„Ich habe großes Misstrauen gegenüber allem Moralischen“

Interview mit Robert Schindel über das nichtjüdisch-jüdische Verhältnis, Vergangenheitsbewältigung und Kunst

Von Anna WronaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Wrona und Robert SchindelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Schindel

Anna Wrona: 1992 haben Sie in einem Interview für „Die Welt“ gesagt: „Ich bin ein Jude und weiß, dass es keine Assimilation gibt. Ein Wir gibt es nicht, nur ich und Ihr. Ich bin der andere der anderen.“[1]

In Ihrem Essay „Schweigend ins Gespräch vertieft“ haben Sie 2004 hingegen geschrieben: „Das nichtjüdisch – jüdische Verhältnis hierorts war stets ein Täuschungsverhältnis, eine einseitige Gemeinheit, eine Periferie, ein Skandal, ein Verbrechen, niemals symbiotisch, nie freundschaftlich, zu keiner Zeit egalitär, es war miserabel.“[2]

Wie würden sie denn das nichtjüdisch-jüdische Verhältnis heutzutage bezeichnen? Wenn es keine Assimilation gibt, dann was? Könnte man dieses als hoffnungsvoll bezeichnen? Was hat sich geändert? Sehen Sie eine positive Entwicklung?

Robert Schindel: Zur ersten Frage: Ich glaube, dass sich das nichtjüdisch-jüdische Verhältnis etwas verbessert hat, was auch mit dem Aussterben der Generation zusammenhängt und dem Großwerden der Kinder. Auch ein bisschen mit der Auseinandersetzung der Sohn- und Tochter-Generation, also der zweiten Generation, mit ihren Eltern. Denn auch wenn sie nicht viel persönlich da mitgemacht haben, es ist sozusagen zum Thema geworden. Auch in Österreich sind halt Menschen mit Nazieltern früher oder später damit konfrontiert worden. Daher gibt es da einen Über-Ich-Transfer, also die Enkelgeneration, die schon ein bisschen weiter weg von dieser ganzen Sache ist und auch weil diese erste Generation oder zweite Generation, ja, eine Pufferungsfunktion hat. Daher besteht die Möglichkeit eines besseren nichtjüdisch-jüdischen Verhältnisses, das weniger verkracht ist, in der Enkelgeneration. Das kann natürlich zu Rückfällen führen und man soll sich nicht sicher fühlen, aber es gibt eine gute Chance, dass in der Enkelgeneration einiges doch weiter geht.

A. W.: Die Nachgeborenen kamen zum Punkt, wo sie die Frage stellten: „Vati, was hast Du im Krieg gemacht?“ Man wollte das Schweigen brechen. Das war eine gute Möglichkeit für einen Dialog zwischen Juden und Nichtjuden.

Glauben Sie, dass diese Chance ausgenutzt wurde? Ist es gelungen ein bisschen „näher“ zueinander zu kommen? Von beiden Seiten ausgehend?

R. S.: Hmm, das kann ich gar nicht so sagen. Insgesamt, generationsmäßig, ist es nicht vollständig gelungen. Das ist aber vereinzelt, in einzelnen Gesprächen, in einzelnen Kontakten ganz gut gelungen. Ich glaube, dass sich die zweite Generation, ja, mit ihren Generationskollegen ganz gut durchgedruckt hat … Also das hat viel besser funktioniert, als in meiner Generation, voller Krampf und Kämpfe eigentlich … Ja, also ich glaube, diese zweite Generation, also die 1965 Geborenen und drumherum, die haben ja vielleicht a bissl ein Problem mit dem geliebten Großvater, sozusagen. Das Problem dieser Generation ist, dass es gütige Großeltern gibt, die alt und milde geworden sind, aber diese Großeltern, die mal Nazis, die Naziverbrecher waren. Ja, also dann plötzlich hat sich enthüllt, was diese gütigen, liebenswürdigen Menschen getan haben und das ist ja noch ein bisschen schwieriger als für die Generation davor, in der es einen Generationskonflikt eh immer gab. Dann haben die ihre Väter gefragt „Was hast Du im Krieg gemacht?“, während der Enkelsprung in diesem Konflikt ja meistens mit einer Zuneigung versehen ist. Das wird ja natürlich dadurch gestört. Die Enkel haben sich eher schwerer getan als die zweite Generation.

