Kein Halt, keine Historie, keine Hoffnung

„September-Elegien“ von Durs Grünbein ist mehr als 9/11-Lyrik, es ist anti-utopische Raumerkundung in einer dissoziierten Gegenwart

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Auf den ersten Blick scheint September-Elegien (2001) von Durs Grünbein ein New York lange nach den Terroranschlägen zu betrachten. Doch ebenso wie der Plural im Titel der Gedichttrilogie irritiert, verunsichert das angegebene Entstehungsdatum ’September 2001’ am Werkende. Zu einem Zeitpunkt, als in der Öffentlichkeit keine anderen Emotionen außer Schock und Betroffenheit herrschten, wurde bereits eine wehmütige Klage auf die Ereignisse gehalten, gewissermaßen ein Abgesang mit zwischen Prosa und Lyrik changierender Sprache und einer rhythmischen Fluktuation an Bildern. Was beinahe (ver-)störend wirkt, bedeutet realitätsnahe Pragmatik. Wenn etwa der amerikanische Autor John Updike in seinem persönlichen 9/11-Augenzeugenbericht noch betonte: „Plötzlich zum Zeugen von etwas Großem und Schrecklichem geworden, bemühen wir uns, es nicht auf unsere eigene Kleinheit zu reduzieren.“[1], offenbarte sich das auf Dauer als Ideal. Der eigentliche Skandal war/ist nämlich, dass absolut gar nichts den Menschen dauerhaft aus seinem Alltag zwischen perspektivloser Gewohnheit und biologischer Prädisposition herausreißen kann, wie es schon zu Anfang des ersten Gedichts heißt: „Dann flaut die Erregung ab. Vom Anblick der Supernova / Erholen die meisten sich bei Arbeit, Glücksspiel und Sex. / Von allen Mementos bleibt als letztes das leise ‚It`s over‘.“ (1.-3. Zeile).

Dabei ist nichts vorbei, außer „Auch Wolkenkratzer – ihr Bau dauert Jahre, Sekunden ihr Fall.“ (17. Zeile). Die Türme des World Trade Centers schlossen gewissermaßen symbolisch die historische Lücke zwischen New Yorks einstiger Hoffnung auf kommende Größe und heutiger Prosperität sowie Popularität der City. Angesichts dessen wäre die Zeit gekommen, sich jenseits des politischen Kontextes persönlich mit den Terrorakten auseinanderzusetzen. Immerhin bleiben sie, so monströs sie anmuten, dennoch Menschenwerk und fallen damit in die Verantwortung der eigenen Art, die dies freilich nicht wahrhaben möchte: „Schicksal, von Schläfern gemacht, erscheint nun als ferngelenkt. / Dass Flugzeuge Bomben sind, stört kaum den technischen Schlaf.“ (7./8. Zeile). Dem ersten maßlosen Entsetzen ist halbherzig gerechtfertigte Bequemlichkeit und Abstumpfung gewichen: „Von Terminen und Schulden gejagt, durcheilt man die Stadt. / Wer hat schon Zeit gehabt, etwas wie Seelenruhe zu destillieren / Aus der Gewissheit des Todes, und dass alles ein Ende hat?“ (14.-16. Zeile). Solche Distanzierungsmechanismen werden am Ende des Gedichtes ins Groteske verschoben und gleichzeitig in ihrer Unbarmherzigkeit entlarvt, wenn der einzige Blickwinkel, von dem aus die Terroranschläge definitiv bedeutungslos sind, schon ein außerterrestrischer sein muss: „Der Globus dreht seine Runden wie eh und jeh. Aus dem All / Gleicht der Fleck in Manhattan einem erloschenen Vulkan.“ (19./20. Zeile). Nur im All relativiert sich die Größe Manhattans, hier demonstrativ zum ersten Mal innerhalb des Gedichts erwähnt, und nur im All, einem Ort fern der Menschheit, liegt Vergessen. Auf der Erde hingegen ist die Flucht vor den Außeneinflüssen und vor sich selbst verhindert.

