Ein transindischer Reimport

Gustave Oelsner-Monmerqués Roman „Schwarze und Weiße“ liegt jetzt in einer kritischen Neuedition vor

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts daran ging, die Lebensbeschreibungen aller „größten Männer unserer Nation“ bearbeiten zu lassen, hob „eine große Sichtung der Böcke von den Schafen“ an, wie der Buchwissenschaftler Horst Kunze es einmal griffig formulierte. Was den Begriff des „Deutschen“ in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Leipzig 1875–1912) betrifft, so wurde beschlossen, „hierbei weder ausschließlich die politischen Grenzen Deutschlands zu irgendeiner Zeit, noch auch die nationale Bedeutung des Deutschen allein ins Auge zu fassen“, denn die Herausgeber wollten „auch die außerhalb der politischen Grenzen Deutschlands liegenden Lande von ursprünglich oder theilweise deutscher Nationalität berücksichtigen, aber doch nur, soweit sie mit dem Gesamtleben Deutschlands in einem engeren geistigen Zusammenhang geblieben sind.“

Auf die Fülle der Sonderkriterien, wonach das Elsass, die russischen Ostprovinzen oder die „nicht deutschen Landen des österreichischen Kaiserstaates“ nur eingeschränkt zu berücksichtigen seien, gingen die Herausgeber nicht näher ein. An einer späteren Stelle wird dennoch festgehalten: „Deutsche, welche in die Fremde ausgewandert, dieser den wesentlichen Theil ihrer Lebensthätigkeit widmeten, schließen wir im Allgemeinen aus. Fremden dagegen, welche umgekehrt den Haupttheil ihres Lebens und Schaffens deutschen Staaten, Schulen, Kunstinstitutionen u. s. w. opferten, nehmen wir auf.“ Vor dem Hintergrund dieser Inklusions- und Exklusionsverfahren gibt die Allgemeine Deutsche Biographie, eine mit ihren 56 Bänden unumstritten gewaltige wissenschaftliche Leistung, nicht zuletzt ein klares Beispiel dafür ab, wie zeitbedingt im Grunde alle Urteile sind.

Es kommt recht selten vor, dass dieses seit Jahrzehnten maßgebliche biographische Nachschlagewerk sowie die daran anknüpfende „Neue Deutsche Biographie“, seit 1953 herausgegeben und seit 2007 online im Volltext erschlossen, mit ihren zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Forschungen den Suchenden im Stich lässt. Dies scheint aber der Fall zu sein, sobald sich der Nachschlagende auf der Suche nach Auskunft über Gustave Oelsner-Monmerqué macht.

Immerhin geht man nicht ganz leer aus, denn der Name taucht 1887 doch auf, und zwar am Ende des Konrad Engelbert Oelsner gewidmeten Eintrags. Der Leser erhält dort den Hinweis, der „Sohn Dr. Oe.-Monmerqué“ habe 1848 dessen nachgelassene politische Aufsätze in Bremen herausgegeben. Über das in den beiden Lexika Festgehaltene hinaus blieb der Sohn des „wichtigsten deutschen Augenzeugen der Französischen Revolution“ trotzdem weitestgehend unbekannt.

Dass Oelsner-Monmerqués Leben und Werk nun Beachtung finden, ist den Herausgeberinnen Gabriele Fois-Kaschel und Marlene Tolède zu verdanken, die im Rahmen ihrer germanistischen Forschungstätigkeit an der Universität La Réunion die kritische und kommentierte Neuedition des Romans Schwarze und Weiße. Skizzen aus Bourbon besorgten. Damit ist ein für den deutschen literarisch Gebildeten hochinteressanter transindischer Reimport anzuzeigen.

Ergänzend sei angemerkt, dass das Projekt ursprünglich durch die Idee angeregt wurde, die „germanophonen Spuren“ in der früheren französischen Kolonie Île Bourbon, heute La Réunion, zu erforschen. Die Spurensuche führte naturgemäß in die Archive und es ist tatsächlich ein archivalischer Befund in der Bibliothèque National de France gewesen, der den Impuls zur weiteren Forschung gab: Die deutschen Afrikareisenden Carl Claus von der Decken und Otto Kersten, die von 1859 bis 1865 Reisen in Ostafrika unternahmen und sich 1863 zwei Monate auf der Insel Bourbon aufhielten, weisen in ihrer recht ausführlichen Afrika-Bibliographie auf zwei Titel hin, die sich auf die Insel beziehen: einen Roman und einen Vortrag eines gewissen Gustave Oelsner-Monmerqué.