A. W.: Für diese Generation (jüdische Seite) ist ihr Verhältnis zu den Eltern sehr wichtig – deren Vergangenheit  beeinflusst auch ihr Leben. Viele von ihnen wollen aber nicht durch die Shoah definiert werden oder sich selbst dadurch definieren.

Meinen Sie, eine Möglichkeit und Voraussetzung für die ersehnte „Normalität“ bestünde darin, dass man die Vergangenheit vergisst, sie zu überwinden versucht? Ist das überhaupt ein bewusster Prozess?

R. S.: Na, das nicht, das glaube ich nicht. Das kann man ja nicht vergessen, das wird auch den Enkeln nicht gelingen. Ich glaube aber, als Angehörige dieser Gruppe – als Kulturjüdischkeit, wie das schon ja einmal war … Wenn es nicht durch die Religion geht oder so was, ist diese Chance für die Enkelgeneration viel größer. Sie kennen sich schon. Eigentlich wollten wir uns schon nicht über die Shoah definieren. Wir waren eigentlich keine Juden, aber Hitler hat uns wieder zu Juden gemacht, die Assimilierten. Das ist sowohl für die Assimilierten als auch für – Ja, was ist das Wort: Akkulturation! – ja, als auch für die Akkulturierten schon schwierig gewesen, sich überhaupt, sozusagen als Juden zurechtzufinden. Denn sie haben sich gar nicht als solche empfunden. Und umso stärker ist das für die Enkelgeneration, wenn sie nicht in jüdischen Traditionen aufgewachsen sind und sich vielleicht leichter lösen von der jüdischen Herkunft. Ich habe einen jüdischen Großvater, jüdische Großeltern, aber ich bin Deutscher und so weiter. Merkwürdigerweise, und das ist ein Paradoxon, machen es die Enkel umgekehrt. Die Enkelgeneration ist viel bewusster jüdisch, allerdings aus einer Selbstentkleidung heraus, und nicht aus der Shoah heraus. Es gibt ja da die jüdischen Salons in Wien und da sind alle um 1960, 65, 70 geboren. Sie alle fühlen sich ganz intensiv jüdisch, und da haben sie eine gewisse Identifikation mit dem Jüdischen Staat. Sie fühlen sich aber eher als Österreicher und Österreicherinnen. Sie haben eine neue, für sich eine neue Identität mit der Jüdischkeit entdeckt. Beziehungsweise sind auch dabei solche, die die Shoah bis zu einem gewissen Grad, zumindest bestimmte Töne, hineinweben in ihre Identität. Das ist natürlich unvermeidlich, dazu ist es noch nicht lang genug.

A. W.: Also das wäre dann ja ein bewusster Prozess, dass man sich entweder zu seinem Judentum äußert oder auch nicht. Aber sehr oft ist es ja der Fall, dass das von außen kommt. Dass die anderen die anderen zu Juden machen.

R. S.: Ja, sehr oft ist das eine Beschreibung von außen. Also für all die nicht religiösen Juden ist das eine Mischung. Also bei mir hat es auch mit einer Beschreibung von außen begonnen. Also das gilt für alle, die nicht aus der jüdischen Religion herauskommen, die nicht religiös sind. Sie brauchen das nicht. Die brauchen sich auch nicht die Frage zu stellen, was ein Jude ist. Das ist Zeitverschwendung für sie, die lachen ja darüber. Es ist immer so bei den Assimilierten, den Akkulturierten, die nicht religiös sind und ihren Nachkommen. Sie müssen sich die Frage neu stellen und das ist ja ein bewusster Prozess. [Gedankenpause]

Wie übrigens das jetzt in der Enkelgeneration genau ist, müsste man einen Enkel, eine Enkelin danach fragen. Denn ich selber weiß das leider nicht.

A. W.: Die Nachwirkung der Shoah bei der zweiten Generation ist also präsent. Sehr oft prägt sie ihr ganzes Leben.

Auf eine andere Weise ist das auch der Fall bei der dritten Generation. Wie wird sich das weiter entwickeln? Je weiter weg von der Vergangenheit, je weniger Kontakt mit den Überlebenden, mit den Zeugen und Teilnehmern dieser Geschehnisse, desto schwächer wird die Shoah eine Auswirkung auf sie haben? Eine leichtere Last für sie zu tragen sein?

