Wilde Weiblichkeitsphantasien

Ein Sammelband bietet instruktive Überlegungen zu Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der deutschen Avantgarde

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab einmal eine Zeit, so um 1970, da wurden in der westlichen Hemisphäre allerorten Revolutionen und Umstürze propagiert, deren ProtagonistInnen sich, wie könnte es anders sein, möglichst radikale und provozierende Parolen ausdachten, die hierzulande etwa besagten, man solle kaputt machen, was einen kaputt macht. Nicht nur subversive Rockbands tönten von Steinen, die Scherben schaffen. Auch zahlreiche Frauen brachen in die Revolte auf. So bezeugten etwa die „militanten Pantertanten“, dass sie „Terror schon vor Rauschgift kannten“. Oder war es umgekehrt? Erst das Rauschgift, dann der Terror?

Wie dem auch sei, das in der Parole propagierte Zusammenspiel von „Genuss, Rausch, Ekstase, Gewalt, Entgrenzung“ war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wirkmächtig Konstellation und zwar in der künstlerischen Avantgarde Europas. Darauf machen Lorella Bosco und Anke Gilleir in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Schmerz. Lust“ aufmerksam. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die frühen avantgardistischen KünstlerInnen das subversive Gebräu von „Nietzsches Lebensphilosophie“ übernommen haben.

Wie die Herausgeberinnen erläutern, wurden die beiden im Titel des vorliegenden Bandes zusammengezogenen Gefühle Lust und Schmerz von der etwa in den Bereichen der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik und des Tanzes überaus innovativen künstlerischen Avantgarde des jungen 20. Jahrhunderts „nicht als Gegensätze, vielmehr als sich ergänzende Begleiterscheinungen des Lebenstriebs aufgefasst“. Dabei, so Bosco und Gilleir weiter, stellte das „nur scheinbar antihegemoniale Konzept“ dieser männlich dominierten Kunstrichtung „die Frau lediglich die Projektionsfläche männlicher Lust, nicht die ebenbürtige Mitstreiterin im gemeinsamen Kampf, dar“.

Ziel des vorliegenden Buches ist es nun, „Konzepte, Praktiken und Strategien weiblicher Autorschaft“ der frühen deutschen Avantgarde während der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts „im Spannungsfeld“ von Lust und Schmerz zu beleuchten. So zeigen die Beiträge der elf an diversen europäischen Universitäten sowie in Vancouver lehrenden und forschenden WissenschaftlerInnen, dass die Frauen der Avantgarde „die Auflösung traditioneller Machtstrukturen betreiben“, „indem sie mit ihren Lust- und Schmerzerfahrungen experimentieren“, sie „thematisieren und ästhetisch reflektieren“, ohne diese auch in der künstlerischen Avantgarde wirkenden, nicht zuletzt geschlechterhierarchischen Machtstrukturen allerdings „immer unbedingt offen anzugreifen“.

Zwei der in dem Band vorgestellten Avantgardistinnen werden in mehreren Beiträgen behandelt: Else Lasker-Schüler und Hannah Höch. Markus Hallensleben stellt die „Portrait Montages“ beider Künstlerinnen nebeneinander, während Giulia A. Disanto der „Gestaltung des Weiblichen in Kurt Schwitters’ und Hannah Höchs gemeinsamen Arbeiten“ nachgeht. Ruth Hemus legt ihren Fokus auf auf „Legs as Fetish“ in Hannah Höchs Photomontagen und Christine Kanz erörtert die „kreative Mobilität und Transkulturalität in Else Lasker-Schülers Gedichten und Erzähltexten“. Ebenfalls literarischen Werken widmet sich Inge Arteel, die sich mit Marieluise Fleißers „grotesker Sachlichkeit“ befasst. Christiane Schönfeld vergleicht die „performative Ästhetik von Lust und Schmerz“ in den Prostituiertenromanen von Margarete Böhme mit deren Verfilmungen. Marion de Zanger beleuchtet verschiedene Werke Unica Zürns, deren avantgardistische Werke Erzähltexte wie „Der Mann im Jasmin“, aber auch Aquarelle, Radierungen und Zeichnungen umfassen. Dem bildenden Œuvre einer Kriegsenthusiastin, die sich angesichts des Soldatentodes eines ihrer Söhne 1914 an der Front in Flandern zur Pazifistin wandelte, wendet sich hingegen Elisabeth Krimmer zu, deren Beitrag laut Titel „The Representation of War and Violence in Käthe Kollwitz’s Works“ gilt.

