Memoiren eines Augenmenschen

Michael Ballhaus schreibt mit „Bilder im Kopf“ seine Autobiographie

Von Philipp SchmerheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Schmerheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der seltsamsten Paradoxien des Kinos ist es, dass wir Zuschauer im Kinosaal oder im Heimkino einen Film als organische Einheit wahrnehmen, die Augen und Ohren (und indirekt auch unsere anderen Sinne) anspricht, währenddessen der Herstellungsprozess eines Films auf einer rigorosen Arbeitsteilung zwischen Kameraleuten auf der einen sowie Tontechnikern und Komponisten auf der anderen Seite beruht, die das muntere Treiben der Schauspieler auf den Filmsets wahlweise aufnehmen oder ergänzen. Erst im Schneideraum wird dieses Stückwerk von Regisseur und editor wieder zu einer Gesamtheit zusammengefügt. Die von Johann Wolfgang von Goethe bis Thomas Mann immer wieder bemühte Unterscheidung zwischen „Augenmenschen“ und „Ohrenmenschen“ liegt da nahe.

Einer der wichtigsten Augenmenschen hinter den Kulissen des deutschen und US-amerikanischen Kinos des späten 20. Jahrhunderts ist der director of photography Michael Ballhaus, der am 5. August 2015 seinen 80. Geburtstag feierte. Seine beeindruckende Karriere verdankt Ballhaus einer ganz eigenen Mischung aus handwerklicher Meisterschaft und Sinn für das Kino als Kunstform. Die nach ihm benannte Ballhaus-Kamera, eine in 360 Grad um das Filmgeschehen kreisende Aufnahmeweise, die seiner Vorliebe für organische, fließende und kreisende Kamerafahrten entspringt, hat ihm Eingang in den Kanon der Filmwissenschaft verschafft.

Das ist wenig überraschend, wenn man sich ansieht, mit wem der Sprössling einer Schauspielerfamilie in seinem Leben zusammengearbeitet hat: Mit Rainer Werner Fassbinder, dem großen Wahnsinnigen des deutschen Kinos, hat er 16 Filme durchlitten, siebenmal stand er gemeinsam mit Martin Scorsese hinter der Kamera, und auch der große Feingeist des New Hollywood, Mike Nichols, hat für vier Filme auf ihn gesetzt. Weitere illustre Namen wie Francis Ford Coppola, Steve Kloves, Wolfgang Petersen oder Robert Redford kommen noch hinzu. Wie prägend seine Arbeit ist, zeigt sich auch an einer Auswahl der Filme, an denen er mitgearbeitet hat: Good Fellas, Bram Stoker’s Dracula, The Fabulous Baker Boys, The Colour of Money, Quiz Show, Gangs of New York, Air Force One und The Departed auf der US-Seite,  Der Zauberberg, Die Ehe der Maria Braun, Tod eines Handlungsreisenden oder Die bitteren Tränen der Petra von Kant auf der deutschen Seite. Damit ist Ballhaus eine der zentralen Hintergrundfiguren für zwei der wichtigsten Abschnitte der Filmgeschichte, dem Neuen Deutschen Film und der Spätphase des New Hollywood Cinema, das im Laufe der 1980er-Jahre zunehmend Teil des Mainstream wurde. 

Liest man Ballhaus’ im Mai 2015 als Paperback-Ausgabe erschienene Autobiographie Bilder im Kopf, die er zusammen mit dem Filmjournalisten Claudius Seidl geschrieben hat, ahnt man, warum so viele Hollywood-Größen so gerne mit Ballhaus zusammengearbeitet haben. Selbst aus einer Künstlerfamilie stammend, kombinierte er solide handwerkliche Fähigkeiten mit einem Gespür für die künstlerischen Aspekte der Kamera-Arbeit und der Fähigkeit, die Visionen seiner Regisseure adäquat umzusetzen, egal ob es sich um eine chronisch unterfinanzierte Independent-Produktion oder einen Big-Budget-Hollywoodblockbuster mit ganz eigenen logistischen Herausforderungen handelte. Hier kam Ballhaus offensichtlich seine jahrelange Erfahrung als Kameramann beim deutschen Fernsehen zu Hilfe. Hinzu kommt natürlich der Charme, mit Rainer Werner Fassbinders Kameramann zusammenzuarbeiten, zumal niemand 16 Filmproduktionen mit einem der unberechenbarsten Regisseure der Filmgeschichte ohne ein stählernes Nervenkostüm übersteht – ein nicht zu unterschätzendes Faustpfand in einer notorisch neurotischen und überhitzten Branche.

Bilder im Kopf bietet einen wunderbaren, elegant geschriebenen Einstieg in Leben und Werk von Michael Ballhaus: In einem ruhigen, fast nonchalanten Tonfall lässt er die wichtigsten Filme seiner Karriere Revue passieren, und selbstverständlich hat er viele Anekdoten parat – jede von ihnen verrät aber etwas über den jeweiligen Film, über die Arbeitsweise des jeweiligen Regisseurs oder über die Filmbranche. Und so sehr diese Autobiographie ein Rückblick auf die Filme ist, die Ballhaus’ professionelles Leben bestimmten, so sehr wird deutlich, dass das Fundament dieser erstaunlichen Karriere seine Familie ist: Mit seiner Frau Helga war er bis zu ihrem plötzlichen Tod 2006 46 Jahre verheiratet, und seine zwei Söhne Florian und Sebastian arbeiteten als second unit-Regisseure oder in anderen Bereichen regelmäßig mit ihrem Vater zusammen.