R. S.: Das kann ich Ihnen leider nicht so sicher sagen. [Gedankenpause] Ich weiß es nicht. Ummantelt, durchdrungen, durchsprenkelt ist die Shoah durch den Judenhass. Der Judenhass ist natürlich viel älter als die Shoah und die Shoah ist beendet, aber der Judenhass nicht. Also eine Frage des Judenhasses wird es auch in der dritten Generation in dieser Breite betreffen. Wenn man dies wissenschaftlich untersucht: Er nimmt eher zu, als ab. Wenn er auch zum Teil verschoben ist, zum Teil auch als ein Fremdenhass bekannt ist, oder sich aufteilt auf mehrere Gruppen. Aber sozusagen die Grundstruktur und das Grundbefinden eines Judenhasses liegt in unserer Zeit durchaus konstant zwischen 15 und 20 Prozent, und das ist viel. Und damit wird sich die dritte, vierte Generation auseinandersetzen müssen. Ich glaube, dass allein die Auswirkung der Shoah auf das Verhältnis von Juden und Nichtjuden wenigstens ein bisschen nachgeben wird, aber es gibt ja Belege anderer Art. Eine große Katastrophe der Deutschen war der Dreißigjährige Krieg, von dem sich die Deutschen über 200 Jahre nicht erholt haben. Sowohl gesamtstaatlich, als auch individuell. Da hat dieser konfessionelle Konflikt lange nachgewirkt. Und weiterer Hass hat sich verbreitet. Daher  glaube ich, die dritte Generation wird sich schon von einer anderen Art und mit ihren eigenen generationsspezifischen Mitteln mit diesem Judenhass auseinandersetzen müssen.

A. W.: Der Grund, warum ich mich für Polen und Österreich entschieden habe, ist ihr Opferstatus, der die beiden Länder verbindet …

R. S.: [unterbricht] Ja, also der Judenhass.

A. W.: Ja, der Judenhass. Hat sich Österreich wirklich von der reinen Opferrolle verabschiedet? Sehen sich die Österreicher bei Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges auch auf der Bühne oder immer noch vor allem als Zuschauer?

Ist das ein wichtiger „Störfaktor“ für das nichtjüdisch-jüdische Verhältnis?

R. S.: Ja, wenn es um die Parallele geht, dann glaube ich, dass Österreicher immer mehr, von Generation zu Generation, immer weitgehender eine Mittäterschaft akzeptieren und zugeben. Das müsste man eher soziologisch untersuchen und eigentlich noch ein bisschen abwarten, aber von meinem Gefühl her oder von meiner Beobachtung her wird das noch bestimmt eine Weile dauern. Es gibt aber auch deutlich Unterschiede zwischen dem Opferstatus in Polen und Österreich. Ich würde also gar nicht parallelisieren. Denn Polen war ein wirkliches Opfer des Nationalsozialismus. Da ist ein Fünftel der polnischen Bevölkerung umgebracht worden. Ihr seid ein echtes Opfer, wenn auch natürlich bestimmte Teile der polnischen Bevölkerung einträchtig den Hass auf die Juden mit den Nazis geteilt haben. Auch den Hass auf die Russen, den habt ihr aber auch schon vorher gehabt [lacht]. Da gibt es also doch deutliche Unterschiede: Österreich ist sozusagen nur ein Opfer des Nationalsozialismus, aber in einem rein staatsrechtlichen Sinne. Auch nach dem Krieg, in der Nachkriegspolitik, sie mussten keine Reparationen zahlen. Faktisch aber war das eine von der österreichischen Bevölkerung in einem großen Ausmaß gebilligte Eintrittsnahme. Juristisch gesehen ist die Sache dann anders, man kann sie anders diskutieren, die Rehabilitation spielt dabei auch eine Rolle, aber volksgeschichtlich und historisch kann man von einer wirklichen Besetzung Österreichs durch Deutschland, gegen den Widerstand Österreichs, nicht sprechen.

A. W.: Man muss aber doch sagen, dass dieser Opfermythos, der so präsent in der österreichischen Gesellschaft war und noch einigermaßen ist, auch einen starken Einfluss auf die gegenwärtigen Beziehungen sowie die Einstellung den Juden gegenüber hat.

R. S.: Ja, natürlich. Sie sehen sich schon als Opfer. Es gibt ja auch Verneinungsdebatten, in denen sie sagen: Ja Juden, wir waren die Opfer. Ihr seid in Amerika am Strand gesessen und habt euch den Bauch bescheinen lassen und uns sind hier die Bomben auf den Kopf gefallen. Also die damaligen Österreicher und auch danach die erste Generation, die haben sich durchaus, die haben innerhalb von zwei Jahren vergessen, dass sie dem Hitler zugejubelt haben. Sie haben dies zum Teil vielleicht auch bereut, dass sie sich dann in den Keller gesessen haben. Und wir sehen dann später, wie die späteren Erlebnisse die früheren überlagern, und auch die späteren Gefühle überlagern die früheren.