Die Erschließung und Auswertung von Archivalien in La Réunion, Frankreich, Deutschland, Polen, Österreich und Brasilien haben eine beträchtliche Menge an „Puzzleteilen“ zutage gefördert, die Marlene Tolède2008 in ihrer bahnbrechenden Dissertation Gustave Oelsner-Monmerqué: Expérience bourbonnaise der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit präsentierte.

Gustave Oelsner Monmerqué, geboren am 30. Juni 1814 in Paris als Sohn der Französin Sophie de Monmerqué (aus einer Elsässer Adelsfamilie) und des Deutschen Konrad Engelbert Oelsner (Publizist, Politiker und Diplomat), lebt nach dem Tod der Mutter und seiner jüngeren Schwester im Jahr 1821 zunächst beim Vater in Paris. Hier wächst er in einem deutlich kosmopolitischen Umfeld auf: Zu dem Freunden- und Bekanntenkreis des Vaters gehören politische Männer und Diplomaten, Gelehrte und Reisende, Journalisten und Literaten nicht nur aus Deutschland und Frankreich, sondern auch aus der Schweiz, England, Russland und Nordamerika. Nach dem Tod des Vaters wird der vierzehnjährige Gustave von seinem Onkel und Vormund Johann Wilhelm Oelsner in Breslau aufgenommen. Es folgt das Jura-Studium an der Universität Jena, wo der zweisprachige Gustave 1837 zum Doktor der Philosophie ernannt wird. Von diesem Jahr an verbringt er sein Leben – bis auf zwei Aufenthalte in Übersee (Insel Bourbon und Brasilien) – zwischen seinen zwei Heimatländern Frankreich und Deutschland.

Oelsner-Monmerqués Schriften und Unternehmungen sind eine beeindruckende transkulturelle Initiative zur Vermittlung humanistischer Ideen, was insbesondere an seinem beharrlichen Bemühen sichtbar wird, Brücken zu schlagen zwischen Sprachen, Kulturen und wissenschaftlichen Disziplinen: als Auslandskorrespondent und diplomatischer Gesandter, als Journalist und Redakteur, als Lehrer für Kolonialgeschichte, als Vortragender in der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und nicht zuletzt: als Schriftsteller. 

Als der Roman Schwarze und Weiße. Skizzen aus Bourbon 1848 im Bremer Verlag Schlodtmann erschien – übrigens im selben Jahr wie die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien –, existierten kaum deutschsprachige literarische Darstellungen zum Thema Kolonialgesellschaft und Sklaverei. Insbesondere Heinrich von Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo (1811) ist hier zu nennen, die inmitten des großen Sklavenaufstandes in der früheren französischen Kolonie (heute Haiti) spielt. Anders als bei Kleist und vielen seiner literarischen Zeitgenossen in Frankreich, beruht Oelsner-Monmerqués Roman, der die Missstände der kolonialen Herrschaft und der Sklaverei auf der Insel Bourbon im Indischen Ozean anprangert, auf eigenen konkreten Erfahrungen und Beobachtungen: Oelsner-Monmerqué verbrachte immerhin zweieinhalb Jahre (1842–1845) auf der Insel.

Man darf sich fragen, was genau Oelsner-Monmerqué dazu motiviert hat, seinen Roman zur Sklaverei-Problematik ausgerechnet der deutschen Leserschaft zu präsentieren – zumal Deutschland zu der Zeit noch nicht Teil der Kolonialgeschichte war und die Bremer oder die Hamburger „Verwicklungen“ in der internationalen Sklavenökonomie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ganz isolierte Ausnahmefälle zu betrachten sind.[1] Die Antwort liefert Oelsner-Monmerqué selbst, indem er seine schreibstilistische Entscheidung – literarische Bearbeitung mit hohem Faktizitätsanteil statt gelehrtem Reisebericht nach den zeitgenössischen erdkundlichen Usancen – durch seine aufklärenden und abolitionistischen Zielsetzungen begründet:

Vielleicht würde es dem Verfasser möglich gewesen sein, dem Buche eine gelehrtere Form als die gewählte zu geben. Er mußte jedoch befürchten, dadurch den Zweck zu verfehlen, nach welchem er hauptsächlich trachtete. […] Zur schleunigeren, vollständigen Beseitigung eines die Menschheit entehrenden Gebrauchs, dürfte die öffentliche Meinung gerade derjenigen Länder, die keine Sclaven haben, von großem Gewichte sein. Nur die Verbreitung vollständiger Kenntnisse in allen Klassen der Gesellschaft daselbst, – über die Verhältnisse der Schwarzen als Sclaven zu den Weißen als ihren Besitzern, – vermag endlich einmal einen allgemeinen Ausbruch des Fluches auf diese Unsitte zu ziehen und deren Verfechter mit unauslöschlicher Schande zu brandmarken! 

