Schöne Ehre, weites Feld

Verlockende Bedingungen für Gedichte im 30. „Jahrbuch für Lyrik“

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrik nervt. Das meinte Hans Magnus Enzensberger einmal, auf seine Weise natürlich ironisch. Denn immer noch ist die Lyrik die beständigste unter den literarischen Gattungen. Wer eine Anthologie herausgibt, kann sich darauf verlassen, dass die Zahl der Produzenten die der potenziellen Leser übertrifft. 7.000 Eingänge verbuchten die Herausgeber des dreißigsten Jahrbuchs der Lyrik, Christoph Buchwald und Nora Gomringer, für das Erscheinungsjahr 2015. Weit über 150 Gedichte wurden für aufnahmewürdig in diese Anthologie befunden, die, unter den Dauerfittichen von Christoph Buchwald, so etwas wie ein Kompass der deutschen Gegenwartslyrik ist.

Die Auswahl ist repräsentativ, die Gliederung in sieben lockere Themenabteilungen anregend. Damit haben die Herausgeber die feierliche Last des Jubiläums spielerisch abgeschüttelt. Der Klassiker (Durs Grünbein) steht neben Arrivierten (Kerstin Hensel etwa mit einem wundervollen Nachrufgedicht auf Rolf Haufs) und Newcomern (Max Czollek), Herta Müller ist vertreten (obwohl das visuelle Moment ihrer Gedichtmontagen fehlt), Norbert Hummelt, Michael Lentz, Lutz Seiler, Jan Wagner und viele mehr. Einige Dichter sind mit mehreren Gedichten dabei, andere nur mit einem Text vertreten. Kurzpoesie und Blocksatzlyrik, Aphoristisches und Reflexives, Natur und Politik – formal und inhaltlich ein breites Spektrum. Von den Rändern dieses Spektrums aus kann man vielleicht ermessen, was die deutsche Lyrik im Jahr 2014/15 ausmacht. Erwähnt seien nur zwei Dinge.

Die Wiederkehr der Tiere fällt auf, als exotische Bildspender und Wahrzeichen aus dem Motivvorrat der Poesie. So sind die Bienen, die in der emblematischen Tradition für Fleiß, aber auch für Falschheit stehen, bei Michael Krüger dann auch nichts anderes als unvollkommene „Vorbilder“ einer Welt, deren „Waben“ demokratisch gefüllt sind. Und wen wundert es, dass sich Norbert Hummelt beim Summen der in der „wintertraube“ sitzenden Bienen an das endlose Sonntagnachmittagsgerede bei Kirschkuchen mit Sahne erinnert fühlt … „Einhornjäger, alle Dichter – Drachenzähmer“, kommentiert Gomringer im Nachwort.

Das Liebesgedicht scheint auf dem Rückzug. „Liebe nun ja“, heißt es bei Dagrun Hintze – mit einem Augenzwinkern zu Bachmanns „Erklär mir, Liebe“ – über das Ausbleiben der erotischen Hexameter im geschäftigen Kultur- und Medienbetrieb: „Ließe er sich nur ficken des Nachts / vielleicht käme am nächsten Morgen / ein Gedicht vorbei“. Dagegen bekommt die Politik im Gedicht Aufwind, ohne Engagement, aber mit Ironie. Marion Poschmanns Gedicht „die zwei Körper der Kanzlerin“, mit dem die Anthologie beginnt, beschreibt den Landeanflug der Bundeskanzlerin mit einem Flugzeug. Dabei geht es weniger um die Person als vielmehr um das Medium, das sie bewegt. Die „Staatsmaschine“, von „Größe und Glanz“ beschienen, ist innen nur ein „scheinreicher Vogel / aus Fotoholz, aus gerasterten Ansichten“. So wird die mittelalterliche Theologie von den zwei Königskörpern zugleich demokratisiert und globalisiert.

Viel wäre noch zu sagen, zu zitieren und zu kommentieren, etwa Seamus Heaneys von Richard Pietraß übersetztes „Wunder“, das uns im Sinne der biblischen Lazarus-Geschichte aufruft, nicht nur des Wunderheilers zu gedenken, der den Toten auferweckt hat, sondern auch derer, die ihn ins Totenzimmer „hineintrugen – // Auf ihren tauben Schultern“. „Gedenke ihrer, wie sie stehen und warten // Daß das Brennen der Seile schwindet in den Händen / Schläfenschwindel und Unglaube / Vergeht, jener die ihn immer schon kannten“.

Gedichte, schreibt Uwe Kolbe – dessen „Gegenreden“, 2015 erschienen, hier fehlen –, „lauern im Morgengrauen und heulen mit dem Wind / sie fetzen die Blätter von den Bäumen und tun ihren Job“. Mehr kann man nicht erwarten. Eine wunderbare Anthologie. Nehmt sie und lest!

Titelbild

Christoph Buchwald / Nora Gomringer (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2015.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
221 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046123

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