A. W.: Noch weiter zu Österreich. Sie leben hier, tragen seine Nationalität. Das ist das Land ihrer Muttersprache.

Wie ist Ihre Einstellung zu diesem Österreich heutzutage? Ist Ihre Bindung an ihr Heimatland stark? Haben Sie starke patriotische Gefühle?

R. S.:  Na ja, das ist halt ein Unterschied. Ich bin vor allem Wiener. Und da spüre ich ja doch große Bindungen und eine Zuneigung und auch einen Kampf und Auseinandersetzung. Das habe ich auch in meinen Texten oft thematisiert und Wien wird in meiner Kindheit zu meiner Heimat. Aber inzwischen, da ich älter bin und auch andere Teile Österreichs ganz gut kenne und mich auch länger dort aufhalte, habe ich schon ein gewisses „Zufrieden“ mit dem heutigen Österreich gemacht. Im Großen und Ganzen sind das schon andere Leute als damals. Und das merkt man schon. Vor allem bei den älteren Generationen auf dem Lande sind die Verbesserungen festzustellen. Also ich merke es daran, wenn ich auf dem Lande bin, so richtig, wenn ich in den Urlaub gehe und mich da länger aufhalte. Ich fühle mich da wohl und das war in den 60er-Jahren leider nicht so. Damals haben die Leute auf dem Lande noch nicht viel dazugelernt. Damals war man eher verborgen, es war da wirklich eng und unangenehm am Abend. Das hat sich total geändert und Österreich ist für mich ein sehr angenehmes Land zum Leben geworden. Man braucht sich ja nur in der Welt umzuschauen, das ist ja purer Luxus, was wir hier haben und die Bevölkerung weiß ja, dass es ihr nicht schlecht geht. Es gibt natürlich auch Ausländerfeindseligkeit, aber das hält sich im Rahmen, europäischen Rahmen mehr oder weniger.

A. W.: Sie sind nichtgläubig. Judentum ist für Sie eine Schicksalsgemeinschaft, nicht Glaubensgemeinschaft. Die Vernichtung schafft für Sie ein bewusstes Judentum. Das stiftet Ihre Identität.

Auf welche Art und Weise erfolgt bei Ihnen der „Zusammenschluss“ mit den ermordeten Vorfahren? Das Stichwort hier ist die Erinnerung, aber wie bekommen sie Zugang zu dem kulturhistorischen Gedächtnis, wie Sie es mal beschrieben haben?

R. S.: Ja, bei mir gibt es schon eine Mischung. Ich habe ja auch viel Identitätsstiftendes erfahren, durch das literarische Judentum vor der Shoah, durch Schnitzler und so weiter – und durch ja, durch eine bestimmte Familientradition.

A. W.: Ja, und wie sieht das in der Praxis bei Ihnen aus? Wo finden Sie eine Quelle dafür?

R. S.: In den vermehrten, oder damals vermehrten Auseinandersetzungen mit den Dingen, die passiert sind, mit dem jüdischen Wien. Schnitzler war schon früh, nicht ganz früh. Ganz früh war Schiller, aber dann später war Schnitzler ein Gott für mich. Ein literarischer Gott für mich. Und sein Buch Der Weg ins Freie war für mich so zusagen auch ein … Ein genaues Porträt dessen, was uns Juden in Wien immer wieder erwartet. Das ist zwar 1908 erschienen, glaube ich, aber es ist von einer bestürzenden Aktualität. Wie unterschiedlich es damals war als 180.000 Juden in Wien gelebt haben und jetzt sind es etwa 15.000. Und deswegen und dadurch „der Weg ins Freie“. Wo man hintreibt, wo man herumgeht, da begegnet man Juden. Und das gibt es nicht mehr. Ja, und wie war die Frage nochmal?

