Dinge erzählen

Valentin Christ plädiert aus der Perspektive des Mittelalters für eine Narratologie der Objekte

Von Martin BaischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Baisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dinge erzählen Geschichten. Dinge sind für die Konstitution von Bedeutung in einer Erzählung nicht beiläufig oder nachrangig. Erzählte Dinge sind für die Bemühungen gegenwärtiger Narratologie ein zentrales Arbeitsfeld. Dass das Gemälde „Pferd in Royalblau“ der Künstlerin Nicole Leidenfrost, das Bundespräsident Joachim Gauck als Gastgeschenk der englischen Königin Queen Elizabeth II. anlässlich ihres Besuches in Berlin im Juni 2015 zu übergeben hatte, auf wenig Gegenliebe gestoßen sei, vermuteten nicht nur zahlreiche britische Zeitungen. Der Umstand, dass das Kunstwerk nach einer privaten Kindheitsfotografie der Königin angefertigt worden sei, hat das Bild mit zusätzlichen Bedeutungsdimensionen (etwa über seine Entstehung) versehen, die in die Erzählung dieses Besuchs eingehen werden. Was aber erzählt das Bild als Ding noch über den Besuch der Königin in Deutschland und wie erzählt es von diesem Besuch?

In seiner schmalen Tübinger Dissertation, die bei Anna Mühlherr entstanden ist, widmet sich Valentin Christ am Beispiel mittelalterlicher Bearbeitungen der Vergilschen „Aeneis“ dem Entwurf einer Narratologie von Dingen. Die klar gegliederte und sprachlich-stilistisch überaus gelungene Arbeit benennt in der knapp gehaltenen Einleitung ihr Erkenntnisziel: Da gerade in mittelalterlicher Literatur eine Vielzahl an erzählten Objekten zu finden sei – erzähltheoretische Entwürfe, auch wo diese versuchten, historisch zu argumentieren, diese weithin ausblendeten – sei es erstens eine Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie und wo Dinge angemessen narratologisch verortet werden könnten, und zweitens zu erproben, welche alternativen Interpretationsmöglichkeiten eine Lektüre der Dinge ergeben würde. Dass Christ seine Untersuchung komparatistisch anlegt und neben Vergils Epos auch den anonym überlieferten altfranzösischen „Roman d’Eneas“ und den mittelhochdeutschen „Eneasroman“ Heinrichs von Veldeke analysiert, ermöglicht ihm, nicht nur die erzählerische Funktionalisierung von Dingen in einem (antiken) Text zu ergründen, sondern auch die je unterschiedlichen Aneignungen in den mittelalterlichen Adaptationen zu beschreiben.

Weniger gelungen scheint mir das zweite Kapitel des Buches, das versucht – ausgehend von dem Diskurs über Gaben seit den ethnologischen Untersuchungen von Marcel Mauss – kulturwissenschaftliche Zugänge zur Erforschung von Dingen darzustellen. Das ist zugegebenermaßen ein weites Feld, dennoch wäre hier mit Gewinn auch und gerade für eine narratologisch orientierte Analyse, die mit kontextualisierenden Ansätzen zu verbinden ist, weiteres Material zu diskutieren gewesen (etwa Henaffs Überlegungen zu Gabe und Anerkennung). Überzeugend allerdings ist der Versuch, Kriterien für die Definition entwickeln, was eigentlich Dinge (in einem literarischen Text) ausmachen: Diese sind nicht menschlich, verfügen über keine mentalen Zustände, allerdings aber über Formen von agency.

Das zentrale methodische Kapitel der Dissertation beschäftigt sich mit der Frage, wie (erzählte) Dinge bisher in narratologischen Entwürfen behandelt worden sind und wie diese Konzepte im Hinblick auf eine Analyse mittelalterlicher Texte sinnvoll erweitert werden könnten. Der Zugriff auf das reiche Theorieangebot ist durchaus problem- und zielorientiert, dennoch hätte auch hier tiefer in die Materie eingedrungen werden können. Christ hält dabei das Aktantenmodell von Greimas, Chatmans Zwei-Ebenen-Modell, die Diskussionen um kausale bzw. finale Motivierungsarten (nach Martinez und Scheffel) und die mediävistische Mythosforschung für anschlussfähige Konzepte, um nach den narrativen Funktionen von Dingen in der von ihm gewählten Textgruppe zu fragen. Dinge können hier in der Funktion als Aktanten (im Modus des ‚Helfers’ oder ‚Gegners’) analysiert, der Kategorie der existents zugeordnet werden, sie determinieren Räume (wie vor allem die Darstellung des goldenes Zweigs der Unterwelt in den Antikenromanen belegt) und werden von diesen determiniert.

Im zentralen Interpretationskapitel, das Dinge als Erzählkonstituenten im „Eneasroman“ untersucht, kann Christ aufgrund seines komparatistischen Ansatzes die Neupositionierung von Dingen in den mittelalterlichen Adaptationen, die je unterschiedlich ausfallen, beschreiben. Dies gilt im besonderen Maße für die im Antikenroman häufigen Beschreibungen von Waffen und Schutzgegenständen, wie etwa die Rüstung des Helden, die, von Vulcanus geschmiedet, als eigenständiges Erzählelement modelliert erscheint, ebenso für das Schwert des Eneas, das nur in der Fassung von Heinrich von Veldeke mit weiteren berühmten Schwertern der mittelhochdeutschen Epik verglichen wird. Im Rahmen seiner Beobachtungen zum Schild weist Christ nach, dass die mittelalterlichen Helden ihren Status als Heros verloren haben – besonders bei Heinrich agiert Eneas als ein schutzbedürftiger Sohn. Die Rüstung besitzt erzählerisch also die Funktion, ein facettenreicheres Heldenbild in den mittelalterlichen Romanen zu ermöglichen.

Besondere Bedeutung erhalten in allen Fassungen des Aeneas-Stoffes zwei Helme, da sie eine fast als autonom zu nennende Wirkkraft im Textgefüge entfalten. Nicht nur der von Camilla geraubte Helm des Priester Chloreus wird in der lateinischen wie der deutschen Fassung mit einem erheblichen Maß an agency gezeichnet, auch der von dem trojanischen Kriegerpaar Nisus und Euryalus entwendete Helm des Messapus gewinnt Aktantenstatus. Beide Male werden außergewöhnliche Ding-Geschichten möglich.

Hilfreich schiene mir, den hier vorgetragenen narratologischen Ansatz zu erweitern, dabei stärker kulturwissenschaftliche Annäherungen zum Verständnis erzählter Dinge zu berücksichtigen, wie sie etwa von Bruno Latour oder Hartmut Böhme entwickelt worden sind. Zu fragen ist auch nach der Reichweite der vorgelegten Erkenntnisse: Sind diese gattungspezifisch an den mittelalterlichen Antikenroman gebunden? Wie verhalten sie sich im Gattungsgefüge anderer Zeugnisse der höfischen Epik? Und schließlich: Erzählte Dinge (und ihre Beschreibung) wirken auch imaginativ, sie lösen beim Rezipienten unweigerlich Vorstellungen aus – eine poetische Technik, die sich schon Homer in seiner Darstellung des Schildes des Achilles zu nutzen zu machen wusste.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Valentin Christ (Hg.): Bausteine zu einer Narratologie der Dinge. Der ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke, der ‚Roman d‘Eneas‘ und Vergils ‚Aeneis‘ im Vergleich.
Hermaea. Neue Folge 137.
De Gruyter, Berlin 2015.
182 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783110400588

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