Anfang und Ende identisch gedacht

Rüdiger Görners Untersuchungen zum literaturästhetischen Motiv der „Hadesfahrten“

Von Tanja Angela KunzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Angela Kunz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Am Anfang lebt alles, auch das Tote, auch der tote Mensch, und sei es in spukhafter Form, als ‚Gespenst‘. Am Anfang des Menschseins ist der Tod also keine verfügbare Kategorie, wenn diese bedeuten soll, es ginge um das, was man später ‚tote Körper‘, ‚bloße Materie‘ oder ‚Stoff‘ nennt“, heißt es in Peter Strassers „Verteidigung der Philosophie des Geistes“ (2014). So bedacht, lösen sich Anfang und Ende in der Vorstellung der Transformation auf. Der geistigen Repräsentationskraft der Phantasie bedarf diese Vorstellung just dort, wo die Materie endet. So wurde der Kunst traditionell die Verfügung über die Orte des Besonderen, Unbekannten und Ominösen überlassen. Sie ist das Bollwerk wider die Angst vor dem Nichts, indem sie es mit Lebendigkeit anfüllt durch die Macht der Bilder und lebendig erhält durch die Kraft des Motivs.

Auf die Spuren eines solchen traditionsreichen Motivs begibt sich Rüdiger Görner in seinem auf die „morphomatisch verstandene[n] Figurativität“ ausgerichteten Streifzug durch verschiedene Repräsentationsformen des Hades‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei setzt er nicht nur lyrische, epische und dramatische Beispiele miteinander in Bezug, sondern integriert auch Beschreibungen musikalischer und bildkünstlerischer Repräsentationen, beide gespickt mit Überlegungen philosophischer, religiöser und kultischer Provenienz.

Als Hadesfahrt begreift der Verfasser jede Vorstellung von postmortaler Bewegung, wobei jeder Widerstand gegen die Vorstellung von der so genannten „ewigen Ruhe“ der Toten ein wie auch immer geartetes Jenseitiges als Idee einschließt, das in einer topographischen Beziehung zum Diesseitigen steht. „Fahrt“ wird als reisender Übergang, genauer – wie dies die Beispiele verschiedener Wasserfahrten (zum Beispiel Styx, Euphrat und Tigris) zeigen – als Hinüberfließen verstanden. Dieses Fließende setzt der Verfasser in Bezug zur (philosophischen) Denkbewegung, wie auch zum Schreibvorgang. Durch die Rückbindung an den Orpheus-Mythos sowie christlich-mittelalterliche und ägyptische Transzendenzentwürfe dient es ihm zugleich als literarhistorisches Bild für ein Einfließen des Archaischen in die literarische Moderne.

Von hier aus nimmt der Verfasser schlaglichtartig auf verschiedene Formen eines schreibenden Einübens ins Sterben Bezug. Bei Rainer Maria Rilke identifiziert er ein Plädoyer für eine formbergende, diesseitige Hadesfahrt, bei Hugo von Hofmannsthal die Suche nach einer Sterbekunst, eine Identität von Natalität und Thanatologie bei Franz Kafka oder eine Übermacht des Todes bei Virginia Woolf, um nur einige Beispiele zu nennen.

Auf bemerkenswerte Weise gelingt es dem Verfasser, der inhaltlichen Bestimmung seiner Untersuchung zu entsprechen, indem er sich für seinen komparatistisch ausgerichteten Weg durch den Kanon einem gleichermaßen fließenden Gestus hingibt. Dieser bildet das Vehikel seiner schweifenden Schreibweise und erlaubt es ihm, in seinen geistesgeschichtlichen Bezügen fallweise zurück- und vorauszuweisen. Die gewählte Sprachform enthebt den Verfasser aber auch dem Zwang, übergreifende Werturteile zu formulieren oder die sich ergebende Zusammenschau thesenhaft zu kommentieren. Stattdessen verfährt er darstellend und punktuell interpretierend.

Gleichsam en passant stellt er zuletzt die vielleicht entscheidende Frage: „Evoziert Nekropoetik Anachronismen?“ Als zentral erscheint diese vor dem Hintergrund der eingangs aufgeworfenen Idee einer Identität von Anfang und Ende, auf die ein Nachweis anachronistischer Tendenzen bei der künstlerischen Beschäftigung mit der Todesthematik erneut verweisen würde. Die Antwort überlässt der Verfasser dem Leser, dem er auf seinem kurzweiligen „Wünschelrutengang“ ein kulturalistisches Panorama der regen und facettenreichen Verarbeitungen des Hadesmotivs weit über die literarische Moderne hinaus freilegt, und für den er ein zur Fortsetzung und Vertiefung anregendes Orientierungsmanual bereitstellt.

Titelbild

Rüdiger Görner: Hadesfahrten. Untersuchungen zu einem literaturästhetischen Motiv.
Morphomata Lectures Cologne 11.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
99 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557349

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