Über die Last des Holocaust und die Verantwortung für die Erinnerung

Ein Interview mit Magdalena Tulli

Von Anna WronaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Wrona und Magdalena TulliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Magdalena Tulli

Frage 1: Jüdische Renaissance in Polen

Anna Wrona: Heutzutage spricht man von einer „Renaissance der jüdischen Kultur“ in Polen. Es werden viele Zentren, Institutionen und Projekte ins Leben gerufen, die als Ziel einen Wiederaufbau des jüdischen Lebens und seine Bewahrung vor dem Vergessen haben. Andererseits hat man es hier mit einem Prozess der Assimilation zu tun. Welche Beobachtungen haben Sie bezüglich dieser zwei Richtungen? Welcher Prozess scheint im heutigen Polen zu dominieren?

Magdalena Tulli: Zum Thema der jüdischen Bewegung in Polen habe ich nicht so viele eigene Beobachtungen. Ich weiß, dass verschiedene Festivals organisiert werden, und dass man andererseits irgendwelche Vereine gründet, doch ich verfolge es nicht besonders.

Frage 2: Antisemitismus

A. W.: Der Antisemitismus – die Angst vor der Welt, wie Sie es in unserer Korrespondenz genannt haben – hat viele Formen und wirft einen Schatten auf die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Was genau ist diese Angst? Was ist ihre Quelle? Wie ist sie motiviert?

M. T.: Die Angst vor der Welt ist die ursprünglichste unserer Ängste. Ich habe keine eigene Theorie darüber, woher sie kommt. Mir scheint es, dass sich manche Psychoanalytiker bereits genug damit beschäftigt haben. Ich würde sagen, dass das alles aus der menschlichen Natur entsteht, aus den Spannungen, aus der Unsicherheit, jedoch hat die Angst vor dem Fremden ihren Ursprung in der Angst vor dem Eigenen.

Frage 3: Normalität

A. W.: Das kommunistische Polen war kein einfacher Lebensraum für Juden. Trotz der Veränderung des politischen Systems und vielen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Prozessen sind die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden immer noch nicht einfach. Glauben Sie, dass es eine Chance auf eine „Normalität“ in diesem Bereich gibt? Und wie würden Sie sich diese vorstellen? Welche Kriterien kämen dann in Frage?

M. T.: Normalität hinsichtlich der Identitätsfragen würde allen gut tun. Eine solche Normalität werden wir aber erst dann haben, wenn die Menschen in Polen aufhören, sich dazu berechtigt zu fühlen, über das fremde Gewissen und die fremde Identität zu verfügen. Wenn es um Italien geht, das für mich einen natürlichen Referenzpunkt darstellt, herrscht dort eine vollkommene Normalität in Fragen der Identität, also weiß ich, dass sie möglich ist.

Frage 4: Unruhen 1968 in Polen

A. W.: Die Ereignisse 1968 und das heftige „Kesseltreiben“ gegen „gefärbte Füchse“ haben eine letzte, so massive Emigrationswelle der jüdischen Bürger aus Polen verursacht. Sie waren damals 12 Jahre alt. Können Sie sich an etwas aus dieser Zeit erinnern? Hat sie einen Einfluss auf ihre Familie gehabt?

M. T.: Auf meine Familie – nein. Meine Familie hat die Verfolgungen 1968 nicht gespürt, obwohl sie nicht zu den „Anhängern des Systems“ gehörte. Man hat Juden verfolgt, aber auch politische Gegner. Vieles hing auch von der persönlichen Anständigkeit der Chefs ab. Jedoch am Institut der Philosophie und Soziologie PAN [Polnische Akademie der Wissenschaften], wo meine Mutter gearbeitet hat, hat man – soviel ich weiß – niemanden verfolgt. Was meinen Vater betrifft, er war kein Jude, so würde ich seine persönlichen Überzeugungen mit den Worten „italienische antikommunistische Linke“ bezeichnen. Er hat außerhalb des Systems funktioniert, als Ausländer mit einem ausländischen Pass, dem man außer der Landesverweisung nichts antun kann. Ja, aber damals ging es nicht um ihn.

Frage 5: Essay „Die armen Polen blicken aufs Ghetto“ von Jan Błoński

A. W.: Man spricht von zwei Perspektiven hinsichtlich der Geschichte der Kriegsjahre in Polen: der jüdischen und der polnischen. Die Polen, die nur als Opfer und Helden dargestellt werden – dieser Mythos wurde im Nachkriegspolen gepflegt. Seit dieser Zeit hat sich sehr viel verändert und die Beteiligung der Polen beim Mord an den Juden wurde als historische Wahrheit anerkannt. Ein wichtiger Moment beim Wiederaufbau des polnisch-jüdischen Dialogs war der 1987 veröffentlichte Essay von Jan Błoński „Biedni Polacy patrzą na getto“ (deutsch: „Die armen Polen blicken aufs Ghetto“). Wie war Ihre Reaktion auf den Essay? Welche Reaktionen haben Sie in ihrer Umgebung bemerkt? Hatte er einen besonderen Einfluss auf Sie?

M. T.: In seiner Zeit, und dies ist lange her, hat der Essay eine große Rolle gespielt, da er als erster das Thema aufgriff. Seine Veröffentlichung verlangte nicht nur viel Talent, sondern auch Zivilcourage.

Frage 6: Verantwortung für die Erinnerung

A. W.: Sie sind Vertreterin der zweiten Generation. Ihre Mutter hat Auschwitz überlebt. Fühlen Sie eine Verantwortung für die Bewahrung der Erinnerung an die Ermordeten und die Überlebenden?

M. T.: Ich fühle mich vor allem als Vertreterin meiner selbst. Und meine Mutter, meine wahre Mutter, nicht diejenige der Protagonistin in Włoskie szpilki, hat im Arbeitslager in Freiberg bei Dresden Flugzeugteile gebaut. Zum Kriegsende wurde die Fabrik geschlossen und die Häftlinge nach Mauthausen evakuiert. Der Roman basiert größtenteils auf persönlichem Material, aber er ist keine Autobiografie – und desto mehr keine Biografie meiner Mutter. Ich sage nicht, dass man Włoskie Szpilki oder Szum (deutsch: „Lärm“) biografisch lesen soll, aber wenn jemand danach fragt, entmutige ich ihn wahrlich damit.

Ich habe nie behauptet, dass meine Mutter Auschwitz überlebt hat. Sie könnten dies höchstens im Internet finden, dort schreiben einige, die es anscheinend „besser“ wissen.

Frage 7: Last des Holocaust

A. W.: Die Überlebenden wollten sehr oft nicht über ihre Erfahrungen sprechen. Haben Sie das Bedürfnis, dieses Schweigen zu brechen? Inwieweit ist dieses Thema in ihrem Leben heutzutage präsent? Belastet es Sie?

M. T.: Die Last des Holocaust spüren am stärksten diejenigen, die ihn überlebt haben. Sie werden weniger.

Frage 8: Wissen über den Holocaust

A. W.: Wenn es um die Vergangenheit geht, weiß ich, dass man in Ihrer Familie darüber nicht gesprochen hat. Ich meine die Familiengeschichte mütterlicherseits. Die mündliche Überlieferung spielte also anfangskeine Rolle. Was war für Sie eine Informationsquelle über den Holocaust? Auf welche Weise wurden Sie damit konfrontiert?

M. T.: Ich stimme Ihnen nicht zu, denn man hat in meiner Familie kein Geheimnis daraus gemacht. Aber es gab sowohl keine detaillierten Erzählungen als auch keine Klagen.

Frage 9: Vergangenheit

A. W.: In der Erzählung „Buszujący w Niemczech“von Henryk Grynberg kann man lesen: „Du kannst keine Zukunft haben, aber die Vergangenheit, Brüder, das ist was anderes! Sie ist wie ein Faden, an dessen Ende du hängst, und ohne diesen bist du gar nicht da.“ Würden Sie dem zustimmen?

M. T.: Es liegt hierin eine Wahrheit, aber mit einer großen Übertreibung, wie das bei Aphorismen der Fall ist. Wenn es um mich geht, bestehe ich nicht nur aus der Vergangenheit, nach der Sie fragen, ganz besonders deshalb nicht, dass gerade jene nicht direkt die meinige ist.

Frage 10: Erbe der Herkunft

A. W.: Familiengeschichte, unsere Vorfahren, die Vergangenheit – diese Elemente gestalten uns und unsere Weltanschauung. Das ist ein Teil unserer Identität. Kann man dieses Erbe ablehnen? Kann man „nein“ dazu sagen?

M. T.: Die Vergangenheit der Familie gestaltet uns im menschlichen und emotionellen Sinne, denn sie hatte einen Einfluss darauf, wie man mit uns in der Kindheit umgegangen ist. Aber ich glaube, dass die Vergangenheit der Familie keinen großen Einfluss auf unsere Weltanschauung haben kann. Alle (oder fast alle) gehen am Ende ihrer Kindheit durch eine Phase des Widerstands, nach der wir anfangen, auf eigene Rechnung die eigenen Erfahrungen zu sammeln und unsere Meinungen zu bilden. Der Widerstand ist ein Versuch, das Erbe mit etwas mehr Persönlichem zu ersetzen. Wir werden auch von unserer gemeinsamen Vergangenheit geprägt, also von der gesellschaftlichen Dimension, mitsamt den vergangenen Katastrophen und Verletzungen, die sie hinterlassen haben. Unsere Identität setzt sich also aus verschiedenen Dingen zusammen. Dazu zählen familiäre Verletzungen, Verletzungen allgemeingesellschaftlicher Natur und der Widerstand.

Frage 11: Identität

A. W.: Die Familie Ihrer Mutter war seit Generationen polonisiert. Hitler und die Nürnberger Rassengesetze haben sie zu einer Jüdin gemacht. Was bedeutete das für Sie? Auf welchem Fundament haben Sie ihre Identität aufgebaut? Haben Sie nach ihr gesucht oder sie aufs Neue konstruiert?

M. T.: Was die Identität betrifft – das Thema ist für mich immer noch offen. Für das Wesentliche dabei halte ich nicht, ob ich weiß, wer ich bin, oder warum ich es nicht weiß. Inwieweit Identität Privatsache ist, inwieweit eine öffentliche Verpflichtung – vor allem in Polen, mit der dort gepflegten Tradition des Manifestierens einer Zugehörigkeit mit Hilfe von Symbolen und „versymbolisierten“ Haltungen, könnte das ein großes Thema sein, aber es wird von allen wie ein faules Ei gemieden. Es gehört auch zur Tradition Polens, dass andere Menschen sich dazu verpflichtet fühlen, uns in Fragen der Identität zu kontrollieren, zum Beispiel ob wir auf eine richtige Weise das sind, was wir ihrer Meinung nach sein sollen. Unser Widerstand wird als ein skandalöser Verstoß gesehen, so etwas in der Art wie ein Hochverrat.

Frage 12: Menschliches Schicksal

A. W.: In ihrem Roman Włoskie szpilki kann man den Satz lesen:

„Das Leben jedoch sind die gleichen weiteren Stränge ohne jeglichen Anfang, alte, verknotete Fäden, die gezogen wurden ohne zu wissen woher sie kommen oder wohin sie führen. Der Anfang ist dort, wo das Fähnchen steckt, es sei denn, jemand nimmt es raus und verlegt es.“ Könnten Sie diesen Gedanken vertiefen?

M. T: Dieses Fragment handelt davon, dass Erzählungen ihrer Natur nach tendenziös sind. Wir halten etwas für eine Ursache und etwas Anderes für eine Folge, aber jede Narration fängt mit einer Ursache an und endet mit einer Folge. Aber jemand anderes wird etwas anderes als eine Ursache erkennen, wird also in einem etwas anderen Punkt anfangen und kommt somit zu einer anderen Schlussfolgerung. Man konnte das bei den serbischen und kroatischen Narrationen sehen, um die ein Krieg in den 1990er-Jahren ausgebrochen ist, und jetzt sieht man es in den Narrationen Russlands in Bezug auf die Ukraine. Die Unmöglichkeit der Bestimmung der Narration führt zu einem stärkeren Hass als die religiösen Unterschiede. Das von Ihnen zitierte Fragment spricht nicht vom Krieg, aber wenn ich beginne, diesen Gedanken zu vertiefen, dann geht er in eine solche Richtung.

Frage 13: Rolle der Literatur

A. W.: Von Beruf sind Sie Biologin. Ihr erstes Buch Sny i kamienie (deutsch: „Träume und Steine“) wurde 1995 veröffentlicht und die Leser haben sehr schnell die Einzigartigkeit und den Wert Ihrer Prosa bemerkt. Welche Rolle spielt die Literatur in Ihrem Leben? Was war der Impuls zum Schreiben? Was hat Sie dazu bewegt, die Fiktion in Włoskie szpilki aus den Bausteinen Ihrer Familiengeschichte zu erstellen?

M. T.: Die Literatur ist mein Beruf, meine Leidenschaft und meine Beschäftigung. Vielleicht kann ich nichts anderes machen. Was der Impuls war und was mich dazu motiviert hat – ich weiß es nicht.

Frage 14: Darstellung des Holocaust

A. W.: Das Thema Holocaust ist unglaublich kompliziert. Nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller und andere Künstler setzen sich damit auseinander und versuchen die Erinnerung an ihn zu bewahren. Solche Projekte wie Lego. Konzentrationslager von Leszek Libera oder Spal wstyda (deutsch: „Verbrenne die Scham“) oder Tęsknie za Tobą, Żydzie (deutsch: „Ich sehne mich nach Dir, Jude“) von Rafał Betlejemski haben jedoch für laute Kritik in Polen gesorgt. Was denken Sie über die Form, über die Frage nach einem „Wie?“ – wie kann man das Wesen einer Tragödie erschließen, ohne es kitschig zu machen und ohne die Erinnerung an die Verfolgten und die Ermordeten nicht zu verletzen? Gibt es irgendwelche konkreten Kriterien Ihrer Meinung nach?

M. T.: Ich kenne keine allgemeinen Regeln zum Thema, was man darf und was nicht, aber wenn es um bestimmte Texte geht, normalerweise weiß ich, ob sie mir gefallen oder nicht. Die Sachbücher sind für mich fast immer akzeptabel, und eine Fiktion eingebettet in die Realität eines Krieges, der Okkupation oder des Konzentrationslagers, hinterlassen bei mir sehr oft einen Nachgeschmack. Meine Erfahrung des Krieges umfasst die Nachkriegszeit und an dieser Erfahrung halte ich fest. Was „das Lego“ und die Aufschriften, die Sie erwähnt haben, betrifft, die nehme ich mit gemischten Gefühlen wahr, aber ich habe darüber noch keine endgültige Meinung gefasst.

Dieses Interview wurde mit Magdalena Tulli schriftlich geführt und von Anna Wrona aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt.