Hölle Familie

Friedrich Ani sucht in seinem Roman „Der namenlose Tag“ nach Gründen und findet Opfer: der Verhältnisse, ihrer selbst oder von Unfällen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alte Fälle zu lösen, gehört zu den moralisch vielseitigsten Themen in Krimi: Das Versagen der Kollegen, die den Fall zu früh aufgegeben haben, die Hartnäckigkeit des neuen Ermittlers, der sich gegen jede Wahrscheinlichkeit auf die Suche macht, und das Moment, dass der oder die Täterin ja immer noch unbehelligt geblieben ist und gegenwärtig noch ungestraft am sozialen Leben teilnehmen kann, sind dabei nur die drei wichtigsten Aspekte, die mit diesem Thema einhergehen.

Friedrich Ani, der sich bereits in der Tabor Süden-Reihe intensiv mit langfristigen Suchbewegungen beschäftigt hat und sich auch dabei bereits eines empathischen Ermittlers bedient, nimmt dieses Moment auch in seiner neuen Reihe mit Jakob Franck auf. Anis’ besonderes Pfund ist die Tonlage, in denen seine Krimis erzählt werden. Er nimmt sich jede Zeit, die es braucht, und jedes Verweilen, das notwendig ist, um eine langsam sich in der Zeit ausbreitende Erzählung zu entwickeln. Ani hat eine sehr eigene erzählerische Ökonomie, die bis tief in die erzählte Geschichte hinein wirkt, um nicht zu sagen, dass seine Romane das Gegenteil von hardboiled und action sind. Sie sind eben Ani.

In „Der namenlose Tag“ zeigt sich dieses eigentümliche verharrende Verfahren erneut. Naheliegend ist ein pensionierter Polizist sowieso der Garant dafür, dass es eher gemächlich zugeht. Dafür braucht es die beschädigten Figuren, diejenigen, die nicht mehr so können oder wollen, wie es eine dynamische Welt um sie herum will und soll. Dies umso mehr, als dieser Jakob Franck ein einfühlsames Verfahren entwickelt hat, mit dem es ihm gelingt, einen neuen Blick auf Fälle zu werfen, so dass sich das Muster, das sie zeigen, ändert. Das wiederum ermöglicht es ihm, andere Fragen zu stellen – an wen auch immer –, um schließlich den fraglichen Hergang zu klären.

Dies ist bei alten Fällen umso bedeutsamer, freilich auch selbstverständlicher, weil der nunmehrige Ermittler ja nur mit neuen Erkenntnissen Erfolg haben kann. Dass sein Blick anders ist, hängt freilich auch damit zusammen, dass er das Material nach langer Zeit wieder hervorholt und sichtet. In diesem Prozess fehlt ihm alles, was den ursprünglichen Teilnehmern noch selbstverständlich war. Tonfälle und Blicke von Verdächtigen, der persönliche Umgang mit allen Beteiligten, der Anblick der Opfer oder möglichen Tätern und damit die direkte Einsicht in die Tatszenerie.

Dies alles ist in der Wiederaufnahme zu Papier, zum Dokument oder zur Erinnerung geronnen. Der Blick fokussiert sich auf die Aufzeichnungen, die seinerzeit gefertigt wurden, auf Beweismaterial, das gesammelt wurde, oder auf das, was die jeweiligen Gedächtnisapparate rekonstruieren wollen.

Ani zielt insbesondere auf den Umstand ab, dass hinter der seinerzeit konstituierten Erkenntnis, Wahrheit oder Falllösung eine weitere Ebene existiert, die eben erst jetzt, nach vielen Jahren und mit dem neuen Blick auf’s Ganze erkannt werden kann. Alle haben Geheimnisse und es ist den damaligen Ermittlern nicht gelungen, diese Geheimnisse zu entdecken und damit den Tathergang wirklich zu verstehen. Das nun ist die eigentliche Geschichte, die Ani erzählt: die der Geheimnisse. Es sind Geheimnisse insbesondere der Familie und des Einzelnen, der in ihr leben muss und will.

Ein junges, siebzehnjähriges Mädchen hat sich seinerzeit erhängt, der Vater bittet Jakob Franck, nun endlich, nach 20 Jahren, nachzuweisen, dass es sich bei dem Tod nicht um Selbstmord, wie damals angenommen, sondern um einen Mord handelte. Der Tod des Mädchens hat das Leben seiner Eltern zerstört. Ein Jahr später bringt sich auch die Mutter um, der Jakob Franck seinerzeit, wie es der Zufall will, die Nachricht vom Tod überbracht hat. Der Vater wird zum Trinker und endet schließlich als Hilfsarbeiter in einer unaufgeräumten Einzimmerwohnung.

Allerdings hat auch er einen Verdacht – einer der Nachbarn soll Verhältnisse mit Minderjährigen gehabt haben, auch mit der Tochter. Um das zu vertuschen, soll er sie ermordet haben.

Das ist immerhin ein Ansatz, der zudem in jene Richtung weist, die Ani im Allgemeinen hier anvisiert: Er will Geheimnisse aufdecken, die Wahrheit oder wenigstens die Hintergründe – und dafür geht er weite Wege. Die Neusichtung des Materials ist einer davon, das Gespräch mit dem Umfeld ein anderer.

Und in der Tat findet Franck auch, was Ani zeigen will: Alle haben ihre Geheimnisse, die sie tunlichst verborgen halten, weil sie missverständlich sind und die Betroffenen verdächtig machen. Angesichts des Tods der jungen Frau ist das aber gefährlich und unangebracht. Die Kollateralschäden der Wahrheit werden höher eingestuft als die Wahrheit selbst. Und wer würde das nicht wissen?

Titelbild

Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
301 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424872

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