A. W.: Wie Sie es in der Praxis schaffen, den Zugang zum kulturhistorischen Gedächtnis zu haben.

R. S.: Ja, und dieses kulturhistorische Gedächtnis, dieses Bedürfnis einer Auseinandersetzung damit. Damit entsteht ein Äquivalent. Wenn es dieses nicht gegeben hätte, wären wir sozusagen nicht mit unseren Großeltern und Urgroßeltern noch in Kontakt gekommen. Als ob es nach dem Stille-Post-Prinzip sozusagen ohne Störung weitergegeben worden wäre. Das war natürlich nicht der Fall. Ich habe mich mit ihnen vereint, indem ich die Post vor der Shoah aufgenommen habe. Erzählungen, Biografien, auch die Biografien meiner eigenen Familie. So bin ich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahe gekommen und das war quasi ein Ersatz dafür, dass es dieses Loch gibt. So konnten ich und viele meiner Generation sie überbrücken.

A. W.: Und noch eine eher persönliche Frage, die Sie auch nicht beantworten müssen. War bei Ihnen der Glaube an Gott von Kindesbeinen an nicht vorhanden? Oder haben Sie das im Laufe der Erfahrungen, der Zeit für sich festgestellt?

R. S.: Nein nein nein, keinen. Das ist ja das, dass mir das Religiöse vollkommen entzogen worden ist. Meine Eltern waren schon nicht religiös und das kann man nicht also, man kann nicht im Nachhinein religiös werden. Man kann es nicht werden, wenn man es in seiner Kindheit  nicht war. Das ist ganz schwer. Ich glaube, ich kenne niemanden, der dann später religiös geworden ist. Es ist zwar bestimmt möglich, aber ich kann es mir für mich nicht vorstellen. Die Religion ist ja die mächtigste Kindheitsneurose, die man überhaupt hat. Oder die sich dann als eine Neurose feststellt. Ich glaube, man kann eine echte, eine authentische, eine tiefe Religiosität nicht haben, wenn dieses Element in der Kindheit dann da fehlt. Meiner Meinung nach kann das nicht geschehen.

A. W.: Das Thema Shoah ist immer mehr präsent seit einiger Zeit, stellt kein Tabu mehr dar – auch in der Literatur. Entscheidend dabei ist, „wie“ man darüber spricht oder schreibt.

Welche Aspekte, wenn es um dieses „Wie“ geht, halten Sie für wichtig? Was soll man auf jeden Fall vermeiden? Vor allem sind Sie Lyriker. Gelingt es Ihnen auf diesem Wege, das Unfassbare doch in Worte zu fassen?

R. S.: Ja ja, jeder macht das anders. Ich habe großes Misstrauen gegenüber allem Moralischen, gegen allen offen moralisch ausgesprochenen Kategorien, wie man damit umgehen soll. Ich verstehe natürlich, dass die Generation, die das erlebt hat, mit dem großen „niemals Vergessen“ einen Diskurs begonnen hat. Das verstehe ich auch. Für die ist das natürlich sehr wichtig, aber das hat auch einen Widerstand hervorgerufen: es wurde den Schülern und Kindern in der Schule alles genau beschrieben und die Lehrer und Lehrerinnen haben sie im Übermaß dann damit strapaziert. Es gibt eine Vermittlung, eine pädagogische Vermittlung, die immer problematisch ist. Am besten ist, habe ich die Erfahrung gemacht, immer noch die mündliche Überlieferung, wo es gelingt die Eltern und die Großeltern, die Freunde aus dieser Generation, zum Sprechen zu bringen und sich dadurch ein Bild darüber zu machen. Das funktioniert bei diesem Thema am besten. Und auch, deswegen stellen sich auch ständig relativ alte Juden und Jüdinnen zur Verfügung, sie treten als Zeitzeugen in der ganzen Welt auf. Und es gibt ja auch von Spielberg so eine Einrichtung, wo etwa hunderte Interviews gemacht wurden, die sich dann junge Schulleiter anhören. Das kommt mir noch am nähesten. Da kann man noch am besten eine Verbindung zwischen dem Davor und Danach herstellen. Durch die Erzählung, durch die individuelle und persönliche Erzählung. Viel weniger durch ein Kompendium an Tabus und Vorschriften, von Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden müssen und die aber auf die nächste Generation sozusagen heruntergebetet werden. Auch wie bei anderen Themen ist es zwiespältig, aber es bleibt nichts anderes übrig manchmal, man muss in der Schule dieses Wissen vermitteln und das kommt dann mehr auf die Pädagogen drauf an.

A. W.: Sie haben sich aber grundsätzlich für Lyrik entschieden.

R. S.: Ja, ich komme mehr von der Lyrik. Ich habe zwar immer parallel schon kurze Prosa geschrieben, auch in meiner Jugend. Es ist so: jemand, der aus der Prosa kommt, kann nie ein wirklicher Lyriker werden, denn man muss das auch in der Jugend machen. Ich glaube; mit der Lyrik muss man schon früher anfangen.

