Räume und Orte als Konstituenten von Kindheit und Jugend

Ein von Caroline Roeder herausgegebener Tagungsband zeigt die Vielfalt des Themas aus literarischer, medialer und interdisziplinärer Perspektive auf

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Terminus „Topographien“ ist en vogue: Topographien des Terrors, der Grenze, der Menschlichkeit, ja des Digitalen und des Unbewussten finden sich in aktuellen Debatten und Forschungsprojekten. Der Raumforschung kommt dabei die Funktion eines wichtigen Impulsgebers in den Kulturwissenschaften zu, die etablierte Betrachtungs- und Interpretationsperspektiven um neue Zugänge erweitert. Die wissenschaftliche Analyse von Räumen und Orten in Form von literarischen und medialen Inszenierungen liefert wichtige Erkenntnisse zur Frage von kulturellen Landschaften, zu sozialen Praktiken und zu politischen Ideologemen, nicht zu vergessen zu pädagogischen Aspekten. Bislang ist der spatial turn beziehungsweise topographical turn in der Kinder- und Jugendliteraturforschung nicht paradigmatisch gewesen. Dies hat sich nun mit dem von Caroline Roeder herausgegebenen Sammelband „Topographien der Kindheit“ geändert.

Hervorgegangen aus einem gleichnamigen Symposion im Sommer 2013 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, verweist die Herausgeberin bereits einführend auf die theoretischen Leitlinien des Forschungsanliegens: Unter Bezug auf Aleida Assmann konstatiert sie, dass sich Kindheits-Räume als Palimpseste erweisen. Damit verkörpern sie „Transiträume oder bedeuten Fluchtpunkte, sei es als verlorene Heimat, sei es als utopische Schlaraffenländereien“. Kindheit könne neu gelesen und verstanden werden als verräumlichte Kindheit(en), mit der Folge, dass ihre Erforschung vielfältige Rückschlüsse eröffnet, von Roeder mit sieben Schnittstellen umschrieben: Ordnungssysteme, Fragen der Kartierung, Genderaspekte, Transkulturalitätsperspektiven, Fragen des Spiels und der Architektur sowie die Rolle der Virtualität. Dies wird interdisziplinär und intergenerationell ausgehandelt und diskutiert in drei großen Raum-Dominanten, die Roeder mit Erinnerung, Handlung und Imagination umschreibt. Damit ist zugleich der nachvollziehbare, dreigliedrige Aufbau des Sammelbandes benannt.

Der erste Teil fokussiert Erinnerungsräume. Die fünf heterogenen Beiträge intendieren kulturhistorische, literarische und theoretische Reflexionen über das Erinnern an Kindheit. Nach einer poetologischen Reminiszenz der Autorin Jenny Erpenbeck, die dem Motto folgt: „Ich sollte und wollte mich nur ein wenig an meine unvollkommene Kindheit erinnern …“, stellt der Frankfurter Literaturwissenschaftler Burkhardt Lindner in einer kulturgeschichtlichen Musterung den Wandel vom „sentimentalischen“ Kinderbild (vorrangig Friedrich Schillers und der Romantiker) über die psychoanalytische Umgestaltung bis hin zu Walter Benjamins Erinnerungstopographie in dessen Kindheitsbuch „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ dar. Dem folgt Carsten Gansels literaturtheoretisch versierter Blick auf diverse Herausforderungen  beim Erzählen aus Kinderperspektive, der unter anderem um „unzuverlässiges Erzählen“ und „Unzuverlässigkeit des Erinnerns“ kreist. Die Zürcher Forscherin Barbara Piatti stellt einen innovativen Zugang über „literaturgeografische Lektüren“ vor, wobei sie Aspekte wie Geokritik, Geopoetik, Traum-, Erinnerungs- und Sehnsuchtsorte fokussiert und an drei Fallbeispielen literarische Kindheitsorte analysiert. Die Zürcher Medienwissenschaftlerin Ingrid Tomkowiak zeigt an Texten von Walter Benjamin, Umberto Eco, André Breton, Edgar Allan Poe, Paul Wehrli und Lyman Young den Zusammenhang von „Kindheitserinnerungen und Lektüreerinnerungen“, bisweilen auch den besonderen Reiz von verbotenen Lesestoffen, die von Kindern im Verborgenen konsumiert werden.

