Tränen, Freude, Nüchternheit

Matthias Claudius‘ „Nach der Krankheit“

Von Manfred SiebaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Siebald

Nach der Krankheit 1777

Ich lag und schlief; da fiel ein böses Fieber
    Im Schlaf auf mich daher,
Und stach mir in der Brust und nach dem Rücken über,
    Und wütete fast sehr.

Es sprachen Trost, die um mein Bette saßen;
    Lieb Weibel grämte sich,
Ging auf und ab, wollt sich nicht trösten lassen,
    Und weinte bitterlich.

Da kam Freund Hain: „Lieb Weib, mußt nicht so grämen,
    Ich bring ihn sanft zur Ruh“:
Und trat ans Bett, mich in den Arm zu nehmen,
    Und lächelte dazu.

Sei mir willkommen, sei gesegnet, Lieber!
    Weil du so lächelst; doch
Doch, guter Hain, hör an, darfst du vorüber,
    So geh und laß mich noch!

„Bist bange, Asmus? – Darf vorüber gehen
    Auf dein Gebet und Wort.
Leb also wohl, und bis auf Wiedersehen!“
    Und damit ging er fort.

Und ich genas! Wie sollt‘ ich Gott nicht loben!
    Die Erde ist doch schön,
Ist herrlich doch wie seine Himmel oben,
    Und lustig drauf zu gehn!

Will mich denn freun noch, wenn auch Lebensmühe
    Mein wartet, will mich freun!
Und wenn du wiederkommst, spät oder frühe,
    So lächle wieder, Hain![1]

Vor 275 Jahren, am 15. August 1740, wurde Matthias Claudius geboren, der ebenso populäre wie umstrittene Journalist, Dichter, Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker aus Wandsbeck bei Hamburg. Während sein „Der Mond ist aufgegangen“ von der Literaturkritik und von Volkes Stimme auch heute noch hoch geschätzt wird und seit jeher zu den beliebtesten deutschen Abendliedern gehört, hatte er schon zu Lebzeiten nicht nur Freunde unter den Literaten –  bekannt sind die ratlosen bis vernichtenden Äußerungen Goethes, Schillers und Wilhelm von Humboldts.

Dass in diesem Jahr am 21. Januar auch sein 200. Todestag begangen wurde, ist durchaus nicht selbstverständlich, denn er hätte durchaus früher sterben können: Im März 1777 machte er am Ende seiner unglücklichen Darmstädter Zeit eine schwere, lebensgefährliche Pleuritis durch und erlebte einen near miss, einen Beinahe-Zusammenstoß mit dem Tod. Die Innenschau dieses Ereignisses liefert er uns in dem Gedicht „Nach der Krankheit“, das sich allerdings nicht auf die bloße autobiographische Verarbeitung eines medizinischen Prozesses reduzieren lässt, denn es bietet, obwohl es vergleichsweise wenig anthologisiert worden ist und von der Kritik nicht den Sternstunden im Werk des Dichters zugerechnet wird, auch einen exemplarischen Einblick in Claudius‘ Weltsicht und in seinen Umgang mit Leiden und Sterben.

Nicht nur in „Nach der Krankheit“ ist die Beschäftigung mit dem Tod für ihn ein Stück life-writing. Eine ganze Reihe seiner Gedichte und seiner Prosatexte verarbeitet den Verlust enger Angehöriger oder guter Freunde: Er trauert darin unter anderem um seine Schwester Dorothea, seinen Vater, seine Tochter Christiane, seinen Sohn Matthias und den befreundeten Maler Philipp Otto Runge. Bei manchen Texten sind auch keine persönlichen Todeserfahrungen als Auslöser bekannt, wie zum Beispiel bei „Der Tod und das Mädchen“. So elementar in diesen Texten die menschliche Erschütterung über die irdische Vergänglichkeit der individuellen Existenz und sozialer Bindungen zum Ausdruck kommt – zusammen mit den schöpfungsbejahenden Gedichten, in denen das lyrische Ich bekennt, „fröhlich fröhlich“ zu sein (S. 84), schaffen die Texte über den Tod eine spannende Ausgewogenheit von Schrecken, Angst und Trauer auf der einen und intensiver Lebensfreude und christlicher Jenseitshoffnung auf der anderen Seite. In einzelnen Gedichten, so wie in „Nach der Krankheit“ fügen sich die negativen und die positiven Gestimmtheiten sogar zu einer gelungenen Synthese.