Statt der Details ausblendenden Totalen wird im zweiten Gedicht ein von den Zusammenhängen ablenkendes Close-Up als literarische Perspektive gewählt. Beide Wahrnehmungsvarianten garantieren visuellen Abstand und finden häufig als Panoramablick oder Ausschnittverfahren bei der lyrischen Thematisierung New Yorks ihren Einsatz. Indes werden sie hier von Personen, die kaum mehr New Yorker sein müssen und vom lyrischen Sprecher neutral als ’man’ und ’du’ bezeichnet werden, zur psychischen Sedierung und Distanzierung nach außen genutzt. Ohne Hinweis auf historische Zeit und konkreten Ort entsteht im Stakkato der Bilder das unspektakuläre Bild eines Herbsttages: „September, der Herbe, greift unters T-Shirt, zerrt an den Haaren. / Härter das Licht, es bewirkt, dass die Blicke, vom Sommer erweicht, / Überall sich an Schnittkanten brechen. […]“ (5.-7. Zeile). Jedoch mit der Erwähnung von ’Terminus’, dem altrömischen Gott der Grenzsteine, wandelt sich das bisher durchaus realistische Szenario zu einer metaphorisch aufgeladenen Umgebung. Plötzlich wird klar, dass kühle Witterung, graue Fahnen und trübe Aussichten nicht auf eine Jahreszeit verweisen, sondern auf die Stimmung unter den Menschen. Längst verlaufen Grenzen innerhalb der Gesellschaft, weil ihre desorientierten Bürger selbst zwischen Pseudo-Normalität und unbeholfener Wut im Sinne von „Mancher drischt – Feind, komm heraus – auf sein Kopfkissen ein.“ (19. Zeile) schwanken: „Grippe und Terror, ist die Parole, an der man den Nächsten erkennt.“ (18. Zeile). Zweifellos gibt es Fronten, doch keiner weiß mehr, wo sie beginnen und aufhören.

Wurde schon im ersten Gedicht Manhattan, also New York, nur einmal tituliert, entfernt sich im zweiten Gedicht der Fokus immer weiter von der City, und allein Begriffe wie ’Terror’ oder ’Aufwind, Abwind’ gemahnen an die Anschläge. Von Opfern und Tätern ist keine Rede mehr. Tatsächlich bleibt New York allein als allgemeine Großstadt und Ort urbaner Entropie wichtig. Durs Grünbein, dessen Lyrik vielfach von Arealen metropolen Lebens beeinflusst ist, bemerkt:

Zugegeben, ich fühle mich in unbesiedelten Landschaften haltloser als in Metropolen mit ihrer heroischen Urbanität. […] Das heißt, im Stadtraum behält man die Deutungshoheit über das, was einem begegnet. […] In New York oder Moskau bleibt man an seinesgleichen gefesselt, man erkennt sich im trüben Brei der Geschäfte und Leidenschaften wieder und bleibt Herr über die eigene Zeit. […] Die Metropole […] belebt sämtliche Gehirnfunktionen.[2]

Die City avanciert zum Ort für indifferentes Abgrenzungsgebaren gegenüber dem Äußeren und Anderen. Die Frage nach dem ’Warum’ wird bewusst offengelassen, stattdessen obige gesellschaftliche Thematik im dritten Gedicht zu menschlicher Problematik, ja Dramatik überhaupt transzendiert: „Weniges dauert an. Zur Schnulze wird das Verlustgefühl, / Von dem man noch eben sicher war, das geht niemals vorbei. / Das Lamento der tief Betroffnen, ihr Kniefall im Beichtgestühl, / Wird albern beim Anblick der brandneuen Uniformen der Polizei. / Unter der Dusche am andern Morgen, was bleibt von den Tränen?“ (1.-5. Zeile). Grundsätzlich gehört solcher Sarkasmus als schneidende, im ursprünglichen Wortsinn ’unter die Haut gehende’ Sprache zu Durs Grünbeins bevorzugten Ausdrucksformen[3]. New York oder 9/11 sind nur noch über die Erwähnung von Polizeiuniformen angedeutet, eigentlich schon gar nicht mehr präsent und unter der Banalität des Alltags begraben: „Wie viele in Hinterzimmern, haust jeder in Hintergedanken, / Mit dem Kontostand hadernd, dem Wetterwechsel, dem Schnupfen.“ (9./10. Zeile). Die Tragik menschlichen Daseins liegt in der alles nivellierenden Zeit. Auf Dauer lässt sie sämtliche Ereignisse erstarren, weshalb schon kurz nach dem Terrorakt, als der öffentliche Schock noch grenzenlos erschien, dieses Gedicht geschrieben werden konnte. So betrachtet ist die Voraussage der Sprecherinstanz, die bei Durs Grünbein als Dichterfigur häufig klar umrissen, autonom und humanistisch gebildet ist, dass sich bald wieder der Alltag einschleiche, zwar nicht unbedingt visionär; es erfordert jedoch Mut, im Angesicht eines alles dominierenden, geradezu irrealen Terroraktes diesen nur zum Anlass, nicht zum Höhepunkt von Reflexionen über menschliches Vergessen, Verdrängen und Verlassen zu nehmen. Dem liegt eine bekannte Idee des Autors zugrunde: „Die Welt ist dem Menschen feindlich und bedroht ihn mit Dissoziierung.“[4]