Mitherausgeberin Anke Gilleir geht in ihrem Beitrag „Galateas gebrochene Nase“ wiederum „Künstlertum und Weiblichkeit“ im literarischen Werk der Schriftstellerin und Performance-Künstlerin Maria Eichhorn auf den Grund, die unter dem sprechenden Pseudonym Dolorosa auftrat und publizierte. Gilleir kommt nicht nur das Verdienst zu, an eine ganz zu Unrecht weithin vergessene Autorin und Künstlerin zu erinnern, sie zeigt auch, wie in dem auf vielfältige Weise grenzüberschreitenden Œuvre Dolorosas „Sexualität, Weiblichkeit und Künstlertum zusammengedacht und aus Sicht der Frauengeschichte als Symptom einer Übergangszeit zwischen ‚Nicht-Mehr‘ und ‚Noch-Nicht‘ gelesen werden können“. Die Vorstellung einer solchen Übergangszeit, zumal für Frauen, war bereits den damaligen Akteurinnen selbst bewusst und fand in Hedwig Dohms bekanntem Wort von den „Übergangsgeschöpfen“ Ausdruck. Gilleir entwickelt in ihrem kurzen Text einige kluge Gedanken, etwa indem sie darlegt, dass die damals etwa in der Avantgarde virulenten „wilden Weiblichkeitsphantasien“ nicht etwa befreiend wirkten, sondern „auf die reale Selbstverwirklichung der Frauen einen paralysierenden Einfluss hatten“, oder indem sie zeigt, dass sich in den Romanen Dolorosas „nicht nur keine Spur von ikonischer Weiblichkeit“ finden lässt, sondern „das Bild des weiblichen ‚erotisch-mystischen Wesens‘ (Georg Simmel)“ von der Schriftstellerin „gnadenlos demaskiert“ wird. Sogar das „mysterium fascinosum et tremendum der fetischisierten Frau als ‚Idol der Perversion‘“, das die Dichterin in ihrer frühen Lyrik „immerhin streifte“, „enttarnt“ ihr späteres Romanwerk „im erbarmungslosen Tageslicht der sozialen Realität als grausame Phantasie männlicher Dominanz“. Angesichts eines solchen Werkes und Gilleirs insgesamt erhellenden Anmerkungen dazu, ist es umso ärgerlicher, dass die Literaturwissenschaftlerin die in mehrfacher Hinsicht falsche Rede von der Prostitution als „ältestem Beruf der Welt“ gleichermaßen kritik- wie einfallslos übernimmt. Dennoch, Gilleirs Beitrag zählt zu den lesenswertesten des gesamten Bandes.

Carola Hilmes Interesse gilt einer Avantgardistin, die zumindest ebenso aufsehenerregend war wie Dolorosa. Ihr Beitrag befasst sich mit den „unbotmäßige Auftritten“ Elsa von Freytag-Loringhovens, deren „Alltagsinszenierungen“ zweifellos noch um einiges exzentrischer waren als die Lyrik-Performances Dolorosas, ganz zu schweigen von ihrer Persönlichkeit. Hilmes preist die Künstlerin zwar vielleicht etwas überschwänglich als „wahre Avantgardistin“, „Vorläuferin der Body Art und eine der ersten Performance-KünstlerInnen“ mit „postmodernen Qualitäten“, macht in einer allerdings etwas beschönigenden Formulierung aber auch auf Freytag-Loringhovens „verqueres Verhältnis zur Sexualität“ aufmerksam. Hilmes sieht in den „riskante[n] Auftritten“ der – wenn man so will – Aktionskünstlerin nicht nur eine „Verkörperung ihrer exzentrischen Existenz“, sondern vermutet wohl zu Recht, „für die Baroness, die ihren Körper zum Schauplatz ihrer Kunst transformierte“, habe es „keine Möglichkeit“ gegeben, „zwischen öffentlichem Auftritt und privater Existenz zu trennen“. Wenn Hilmes allerdings erklärt, Elsa von Freytag-Loringhovens „Geschlechtsidentität“ habe sich „durchaus in Opposition zur biologischen Rolle“ befunden, stellt sich die Frage, was unter dem Begriff der biologischen Rolle zu verstehen ist und ob es eine solche überhaupt geben kann?

Mögen in diesem oder jenem Beitrag auch hier und da solche Beiläufigkeiten zu monieren sein, so weckt doch jeder einzelne der Aufsätze Interesse an den vorgestellte Frauen, auch wenn dies im einen oder anderen Fall weniger an den analytischen Überlegungen der Wissenschaftlerinnen als an den vielfach opak schillernden Persönlichkeiten der vorgestellten Avantgardistinnen liegen sollte.

Titelbild

Lorella Bosco / Anke Gilleir (Hg.): Schmerz. Lust. Künstlerinnen und Autorinnen der deutschen Avantgarde.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
270 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849811037

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