Schon an der formalen Oberfläche erscheint hier die Krankheit (und damit der Tod) als unerwünschter Eindringling und stellt die scheinbare Regularität des Lebens in Frage. Der hexametrische dritte Vers der ersten Strophe sticht aus dem ansonsten pentametrischen Versmaß aller anderen ersten und dritten Verse heraus – was dem verstörenden Stechen des Fiebers in Brust und Rücken des lyrischen Ichs entspricht. Wir kennen solche bewussten metrischen Irregularitäten nicht nur aus anderen Gedichten Claudius‘ – zur Meisterschaft gebracht hat sie zweihundert Jahre später der amerikanische Dichter Ogden Nash, der dieses Stilmittel perfektionierte und für humoristische Überraschungseffekte nutzte.

In Frage gestellt wird – diesmal auf der semantischen Ebene – sehr bald aber auch die unausweichliche Bedrohlichkeit des Todes. Der beinahe diagnostisch klingende Bericht über zunächst unmerklich aber dann umso quälender auftretende Schmerzsymptome mündet in die skurril anmutende, typisch Claudiussche Formulierung, dass die Krankheit „fast sehr“ wütet: Die Intensitätspartikel „sehr“ wird durch „fast“ relativiert – es ist anscheinend eine Krankheit nicht zum Tode. Auch die zweite Strophe enthält ambivalente Tonlagen: In der scheinbar ausweglosen Lage ist nicht etwa die Rede von der „Gattin“ oder „Frau“ des Kranken, sondern, in anheimelnder Volkstümlichkeit, von dem untröstlichen „Lieb Weibel“ – wodurch mit einem Mal die Situation positiv emotionalisiert wird. Der Trost kommt allerdings in Gestalt des „Freund Hain“ genannten Todes zu ihr, und die lächelnd angekündigte Hilfe soll in einer tödlichen Umarmung des Kranken bestehen. Die Verweigerung dieser Art von Trost übernimmt der Kranke selber: Er segnet den „gute[n] Hain“ wegen seiner Freundlichkeit, aber er bittet ihn nichtsdestoweniger vorüberzugehen – wobei er signifikanterweise  die Erlaubnis einer höheren Instanz ins Spiel bringt: „darfst du vorüber“. Als diese Instanz – und bei dem evangelischen Christen Claudius dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass er hier den Gott der Bibel meint – dann tatsächlich das „Gebet“ des Kranken erhört, verabschiedet sich der Tod „bis auf Wiedersehen“ und verschwindet vorerst.

Die damit eingeleitete Genesung bringt das lyrische Ich zu einem quasi selbstverständlichen Lob Gottes und zu einer genussvollen Wertschätzung seiner Schöpfung („schön, […] herrlich doch wie seine Himmel oben […] lustig drauf zu gehn“). Die nachdenklichen Töne der letzten Strophe entstehen durch die Erwähnung von potenzieller „Lebensmühe“ und durch die Aussicht auf die Unausweichlichkeit des Lebensendes, doch sie werden aufgefangen durch den Entschluss zur Freude malgré tout und durch die Hoffnung auf ein Lächeln des Todes bei seiner Wiederkehr.

Damit bewegen sich die Berichte, Gespräche und Gefühle des Gedichtes strukturell innerhalb einer mehrfachen Polarität. Den negativen Kräften, dem physischen Schmerz der Krankheit,  der Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen (Str. 1 und 2) und der bedrohlichen Gegenwart des Todes („bist bange“ [Str. 5]) stehen verschiedene positive Kräfte gegenüber: der sub specie mortis intensivierte Genuss der diesseitigen, geschöpflichen Welt mit ihrer ‚Herrlichkeit‘, ‚Lustigkeit‘ und ‚Freude‘ (Str. 6 und 7), die Hoffnung auf das Ausruhen vom Leid und auf den Himmel (Str. 3 und 6) und die herzliche, ja liebevolle Atmosphäre des lächelnden Gespräches mit „Freund Hain“ (Str. 3-5). Die Verbindung zwischen den Polen ist gelungen.