Neun Beiträge sind dem Abschnitt „Handlungsräume der Kindheit“ zugewiesen. Bereits das einführend vorgestellte Kunstprojekt von Hubert Sowa verdeutlicht, dass räumliche Rahmungen, Kontexte und Bedingungen das Handeln und Erinnern von Kindern prägen.  Verschiedene Bereiche wie „Vorstädte“ (Caroline Merkel), Kinderzimmer (Heidi Lexe), Computer- und Videospiele (Matthis Kepser), gestaltete pädagogische Räume einerseits im Philanthropismus des 18. Jahrhunderts (Nikola von Merveldt), anderseits im Fröbelʼschen Kindergarten (Roswitha Staege) und in der Schule (Rüdiger Vogt) werden aus diversen Perspektiven betrachtet, um anschließend den Blick auf die interkulturelle Dimension zu richten: Jan Hollm wertet verschiedene Beispiele aus dem Gebiet der englischsprachigen Kinder- und Jugendliteratur aus mit dem Befund, „dass sich Kindheit und Jugend in deutsch- und englischsprachigen Kinderzimmern in wachsendem Maße angleichen“. Abgerundet wird dieser Abschnitt durch einen Beitrag aus den postcolonial studies, wobei Judita Kanjo die Romane „Jahrhundert der Herren“ von Jeannette Landers und Giselher W. Hoffmanns „Die verlorenen Jahre“ analysiert, welche zu Sri Lanka beziehungsweise Namibia „ein eher als idealisierend zu bewertendes Bild kultureller Hybridisierungsprozesse“ zeichnen.

Der dritte Abschnitt zum Problemkomplex „Imaginationswelten der Kindheit“ umfasst acht Texte, die durch ein Interview mit und mehrere Texte von Peter Bichsel eröffnet werden. Die Bochumer Germanistin Monika Schmitz-Emans betrachtet die Kindheitsorte in Texten von Jean Paul, wobei zwei Ergebnisse herausstechen: Einerseits scheint die Schilderung von Kindheitsorten „vor allem Schilderung von Spiel-Objekten und ortsgebundenen Spielen“ zu sein, andererseits sei für Jean Pauls Kindheitstopographien das „Paradies“ als Ur- und Musterbild als „ein zitiertes, ein wiederholtes Paradies“ charakteristisch. Gundel Mattenklott reflektiert über kollektive Phantasiespiele und selbst erfundene Länder, unter anderem am Beispiel von Clemens Brentanos „Gockel, Hinkel und Gackeleia“, Wilhelm Flitners „Erinnerungen 1885-1945“ sowie Charlotte Brontës „Erzählungen aus Angria“ beziehungsweise „Angria und Gondal“. Der Bamberger Didaktiker Ulf Abraham greift auf zahlreiche fantastische Kinder- und Jugendliteratur zurück und analysiert, wie Raumkonzepte „über die jeweils erzählte Handlung hinaus poetische Bilder schaffen, die Kindern und Jugendlichen helfen die Welt und ihr eigenes Aufwachsen in ihr zu verstehen“. Ein interessanter Befund: „Der Weg aus der Geborgenheit der Kindheit ‚hinaus‘ in das Unvertraute und ambivalent Reizvoll-Gefährliche lässt sich einfacher poetisch elementarisieren, wenn die Protagonisten Maulwürfe sind […] oder Katzen“. Unter Rückgriff auf Michel Foucaults Heterotopie-Konzept betrachtet Stefan Tezlaff mehrere Romane Zoë Jennys, denen er eine Ausrichtung am romantischen Raum attestiert. Weitere Beiträge richten das Augenmerk auf literarische Gestaltungen des Schlaraffenlands (Ute Dettmar) beziehungsweise auf Topographien der Ferne (Gabriele von Glasenapp). Abgerundet wird der Sammelband durch den Blick Toni Tholens auf die „Gender-Dystopien“, wobei er „hegemoniale Männlichkeiten“ in Pop-Figurationen der Gegenwartsliteratur konstatiert. 

Als Fazit gilt es, die beeindruckende interdisziplinäre Bandbreite an Zugangsweisen und Methoden zur Topographieerkundung in Kinder- und Jugendliteratur hervorzuheben, ferner die Fülle an literarischen Quellen. Die Herausgeberin hat einführend nicht zu viel annonciert, gelingt es doch durch die interdisziplinäre Multiperspektivität, „Kindheits-Räume in ihrer Vielfalt und wissenschaftlichen Diversität aufzuspannen“. Sicherlich bleibt noch Etliches vage, vor allem im Bereich der Jugendphase und in Phasen des Übergangs zwischen Kindheit und Jugend. Warum diese Bereiche nicht bereits zuvor viel intensiver das epistemologische respektive heuristische Interesse der Kulturwissenschaften geweckt haben, vermag vielleicht die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck treffend zu erklären. Mit ihren Worten gilt es – sicherlich anschlussfähige Forschungsprojekte antizipierend – zu resümieren: „Das Verschwinden von Orten hat immer zwei Phasen […]. Die erste Phase: die Entleerung, das Überwuchertwerden, Zusammenstürzen, aber Noch-da-Sein, und dann zweitens: das Wegwischen und die Neubesetzung.“

Titelbild

Caroline Roeder (Hg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
398 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783837625646

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