Deutlich wird die Dreiteilung in Ballhaus’ Karriere: Erst beim Fernsehen, dann als Kameramann des Neuen Deutschen Films und schließlich als kongenialer Partner im Hintergrund von Scorsese und Co. In den 1960er-Jahren etabliert sich Ballhaus als fest angestellter Fernseh-Kameramann beim Südwestfunk, wagt 1968 aber den Sprung aus dem beschaulichen Baden-Baden nach Berlin als Dozent an die 1966 gegründete Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Parallel dazu beginnt Ballhaus, auch Spielfilme zu drehen und landet darüber, vermittelt durch den Schauspieler-Regisseur Uli Lommel, schnell bei Fassbinder, mit dem er bis 1979 fast ausschließlich zusammenarbeitet. Mit Fassbinder kommt es schließlich zum Bruch, zu groß ist der Graben zwischen dem seit seinem 20. Lebensjahr glücklich verheirateten Familienvater und dem egomanischen Drogenjunkie Fassbinder.

Übergangsweise arbeitet Ballhaus mit RegisseurInnen wie Margarethe von Trotta oder Peter Stein zusammen, bevor die von John Sayles initiierte US-Independent-Produktion Baby It’s You im Jahre 1983 den Beginn seiner großen dritten Phase markiert, in der Ballhaus sich zuerst in der New Yorker Filmszene und vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Martin Scorsese, mit Filmen wie After Hours, The Colour of Money und Good Fellas, einen Namen macht und auch seinen Anteil daran hat, dass aus dem brillanten Independent-Regisseur Scorsese der Kinogigant wird, als den man ihn heute kennt. In diese Phase fällt auch der Kern seiner Arbeit mit Steve Kloves, Mike Nichols, oder Robert Redford. Ab den 1990er-Jahren, und auch das ist Teil dieser dritten Phase, spannt ihn zunehmend das Westküsten-Hollywood ein, für nicht immer künstlerisch anspruchsvolle Blockbuster wie Air Force One, Outbreak oder Wild Wild West.

So bescheiden Ballhaus im Buch erscheint, so selbstbewusst vertritt er seinen Beitrag zu den einzelnen Filmen: Als väterlicher Freund setzt er der Neigung des erratischen Fassbinder zum absoluten Chaos eine gewisse Gemütsruhe und Disziplin entgegen; als erfahrener Fernsehkameramann ist er in der Lage, Scorseses Comeback-Film After Hours innerhalb eines sehr engen Zeitfensters zu drehen; der damalige Regie-Neuling Kloves gibt Ballhaus bei The Fabulous Baker Boys faktisch alle Freiheiten bei der Umsetzung seiner Vorstellungen. Das alles geschieht jedoch nie gegen den Willen der Regisseure: So aktiv sich Ballhaus in die Gestaltung der Filme auch einbringt, so überlässt er im Zweifelsfall doch dem Regisseur die Entscheidungen.

Auch weil sich seine Sehkraft aufgrund eines Glaukoms kontinuierlich verschlechtert, ist The Departed 2005 schließlich sein letzter US-Film. Nur passend ist es da, dass Martin Scorsese mit diesem Film endlich den ersehnten Regie-Oscar erringt und damit auch die Arbeit seines kongenialen Partners hinter dem Kameraobjektiv offiziell veredelt. Ballhaus selbst war immerhin dreimal für einen Kamera-Oscar nominiert – der eigentlich wichtige Preis in Ballhaus’ Karriere ist allerdings ohnehin der ihm 2006 verliehene „International Achievement Award“ der American Society of Cinematographers (ASC), die prestigeträchtigste Auszeichnung seines Metiers.

Ballhaus tritt somit bewusst auf seinem Höhepunkt ab – dennoch hat es eine gewisse Tragik, dass der Augenmensch Ballhaus fortan mit dem zunehmenden Verlust seines Augenlichts zurechtkommen muss. (In einem Interview mit der „ZEIT“ hat Ballhaus ausführlich über sein Leben mit der Augenerkrankung geredet.)

Kurz nach The Departed muss Ballhaus einen viel tragischeren Schicksalsschlag verkraften: den plötzlichen Tod seiner Frau. Sein Pendlerleben zwischen Berlin, New York und Los Angeles bricht Ballhaus nun ab; er kehrt in seine Heimatstadt nach Deutschland zurück, um sich ökologischen Projekten und der Förderung von Nachwuchsfilmemachern zu widmen. In Berlin lernt er auch seine zweite Frau kennen, die durch den Film Wüstenblume bekannt gewordene Regisseurin Sherry Hormann, mit der er seinem beeindruckenden Œuvre schließlich doch noch einen sehr gelungenen Abschluss hinzufügt: das Natascha-Kampus-Drama 3096 Tage.

All diese Stationen lässt Bilder im Kopf Revue passieren, wobei Ballhaus/Seidl stets die Balance zwischen Lebensrückschau, Einblicken in die Arbeitsweisen der Filmbranche und unterhaltsamen Anekdoten halten. Beim Lesen entsteht allerdings der Wunsch, noch tiefer einzusteigen in diese faszinierende Welt des Kinos Ballhaus’scher Prägung. Wer das will, dem sei das von Fabienne Liptay herausgegebene Sonderheft der wissenschaftlichen Zeitschrift „Film-Konzepte“ zu seiner Filmarbeit empfohlen (2013), oder der sehr kluge Interviewband Das fliegende Auge (2011), in dem Ballhaus und Tom Tykwer mit einem unfehlbaren Gespür für die Details, aus der die Magie des Kinos entspringt, über die Filme in Ballhaus’ Karriere reden. 2008 hat der Bayrische Rundfunk zudem den Dokumentarfilm Michael Ballhaus – Eine Reise durch mein Leben produziert.

Titelbild

Michael Ballhaus: Bilder im Kopf. Die Geschichte meines Lebens.
In Zusammenarbeit mit Claudius Seidl.
btb Verlag, München 2015.
320 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783442749669

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