Der Tod als gleichermaßen negative und positive Gestalt taucht übrigens bereits am Anfang des ersten Teils von Asmus omnia sua secum portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen auf. Das dortige Frontispiz „Freund Hain“ hatte Claudius bei einem Kupferstecher in Auftrag gegeben; es sollte „der gewöhnliche Knochenmann“ mit der Sense sein.[2] Er bekennt in der „Dedikation“, dass es ihm beim Anblick des Todes (dem er diese Textsammlung widmet), „jedesmal kalt übern Rücken“ läuft. Auf der anderen Seite will der Dichter glauben, „daß Sie ‘n  g u t e r Mann sind wenn man Sie genug kennt; und doch ist’s mir, als hätt ich eine Art Heimweh und Mut zu dir, du alter Ruprecht Pförtner! daß du auch einmal kommen wirst, meinen S c h m a c h t r i e m e n   a u f z u l ö s e n, und mich auf beßre Zeiten sicher an Ort und Stelle zur Ruhe hinzulegen“ (S. 11).

Der joviale Ton dieser kleinen metaphysischen Konversation, den man auch in „Nach der Krankheit“ spürt, offenbart ein Alleinstellungsmerkmal Claudius‘ – jedenfalls wenn man ihn mit seinen einflussreichen zeitgenössischen Dichterkollegen jenseits des Ärmelkanals vergleicht. Die düsteren Friedhofsmeditationen,  welche die Vertreter der englischen Graveyard School ablieferten, verharrten fast durchgehend in einer melancholischen Fixierung auf den Tod. Aber ganz anders als zum Beispiel Thomas Gray in seiner „Elegy in a Country Churchyard“ (1751) legt Claudius eine ironische Distanz zu sich selbst an den Tag, und aus dem Faszinosum Tod wird ein beinahe humorvolles Faktotum, dem der letzte Schrecken genommen ist, weil es selbst sich als nur weisungsgebunden erweist.

Was bleibt für heutige Leser an Einsicht? Zum einen, dass Claudius selbst in der positiven Erfahrung der Heilung nicht die Realität des Sterbens ausblendet: Freund Hain wird wiederkommen. Der scheinbar grenzenlose Optimismus der Medizin- und Pharmatechnologie des 21. Jahrhunderts mag den ultimativen Sieg über die Vergänglichkeit prognostizieren und damit unser aller Sehnsüchte nach einem langen, leidensfreien Leben bedienen – der Wandsbecker Bote ist realistisch genug, selbst in der Freude über die Gesundung den Blick nach vorn, auf das am Ende dann doch noch zu erwartende Sterben zu richten. In einer Meditation über den Prediger Salomo sprach er einmal vom Tod als von einem guten Moralprofessor, und dass es ein großer Gewinn sei, „alles was man tut wie vor seinem Katheder und unter seinen Augen zu tun“. Vor allem streift der Tod „den Dingen dieser Welt ihre Regenbogenhaut ab, und schließt das Auge zu Tränen und das Herz zur Nüchternheit auf!“ (S. 242)

Eine solche sowohl Lebensfreude als auch Todesangst und Trauer ernst nehmende Nüchternheit nimmt den Schopenhauerschen Aphorismus vorweg: „Meistens belehrt uns erst der Verlust über den Wert der Dinge.“ Wer schon einmal Freund Hain am Ärmel gestreift hat, weiß die Schönheiten der Welt, den Wert und die Würde jedes Augenblicks und die Kostbarkeit jedes Atemzugs ganz anders zu schätzen als vorher. Für Claudius bleibt allerdings der irdische Daseinsmoment nicht die einzige Wirklichkeit, und er muss deshalb auch nicht atemlos vollgepackt werden (wie es der instant gratification-Hedonismus moderner Konsumgesellschaften nahelegt). Sein wiederholter Entschluss „will mich freun“ ist eingebunden in ein Welt- und Menschenbild, das Lebensmühe und Endlichkeit genauso einschließt wie die Hoffnung auf Auferstehung und Ewigkeit. Und dieses doppelte Bewusstsein kann nach Claudius die endliche Anzahl von Lebensaugenblicken eines Menschen mit unendlicher Bedeutung füllen.

[1] Zitiert nach Matthias Claudius, Sämtliche Werke, 5. überarbeitete Aufl. München: Winkler 1984, S. 162. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[2] Jael Dörfer, „Sanfter Greis statt Knochenmann: Zu Johann Gottlieb Münchs literarischem Totentanz Freund Heins Wanderungen und seiner Claudius-Rezeption“, Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 17 (2008), S. 23-35; 24-26.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz