Leben in einer untergegangenen Welt

In ihrem Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ erzählt Alina Bronsky die märchenhafte Geschichte eines Dorfes mitten im Sperrgebiet um Tschernobyl

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind merkwürdige Gestalten, die sich wenige Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in ihre atomar verseuchte Heimat zurückwagen und dort ihr Leben fortführen, als wäre nichts geschehen. Bis zur nächsten Stadt ist es weit. Verwandte wagen es nicht, das Sperrgebiet zu betreten. Nur ab und an tauchen Ärzte oder Wissenschaftler auf, grotesk vermummt in Schutzanzügen, den Kopf schüttelnd ob des offensichtlichen Starrsinns eines halben Dutzends alter Menschen.

Baba Dunja, die über 80-jährige ehemalige Hilfskrankenschwester, die eigentlich mit bürgerlichem Namen Evdokija Anatoljewa heißt, gehört zu ihnen. Ihr Mann, ein Alkoholiker und Schläger, dem sie keine Träne nachweint, hat das Zeitliche gesegnet. Ihr Sohn lebt in Amerika und lässt kaum von sich hören. Ihre Tochter arbeitet in Deutschland als Chirurgin bei der Bundeswehr. Die Enkelin Laura, 17 Jahre alt, hat sie noch nie gesehen.

Doch in Tschernowo, dem kleinen Ort im Sperrgebiet, von dessen 30 Häusern mehr als die Hälfte leer steht, gibt es andere Probleme. Ihr fast 100-jähriger Nachbar Sidorow macht Großmutter Dunja einen Heiratsantrag und als die ablehnt, heiratet er Nachbarin Marja – natürlich muss Dunja dabei als eine Art Dorfälteste die Trauung vornehmen und in Ermangelung eines richtigen Popen auch den Segen spenden. Bei den Gavrilows, die schon lange Mann und Frau sind, muss man aufpassen, dass ihnen der Hochmut nicht zu Kopfe steigt. Dem alten Petrow, der den Ärzten im OP-Kittel vom Operationstisch entfloh, um im Großelternhaus seiner Ex-Frau in Tschernowo friedlich zu sterben, gilt es, immer etwas zum Lesen zu besorgen. Und Lenotschka, die von hinten wie ein Mädchen und von vorn wie eine Puppe aussieht, strickt Tag und Nacht an einem ellenlangen Schal.

Nach „Nenn mich einfach Superheld“ (2014), dem Roman einer Ich-Findung, ist „Baba Dunjas letzte Liebe“ so etwas wie ein Buch über das richtige Leben im falschen – also über etwas, was es (nicht nur nach Theodor W. Adorno) eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn in die Gegend um Tschernobyl zurückzukehren, um hier ungeachtet aller Gefahren sein Leben fortzusetzen, als wäre nichts geschehen, scheint auf den ersten Blick nicht nur falsch, sondern auch ziemlich verrückt zu sein. Doch gerade diese Verrücktheit macht die Figuren dieses Buches so sympathisch. Niemand kümmert sich um das Ticken von Geigerzählern, denn man ist längst in einem Alter, in dem einen der Tod nicht mehr zu schrecken vermag. Und so lebt man fern der restlichen Menschenwelt inmitten der Natur wie in einem Paradies.

Blauäugig ist indes niemand von den Alten. Denn als eines Tages ein neuer Bewohner mit seiner kleinen Tochter auftaucht, versucht man alles, um die beiden schnellstmöglich wieder loszuwerden. Als gute Worte gegenüber dem verstockten Vater, der mit seinem und seiner Tochter Leben nur spielt, um seine abtrünnige Frau zu strafen, nichts helfen, greift man schließlich zum Beil. Das führt die Polizei nach Tschernowo und Baba Dunja, die für die kollektive Tat des Totschlags im Affekt vor Gericht einsteht, ins Gefängnis.

Hier muss sie auch erfahren, dass in der Welt ihrer Tochter Irina im fernen Deutschland keineswegs alles so in Ordnung ist, wie das deren Briefen stets zu entnehmen war. Bereits seit vielen Jahren ist sie von ihrem Mann geschieden, zu ihrer Tochter Laura hat sie den Kontakt ganz verloren. Die war in den Vorstellungen ihrer Großmutter immer etwas ganz Besonderes, was die Erkenntnis, dass sie ihr wohl nie begegnen würde, besonders schmerzhaft machte. Nun muss sie von der Tochter hören, dass sie sich ein gänzlich falsches Bild von dem jungen, in ihren Gedanken immer fröhlich lächelnden Mädchen gemacht hat: „Laura, von der Irina spricht, hat sich den Kopf kahl rasiert. Sie hat ihren Eltern Geld gestohlen, sie hatte mit dreizehn Jahren eine Alkoholvergiftung, sie ist von zwei Schulen geworfen worden und sie versteht kaum Russisch“.

Man kann es Baba Dunja, nachdem ein Amnestiebeschluss des russischen Präsidenten sie vorzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt hat, nicht verdenken, dass sie die Aussicht, mit ihrer im Leben gescheiterten Tochter allein im fernen Deutschland zu leben, nicht lockt. Und so lässt sie Alina Bronsky nach knapp 150 Seiten dorthin zurückkehren, wo sie über ihr Leben selbst bestimmen kann, sich zu Hause, geborgen und zugehörig fühlt.

„Baba Dunjas letzte Liebe“ erzählt aus der Perspektive seiner Heldin die Geschichte einer starken Frau in einer Welt, in der man Paradiese vergeblich sucht. Während in den reichen westlichen Ländern Depressionen um sich greifen – „praktisch wie ein Magen-Darm-Virus“ –, das Leben die Menschen immer aufʼs Neue lehrt, „den Banken nicht zu trauen“, und wo alles Natürliche nach und nach verschwindet, hat sie sich einen Ort gesucht, von dessen Gefährlichkeit sie weiß, der ihr aber von Kindheit an vertraut und lieb ist und dessen Isolation nach der Katastrophe für sie und die anderen furchtlosen Alten von Tschernowo auch die Chance beinhaltet, ihr einfaches, selbst gewähltes Leben zu führen. So schlicht wie die Briefe, die sie nach Deutschland schreibt, lässt Alina Bronsky ihre Heldin auch dem Leser gegenüber auftreten. Das ist nicht immer frei von Klischees und ob es die reißerische Mordgeschichte, die ein bisschen viel Action in den ansonsten ruhigen Erzählfluss bringt, überhaupt gebraucht hätte, darf bezweifelt werden. Was aber bleibt, ist ein Buch voller Witz, Melancholie, Menschlichkeit und der Überzeugung, dass manche ihr Glück selbst dort finden können, wo sich das Unglück auf Dauer eingenistet zu haben scheint.

Titelbild

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
154 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783462048025

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