A. W.:  Wenn es um die Form, die Frage „wie“ geht, heutzutage hat man mit Reenactment-Konjukturen zu tun – einer Möglichkeit, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Vor kurzem hat man zum Beispiel die Befreiung eines Konzentrationslagers nachgespielt. Wie stehen Sie dazu?

Ist das dann aber nicht nur eine Art Kunst, eine Unterhaltung? Geht es dabei noch um die Ermordeten?

Im Epilog von Gebürtig heißt es: in der Gegenwart kann man Shoah nur noch verkitscht nachstellen oder als Spiel in Spiel. Wie ist Ihre Meinung dazu?

R. S.: Ja, es gibt ja Beispiele. Schindlers Liste ist für mich ein sehr gutes Beispiel, wie man so eine Sache künstlerisch verarbeiten könnte. Ich bin da einer ganz anderen Meinung als Imre Kertész, der das als besonders gegen die Ethik empfunden hat. Ich finde das nicht. Und bin dafür. Den italienischen Film Das Leben ist schön hat er besonders gut gefunden, bei mir ist es umgekehrt, ich habe den nicht so gut gefunden. Also, es gibt auf jeden Fall Verfahrensweisen, wie man mit der Shoah historisch umgehen kann. Es funktioniert jedoch niemals auf eine naturalistische Art und Weise. Es gab ja diese Holocaust-Serie und die ist gründlich misslungen, kitschig geworden. Einfach weil sie versucht hat, naturalistisch nachzuspielen. Und das geht ja so nicht. Das ist ja auch ein Thema beim Gebürtig-Epilog: die Simulation. Man muss zeigen, dass man simuliert, dass man eine Simulation macht, dann kann man auch etwas transportieren. Aber nur, wenn man das offen macht. Und aus diesem Grund kann ich ja auch ein Filmteam auftreten lassen, um das sozusagen noch zu verstärken. Und auch in dem Theaterstück Dunkelstein geht es dann um die Simulation.

 A. W.:  Ja, um jetzt eine abschließende Frage zu stellen, um das alles ein bisschen zusammenzufassen. Ist eine Normalität in diesen Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden möglich? Wie könnte es dann aussehen? Ihre Wünsche, Prognosen?

R. S.: Ja, also in den nächsten sieben Generationen nicht. Das glaube ich nicht. Ich habe schon über den Dreißigjährigen Krieg gesprochen, wie lange es gedauert hat. Und die Shoah unter dem jüdischen Volk war noch katastrophaler, auch vom Ausmaß, von der Kürze – also innerhalb von 7 Jahren ist das Vielfache dessen passiert, was im Dreißigjährigen Krieg, in 30 Jahren passiert ist. Also es ist noch viel dramatischer, ohne dass sie da eine Konkurrenz aufziehen.  So dass es noch lange dauert. Und man kann ja für eine Zeit nur einen Modus anwenden. Vor allem individuell geht das natürlich. Es gibt ja Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in der zweiten, in der dritten Generation, jede Menge, die auch ganz schön verlaufen, aber die natürlich, wenn es härter wird, wenn plötzlich dem Partner, der Partnerin die Judenfeindlichkeit vorgeworfen wird oder sich über Juden dumm geäußert wird, und Zionismus und was es da alles gibt. Also es wird noch sicherlich nach wie vor in mehreren Generationen eine heikle Angelegenheit werden. Auch weil sich das Problem auf die Diskussionen über den Staat Israel verschoben hat, wo sich da quasi die Antizionisten als neue Antisemiten kreieren können und die Debatte oder der Konflikt weitergeht. Also das ist ein Thema, das uns sicherlich noch einige Generationen beschäftigen wird. In meiner Lebenszeit wird es nicht gelöst.

A. W.: Und was bedeutet für Sie diese Normalität in diesem Kontext?

R. S.: Na ja, dass man die Juden nicht umbringt. Und dass man sie in den Ländern, in denen sie leben, gut und einträchtig leben lässt.

A. W.: Herzlichen Dank Herr Schindel.  

Dieses Interview wurde am 08.04.2014 in Wien geführt.

[1] Robert Schindel: Gebirtigs Bitterkeit. In: Die Welt vom 2.4.1992.

[2] Robert Schindel: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen, Frankfurt am Main 2004, S. 15f.