Auch das Motto des Buches, „Per me si va tra la perduta gente“ (deutsch: „Durch mich geht’s ein zum Volke der Verlornen“), ein Vers aus der Inschrift des Höllentors in Dante Alighieris Inferno – im Nachdruck der Herausgeberinnen (versehentlich?) weggelassen –, weist auf die intendierte Rolle eines aufklärenden Vermittlers hin und kündet zugleich von der Schrecklichkeit mancher vor den Augen des Lesers entworfenen Szenen.

Ohne sich an die strenge Form des Romans zu binden, vermischt der Autor literarische Erzählung mit ethnologischen Anmerkungen und politischen Reflexionen. Sein Buch gliedert er in zwei Abschnitte mit jeweils zwölf Kapiteln. Der erste Teil mit dem Titel „Sclavenhandel“ versetzt den Leser mitten auf das Sklavenschiff Satan, das, den britischen und französischen Kreuzern entgangen, das Ufer ansteuert zwecks neuer Ladung. Mit dem Scharfsinn psychologischer Analysen porträtiert Oelsner-Monmerqué die Bemannung des „Negerschiffes“. Am sichtbarsten treten die zu Menschenschmugglern umprofilierten Korsaren und Piraten, ein geheimnisvoller Kapitän und ein skrupelloser Superkargo hervor. Das Bindeglied zum zweiten Teil mit dem Titel „Colonialleben“ bildet das junge Sklavenpaar mit den sprechenden Namen Venus und Jupiter – eine aus dem postkolonialen Standpunkt betrachtet höchst widersprüchliche Namensgebung. Um das tragische Schicksal der beiden Figuren baut sich ein rassistisches Beziehungsgeflecht auf, das den Leser die Sklavenhaltergesellschaft Bourbons in ihren kräftigsten Zügen kennenlernen lässt.

Der Neuauflage folgt – bis auf das Motto – der vorgehenden editio princeps aus dem Jahr 1848, die „nur noch in wenigen deutschen Bibliotheken zu finden“ sei. Man muss jedoch betonen: In Papierform ist das Buch nur noch in wenigen Bibliotheken zu finden, denn ein digitales Exemplar der ersten Ausgabe dieses inzwischen urheberrechtsfreien Buches aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München steht kostenlos online zur Verfügung, und zwar hier in der Google Digital Library.

Doch im Gegensatz zu der ersten Ausgabe – gleich ob in gedruckter Form oder digitalisiert – wird uns hier eine um einen kritischen Apparat erweiterte Auflage angeboten. Dem edierten Text voran steht das anregende Vorwort des Vormärz-Forschers Florian Vaßen, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Leibniz-Universität Hannover. Lesenswert ist Vaßens Paratext nicht nur wegen seiner knappen aber richtungsgebenden historischen Kontextualisierung, sondern auch aufgrund des überzeugenden Hinweises auf Oelsner-Monmerqués ambivalente Haltung: An seinem Sprachmaterial ließe sich deutlich erkennen, dass er keineswegs frei vom zeitgenössischen Kolonialdiskurs sei, und dass die zuweilen von ihm reproduzierten Stereotype und Klischees einen gewissen – ich greife hier Vaßens treffliches Oxymoron auf – „Rassismus des Philanthropen“ verraten. Auf der anderen Seite wird der Roman vom kenntnisreichen Nachwort der Herausgeberinnen flankiert, die sich mit dem Text aus postkolonialer Sicht auseinandersetzen. Zeitgenössische Rezensionen und ein biobibliographischer Anhang runden das Beiwerk des Buches ab.

Mit der Neuauflage des Romans Schwarze und Weiße wird ein literarisches Zeugnis von sozial- und kulturwissenschaftlichem Wert nach knapp 200 Jahren wieder zugänglich für das deutsche Publikum gemacht. Vor allem Studierende und Forschende, die in ihren Arbeiten Aspekte wie Biokapitalismus und Sklaverei, Kannibalismus, Folter im kolonialen Kontext oder aber auch biopolitische Aspekte wie Hybridisierung, Kreolisierung und ‚interrassische‘ Sexualität aufgreifen, kommen an diesem Fundstück aus dem Vormärz nicht mehr ohne Weiteres vorbei.

[1] Dank an Prof. Dr. Sabine Broeck für die wertvollen Hinweise.

Titelbild

Gustave Oelsner-Monmerqué: Schwarze und Weiße.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Fois-Kaschel und Marlene Toléde.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
191 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289149

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