Mensch, Umwelt und Natur im Industriezeitalter

Franz-Josef Brüggemeier erzählt die wechselvolle Geschichte einer Emanzipation des Menschen von den „Schranken der Natur“

Von Philipp NiemsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Niems

„Wenn eine Schranke überwunden ist, wird die nächste sichtbar und es warten neue Herausforderungen – aber auch neue Möglichkeiten“, konstatiert Franz-Josef Brüggemeier, Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, in der Einleitung seiner Monographie, mit der er ein engagiertes Werk über Mensch, Natur und Umwelt im Industriezeitalter vorlegt.

Brüggemeier geht der Frage nach, inwiefern sich der Mensch von den Schranken der Natur emanzipiert habe – und inwieweit systematische Experimente und die damit einhergehende Erweiterung menschlicher und gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten darauf Einfluss genommen haben. Er beleuchtet vorrangig Deutschland und beginnt seine Darstellung um 1800 mit der vorindustriellen Zeit, voranschreitend bis heute.

In dreizehn Kapiteln mit zahlreichen thematischen Unterkapiteln beschreibt er chronologisch, jedoch innerhalb der jeweiligen einzelnen Epochen aspektorientiert, das Zusammenwirken von Mensch und Natur. Dazu gehören beispielsweise die Entwicklung von Bevölkerung und Landwirtschaft und das zunehmende Bewusstsein der mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Umweltbelastung. Brüggemeier zeichnet das Bild einer organischen Gesellschaft vor 1800, deren – nicht nur landwirtschaftlicher – Erfolg in direkter Abhängigkeit von der Natur steht. Um 1800 setzt er den fundamentalen „Umbruch“ an: Durch die Intensivierung der Landwirtschaft und den Einsatz von Düngern verbessert sich die Versorgungslage. Als entscheidende Umbruchsursache – und gewissermaßen als maßgebliche Zäsur zwischen einer organischen und der industrialisierten Gesellschaft – wird der Ausbau des Eisenbahnnetzes angeführt, der die menschliche Vorstellung von Raum und Zeit fundamental verändert. Zeitgleich entsteht mit der Chemie ein zukunftsweisender Industriezweig, der neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet und zugleich erstmals und zwangsläufig ein Umweltbewusstsein entstehen lässt. So wurden diese industriellen Entwicklungen einerseits durch den enormen Fortschritt als positiv, andererseits aufgrund der hohen Umweltbelastungen als negativ empfunden – beispielsweise werden schon vor 1850 die ersten Gruppierungen zum Schutz der Natur gebildet.

Des Weiteren veranschaulicht Brüggemeier das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Natur vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges – von der Unterbindung der Lebensmittelzufuhr durch die Blockaden der Alliierten über die im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen bis hin zur Ruhrgebietsbesetzung 1923 und den daraus resultierenden Protesten. Ihm gelingt es dadurch eine Brücke zwischen dem Menschen in seiner gesellschaftlichen und politischen Situation und den Folgen für die Umwelt zu schlagen. Der Verzicht auf einen Ausbau der Industrie – 1923 resultierend aus den Protesten innerhalb des Ruhrgebiets – zeige anhand der drastischen Senkung des Emissionsausstoßes exemplarisch den Zusammenhang zwischen Natur und Mensch.

Mit dem Erstarken der Nazi-Diktatur scheint das Thema zunächst vermehrt in den Fokus zu rücken: Im Bereich Naturschutz gibt es – begünstigt durch die nationalsozialistische Ideologie und ihre Propagandamaschinerie – umfassende gesetzliche Neuregelungen. Diese geraten jedoch rasch wieder ins Hintertreffen, müssen sie doch militärischem sowie politischem Wahnsinn weichen. Ende des Zweiten Weltkrieges wird Naturschutz zur Nebensache – Armut und Hunger der Menschen rücken in den Vordergrund.

Mit dem Zeitalter des Massenkonsums entwickelt sich auch eine neue Energieform: die Atomenergie. Die Zeitgenossen erhoffen sich von diesem „unerschöpflichen Energieträger“, dass er „die Demokratie im Inneren und den Frieden zwischen den Völkern festig[t].“ 1970 setzt eine neue „Wende“ mit den Umweltbewegungen ein; aus ihr gehen Greenpeace, die Grünen und viele andere Institutionen und Vereine hervor. Diese Entwicklungen gelten jedoch nicht für die DDR, da dort von Anfang an durch die bestehenden Staatsorgane die Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung und die Gründung derartiger Verbände unterbunden werden. Abschließend beurteilt Brüggemeier die Entwicklung der erneuerbaren Energien als zukunftsträchtig und verweist zugleich auf die Vorreiterrolle Deutschlands auf diesem Feld.

Der Verfasser stützt seine Darstellung auf reichlich Literatur und verwendet zur Veranschaulichung der historischen Entwicklung zahlreiche Tabellen und Graphiken. Die Anordnung des sehr komplexen und breit gefächerten Inhalts aus den Bereichen der Biologie, Chemie, Technik, Sozialwissenschaften und Wirtschaft in viele kurze Kapitel erleichtert dem Leser den Überblick. Brüggemeiers Monographie führt aus historischer Sicht exzellent in die Thematik der deutschen Umweltgeschichte ein und vergisst dabei nicht, das Besprochene kritisch zu hinterfragen und aufzuzeigen, wo noch Forschungs- und Handlungsbedarf besteht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen