Hitzkopf in kalter Umgebung

Das Tagebuch des jungen Arthur Conan Doyle über eine arktische Reise

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn bei Arthur Conan Doyle einer ins Wasser fällt, verheißt das nichts Gutes – dass er seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes 1893 die Schweizer Reichenbachfälle hinabstürzen ließ, konnten ihm seine Bewunderer lange nicht verzeihen. Insofern ist der dreifache Sturz ins Polarmeer, der für den deutschen Titel seines frisch aufgetauchten Reisetagebuchs aus dem Jahr 1880 herhalten musste, vielleicht eine Geste der Versöhnung beziehungsweise der symbolischen Abbitte.

Geschildert wird in diesen jetzt zum ersten Mal verlegten Aufzeichnungen, wie der junge Arthur Conan Doyle sein Medizinstudium unterbricht, um für sechs Monate auf dem Walfänger Hope anzuheuern, der unter Kapitän John Gray von Petershead aus in Richtung Polarmeer aufbricht – für Conan Doyle wird es die erste große Abenteuerfahrt seines Lebens. Wie die Kolonialromane der Spätviktorianischen und Edwardianischen Epoche (etwa König Salomons Diamanten aus dem Jahr 1885) erzählt das Tagebuch von einer unwegsamen Reise, der Überwindung von Gefahren, einer glücklichen Heimkehr – und nebenbei auch von einer Mannwerdung. Der 20-jährige Student schwärmt in Briefen an seine Mutter vom homosozialen Verbund an Bord, von Männern, die „wie die Mastschweine futtern“ und den Grünschnabel an Bord zunächst in die Mangel nehmen (ein Maschinist liest regelmäßig heimlich Conan Doyles Tagebuch, bis dieser das unterbindet). Ihren Respekt erwirbt er sich beim Boxen und als Jagdgefährte, der sich auch von unfreiwilligen Tauchgängen im eisigen Wasser nicht davon abhalten lässt, mitzumischen – und dem unter den Händen auch der erste Patient verstirbt.

Mit ethnographischer Exaktheit schlüsselt Conan Doyle in seinen präzise geführten Notizen den Alltag an Bord auf und lässt so erlebbar werden, welch grausames Geschäft das täglich Brot der Seeleute und Jäger ist. Robben (Jung- wie Alttiere) werden täglich zu Dutzenden dahingemetzelt (3.600 Flossenfüßer wird die auf den Speck der Tiere versessene Crew am Schluss erbeutet haben), und Conan Doyles anfängliche Vorbehalte gegenüber dem „blutige[n] Handwerk, den armen kleinen Schelmen den Schädel einzuschlagen“, weicht bald seinem Ehrgeiz, sich an der Seite erfahrener Männer zu beweisen. Nach wenigen Wochen schlägt ihm ein schlechter Tagesertrag mehr auf den Magen als der Anblick der getöteten Tiere, erklärt sich der Autor gar zum „Experte[n] für Robbenjagd“ und erprobt ohne mit der Wimper zu zucken seine Schießkünste an lebenden Objekten. Zwischen den Zeilen bietet der Text eine nachdrückliche Lektion zum Thema Waffenfetisch, denn man kann leicht erahnen, dass Conan Doyle und seine schießwütigen Mitreisenden an den Robben vor allem ihren Frust über das stundenlange vergebliche Warten auf Wale stillen – die Hope wird am Schluss lediglich zwei Wale erlegt und Conan Doyle gelernt haben, dass nur eine von 20 Walsichtungen zum Erfolg führt. In ihrer Drastik sind diese und andere Details – man kann sie auch anhand von Zeichnungen studieren, die hier im Faksimile vollständig wiedergegeben werden – stellenweise fast von bizarrer Komik. Gegen Ende der Reise schlüsselt Conan Doyle stolz seine Trophäensammlung auf, darunter Falken, Bärenschädel, Robbenknochen und Wal-Trommelfelle.

Da die Vermutung naheliegt, dass der Marebuchverlag seine üppig ausgestattete Klassikerbibliothek nicht nur aus Liebe zum Meer, sondern auch zu seiner Fauna pflegt, dürfte es den Herausgebern bei der Lektüre solch nüchtern zusammengestellter Listen ein paarmal das Herz gebrochen haben. Doch die editorische Leistung hat sich gelohnt – nicht nur als Dokumente der Zeit- und Mentalitätsgeschichte sind Conan Doyles Aufzeichnungen aufschlussreich. Anscheinend vollkommen unbehelligt von Gedanken an Artenschutz ersch(l)ießen sich die britischen Seeleute die unvertraute Umgebung in erster Linie durch das Zielfernrohr ihrer Gewehre. Werden einmal seltene Enten über dem Boot gesichtet, ballert sie der Kapitän sofort vom Himmel, um sie aus der Nähe genauer studieren zu können.

Wem solch grausige Details nicht auf den Magen schlagen, der wird auch an Conan Doyles Fabulierkunst und seinem Humor Freude haben, die belegen, dass der Autor auch jenseits seiner genial ausgetüftelten Krimirätsel ein hervorragender Erzähler war. So schildert er neben bizarren Träumen von prügelnden Gorillas und Medizin-Prüfungen, bei denen plötzlich das kleine Seemanns-ABC abgefragt wird, anschaulich Flora und Fauna, hält sich einen eigenen, auf den Namen John Thomas getauften See-Engel im Glas und notiert seinen ersten Eindruck der jungen Robben als wenig attraktive „Kreuzung zwischen einem Lamm und einer riesigen Nacktschnecke“. Dass er auch sich selbst nicht ganz ernst nimmt, verrät sowohl die Schilderung der eigenen Stürze ins Meer, die ihm an Bord bald den Spitznamen „großer Eistaucher“ einbringen, als auch das Protokoll seines 21. Geburtstags – in die Volljährigkeit startet Conan Doyle „nur ungefähr 600 Meilen vom Nordpol entfernt“, berauscht von heftigen Brechmitteln, die ihm der Kapitän gegen seine Übelkeit überlässt.

Der fabelhafte Gesamteindruck wird vom opulenten Anhang dieser prachtvollen Edition abgerundet – er bietet nicht nur das äußerst lesenswerte Vorwort der Herausgeber Jon Lellenberg und Daniel Stashower, das (ebenso wie die hilfreichen Fußnoten) zahlreiche biographische Details erhellt, sondern auch die Faksimile-Reproduktion von Conan Doyles Zeichnungen sowie seiner sehr gut lesbaren Handschrift. Ferner sind vier weitere Texte des Autors enthalten – darunter die Detektiverzählung „Der Schwarze Peter“ –, in denen er Jahre später seine arktischen Erlebnisse essayistisch sowie literarisch verarbeitet hat. So führt die Spur (wie könnte es anders sein?) doch noch zu Sherlock Holmes zurück. Dass dieser – der zum Beispiel im Roman „Das Zeichen der Vier“ mit seinem treuen Spürhund Toby einer Fährte durch die Straßen Londons folgt – wohl auch ein wenig von dem Jagdfieber geerbt hat, das seinen geistigen Schöpfer Jahre zuvor an Bord der Hope ereilt hat, darf wohl angenommen werden.

Titelbild

Arthur Conan Doyle: »Heute dreimal ins Polarmeer gefallen«. Tagebuch einer arktischen Reise.
Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Pechmann.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
332 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482098

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