute verwirrende Göttertafeln und genealogische Abstammungslinien ordneten die Welt in hierarchischer und damit rechtlicher Hinsicht. Der einzige vollständig erhaltene antike Dramenzyklus, die Orestie des Aischylos, mündet in einen Prozess, dessen Form, Rede und Gegenrede, er zugleich für das Theater fruchtbar macht. Inhaltlich geschieht nicht mehr und nicht weniger als die Einsetzung menschlichen Rechts: Athene überträgt den tragischen Fall des Orest den Bürgern von Athen. Die Menschen sollen in einem Prozess selbst abwägen und ein Urteil fällen, das blinde Rache-Gebot der Tradition wird durch menschliches Recht, durch Nachdenken und Vernunft ersetzt.

In anderen antiken Dramen wie dem König Ödipus von Sophokles geht es um die Ermittlung verschütteter Wahrheit, die dafür verwendete analytische Handlung folgt dem Muster der Tatbestandsermittlung vor Gericht und bildet die Grundlage jener Handlungsgefüge, die bis heute den Kriminalroman beherrschen: Ein bereits geschehenes Verbrechen wird nachträglich aufgeklärt. Die Pointe des Sophokles, dass Ödipus, der als Richter, Detektiv und Ankläger in einer Person fungiert, schließlich sich selbst als den ahnungslos Schuldigen entlarven muss, verleiht diesem Schema von Anfang an beträchtliche Komplexität. Sie wird unter anderem in Kleists Zerbrochenem Krug, aber in auch in anspruchsvolleren Kriminalhandlungen immer wieder aufgegriffen: Der Wahrheitsanspruch des Rechts muss auch gegen es selbst gewendet werden können.

Doch die „Infektion“ der Literatur durch das Recht reicht viel weiter: Die eng mit der Poetik verwandte Rhetorik entstand als eine Art Poetik für Juristen, Klassiker der Rede und Lehrer der Rhetorik haben als Vorbilder, Anreger und sogar „Gesetzgeber“ die Literaturen Europas mitgeformt, Poetik war an den Lehren der Rhetorik ausgerichtet, bis die auf Zweckfreiheit angelegte „Autonomieästhetik“ einen Abschied von alten Regeln ausgerechnet um jener Wirkung willen versprach, die seit jeher im Mittelpunkt der Rhetorik stand (diese wurde dann denn auch unter dem Vorwand angeblich ungekünstelter Anti-Rhetorik wirkungsvoll fortgesetzt). Textanalyse kann bis heute nicht auf Begrifflichkeit und Wissen der Rhetorik verzichten. Und diese formte nicht nur die Sprache der Literatur mit: Zu den im Rahmen des Schulunterrichts verfassten frühesten Texten vieler heute klassischer Schriftsteller gehören Reden vor einer fiktiven Volks- oder Gerichtsversammlung. Rhetorische Übungen evozierten Vorstellungen eines auf öffentlicher Rede beruhenden demokratischen Gemein- und Rechtswesens, die in den politischen Vorstellungen des Bürgertums seit der Aufklärung staats- und justizverändernd geworden sind – vermittelt durch das Medium der Literatur.

Textformen und -praktiken des Rechtsbereichs durchwirken die Literatur. Die in Juristenausbildung und Gesetzesreflexion übliche Verwendung möglichst kniffelig konstruierter Fälle, die die Frage aufwerfen, welche Gesetze wie überhaupt auf sie anzuwenden sind, inspiriert analoge Konstruktionen rechtlich möglichst unauflösbarer literarischer Handlungen. Bereits Kleist hatte in einer Mischung aus philosophischer Rechtsreflexion und intensiver Rezeption zeitgenössischer wie historischer Rechtsfälle versucht, rechtliche Fragestellungen an die Grenzen ihrer Beantwortbarkeit zu treiben. 150 Jahre später schuf Joachim Maass mit seiner großenteils im amerikanischen Exil entstandenen literarischen Verarbeitung des Falls Gouffée einen der komplexesten deutschen Kriminalromane, in dem juristische Vorgehensweisen systematisch vorgeführt werden, um sie einem Fall gegenüber zum Scheitern zu bringen, den sie nicht zu erfassen vermögen. International berühmt wurde die Konstruktion in Bernhard Schlinks Vorleser, wo der Fall eines NS-Verbrechens wie im juristischen Anfängerunterricht mit so viel strafmildernden Umständen ausgestattet wird, dass sogar die Verurteilung einer KZ-Wärterin im Rechtsgefühl des Lesers Empörung auslöst. Konstruktionsweise und Absicht sind leicht durchschaubar und führen nicht wirklich zu einer Aporie wie in Juli Zehs Spieltrieb, wo ein intelligenter Schüler gegen das bestehende Rechts- und Moralverständnis zu „spielen“ beschließt und genug Verwirrung stiftet, um am Ende Zustände zurückzulassen, die juristisch nicht mehr zweifelsfrei geregelt werden können. In Ferdinand von Schirachs Roman Tabu schließlich lockt ein Künstler das Rechtssystem in die Falle seiner eigenen Verfahren, indem er es mit Informationen füttert, die dazu führen, dass er eines nie begangenen Verbrechens und des Mordes an einer – zu diesem Zweck geschaffenen Kunstfigur – angeklagt wird. Die Widerlegung der Anklage erweist sich als Höhepunkt einer vielschichtig geplanten künstlerischen Performance.

Solche literarisch evozierten Fälle verweisen kritisch auf die fiktionale Dimension des Rechts, dessen Begriffe, Methoden und Praktiken nicht immer angemessen sind, eine komplexere Wirklichkeit zu erfassen. Literatur reagiert damit auch auf die umfassende Verrechtlichung einer postmodernen, womöglich bereits postdemokratischen Gesellschaft, in der der Staat immer seltener rechtlich garantierte Freiheitsräume auch vor seinem eigenen Zugriff zu schützen als seine Aufgabe ansieht und stattdessen das Leben der Bürger wohlmeinend zu beobachten, zu ordnen und abzusichern versucht. Die Rechtstextur droht so zu einer umfassenden Programmierung von Gesellschaft und Kultur zu werden und wirkt „auf die alltagsweltliche Lebenswirklichkeit eigentlich wie eine institutionelle Konstruktion von Wirklichkeit“ (Dietrich Busse). Literatur weiß um die Mechanismen solcher Konstruktion. Sie vermehrt die Wucherung von Vorschriften und Gesetzen deshalb zur Zeit nicht mehr um weitere utopische Rechts-Imaginationen, sondern führt grundsätzlicher die Konstruktionsweise des Rechts selbst vor. Sie macht es durchschaubar.