Insofern erweist sich der dreiteilige Gedichtaufbau als eine das poetische Thema widerspiegelnde Form. Die schnell eintretende Ignoranz der Menschen nach den Anschlägen wandelt sich zu Apathie in einer zwischen unbestimmtem Misstrauen und leerer Euphorie feststeckenden Gesellschaft, um schließlich als Phlegma zu enden: Was bleibt an humaner Substanz übrig, wenn die Welt restlos entzaubert ist und alle Werte umgeschichtet? Kommunikation ist es offenbar nicht, denn: „Wie gut, dass es Mythen gibt, Lexikonworte wie Moira, Ananke. / Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen.“ (11./12. Zeile). Damit wird die nach den Anschlägen in New York ebenso konfuse wie diffuse, von Phrasen überlagerte Stimmung widergespiegelt. Durs Grünbeins polyphone Sprachkunst aus Zitaten und Anspielungen[5] taucht erstaunlicherweise in Gestalt von Sprachkritik auf, die an traditionellen, dichterischen Bildern und geistesgeschichtlichen Anspielungen festgemacht wird, die „zugleich Erklärungen eines Erkenntnisstandes und Ausdruck der Begrenztheit eigenen Denkens“[6] sind. Griechische Schicksalsgöttinnen, wie die drei Moiren oder die unausweichliche Notwendigkeit personifizierende Ananke, sollen als mythologische Verweise und sprachliche oder kulturelle Konstruktionen dem Erleb(t)en Tiefe geben, doch dienen sie allein zur Verschleierung der ‚deformierten Realität‘ und ’stumpfen Gegenwart‘, letztere eine Grundkonstante der Poesie Durs Grünbeins[7]:

Grünbeins Lyrik ist das Resultat zivilisatorischer Drangsal. Der Autor beobachtet den Druck des Realen auf das Mentale, arretiert den Choc dort, wo er irritiert. Ort des Geschehens ist der Schnittpunkt zwischen Außen und Innen, die Arena von zerstreutem Bewusstsein und versprengtem Ich. Das Reale agoniert das, was Seele hieß und was der Dichter nicht mehr Seele nennen kann.[8]

Damit wäre auch der Plural im Titel geklärt, denn die Gedichte sind keineswegs als alleinige schwermütige Elegie auf den 11. September gedacht, sondern gipfeln in einer anti-sentimentalen, skeptizismusgeschärften Trauerrede eines zwar wissenden, aber nicht urteilenden Beobachters auf das Defizitäre der menschlichen Existenz, auf das distanzierte, entfremdete Ich.

New York ist geographischer Ausgangspunkt und Bühnenbild einer lyrisch durchmessenen Gegenwart, die sich zur ‚anthropologischen Landschaft eines zeitenübergreifenden Kompendiums menschlichen Befindens‘[9] entfaltet. Von der City aus wird statt auf Globales auf die subjektive Innerlichkeit verwiesen, das heißt, die in Dichtung umgewandelte anti-utopische Raumerkundung wird zum Mittel für eine Archäologie der menschlichen Zivilisation. Deshalb ist Angst nicht mehr im Sinne einer Reaktion auf die Anschläge zu verstehen, meint vielmehr das Grundempfinden angesichts einer dissoziierten Welt, in der gesichtsloser Terror mit banalem Alltag koexistiert. Zurückgeworfen auf sich selbst bleibt das Ich der barbarischen Zeit als einziger Konstante ausgeliefert: „Ein Blick untern Schreibtisch, in den Papierkorb, gibt dir den Rest. / Müllschlucker Herz: all die Rechnungen, die zerrissenen Briefe, / Lassen die Falltür erahnen darunter, im Keller der Jahre.“ (16.-18. Zeile).

Durs Grünbein: Erklärte Nacht. Gedichte. Frankfurt am Main 2002.

[1] Updike, John: 11. September 2001. Die Türme fallen. New York. In: Keller, Ulrike (Hrsg.): Reisende in den USA. 1541-2001. Ein kulturhistorisches Lesebuch. Wien 2002, S. 226-229, hier S. 227.

[2] Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 73, 74.

[3] Vgl. Braun, Michael: »Vom Rand her verlöschen die Bilder«. Zu Durs Grünbeins Lyrik und Poetik des Fragments. In: Text + Kritik, Heft 153 (Januar 2002): Durs Grünbein, S. 4-18, hier S. 8.

[4] Berg, Florian: Das Gedicht und das Nichts. Über Anthropologie und Geschichte im Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2007, S. 205.

[5] Vgl. Ahrend, Hinrich: Essayistische Lyrik. Grünbeins Grenzgänge zwischen Poesie und Poetik. In: Bremer, Kai / Lampart, Fabian / Wesche, Jörg (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2007, S. 135-168, hier S. 144.

[6] Winkler, Ron: Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn. Annäherungen an das lyrische Werk Durs Grünbeins. Hamburg 2000, S. 21.

[7] Vgl. Ebd., S. 9.

[8] Ebd., S. 14.

[9] Vgl. Ebd., S. 15.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz