Wie im Fieber

Samanta Schweblins Roman „Das Gift“ ist eine furchterregende Momentaufnahme

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zeit bleibt eigentlich keine mehr. Denn die Würmer, so die geflüsterten Worte des Jungen, bahnen sich schon ihren Weg und werden zersetzen, was (oder wer) jetzt noch denken, sprechen, schreiben kann. Im Zentrum von Samanta Schweblins Roman „Das Gift“ steht das Zwiegespräch einer Mutter namens Amanda mit David, einem Sohn. Beide sind zwar nicht miteinander verwandt, teilen sich aber dennoch einen Moment von roher Intimität und Endgültigkeit.

Die Kontrolle über die vor dem Leser ausgebreiteten Erinnerungen an einen denkwürdigen Sommerurlaub scheint allein bei David zu liegen, dessen Nachfragen unerbittlich ins Detail gehen. Er selbst – oder zumindest die Person, die er einmal gewesen sein könnte – litt einst unter einem ganz ähnlichen Fieber wie dem, das nun von Amanda Besitz ergriffen hat. Trotz ihrer schwindenden Kräfte lässt die junge Frau sich von David in Gedanken zurückführen, um den alles entscheidenden Moment aufzuspüren, in dem sich ihr Schicksal entschieden hat. Immer wieder ist dabei vom besonderen Instinkt der Mütter die Rede, die ein unsichtbares Band an ihre Kinder knüpft und das unterschiedlich stark gespannt sein kann, je nachdem, ob das Kind sich in Sicherheit oder in Gefahr befindet.

Schweblin spielt kunstvoll mit dem bedrohlichen Bild des beinahe zerreißenden Fadens und erzeugt damit auf gerade einmal 127 Seiten eine schier unerträgliche Spannung, die den Leser komplett vereinnahmt. Man kann dieses Buch eigentlich nur lesen, als litte man selbst unter einem Fieber, denn so sehr sich die junge Frau darum bemüht, sich möglichst exakt vor Augen zu halten, in welchem Moment sie einen fatalen Fehler begangen hat, genau so groß ist die Furcht des Lesers, vielleicht den wichtigsten aller Hinweise auf die merkwürdigen Schicksale der Romanfiguren nicht gleich zu entdecken. Am Ende siegt dann doch die Erschöpfung – aber nur für einen flüchtigen Augenblick. Denn schon im nächsten Moment wünscht man sich erneut Einlass in die schaurige Erzählwelt von Samanta Schweblin.

Titelbild

Samanta Schweblin: Das Gift. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Marianne Gareis.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
127 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425039

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