Eine Rückkehr ins Nichts

Rolf Lapperts Roman „Über den Winter“

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schweizer Autor Rolf Lappert, Jahrgang 1958, ist als Lyriker, Romancier und Gründer eines Jazzclubs hervorgetreten. Lange Zeit hat er in Irland gelebt, seit 2011 ist er wieder daheim in der Schweiz, auch seiner älter werdenden Eltern wegen, wie er kürzlich in einem Interview betonte. Im Frühjahr 2015 erschien sein siebenter Roman mit dem Titel „Über den Winter“, der sich ebenfalls mit einer Heimkehr befasst. Es geht um einen leidlich erfolgreichen Aktionskünstler, Lennard Salm, Ende 40, der ein Atelier in New York, aber nirgends ein Zuhause hat. Der Tod seiner Schwester ist der Anlass, dass er nach langer Zeit in die Stadt seiner Kindheit, nach Hamburg, zurückkehrt, um dort – wie sich bald herausstellt – zu bleiben. In seinem Roman erzählt Lappert, wie Lennard Salm einen Winter lang versucht, dort heimisch zu werden.

Im Prolog begegnet man Lennart Salm noch in einer exotischen Landschaft mit Strand und Palmen. Er ist einsam: Seine einzigen Bekannten sind einige missmutige Männer in der benachbarten, halb verlassenen Ferienhaussiedlung, die von einheimischen Jugendlichen attackiert wird. Der Strand ist nach einem Sturm übersät von den Hinterlassenschaften Ertrunkener. Der Höhepunkt des Prologs ist erreicht, als ein verwester Säugling in einem gestrandeten Ruderboot aufgefunden wird, den die Männer schließlich notdürftig begraben. Diese Szenerie ist grell gezeichnet, geradezu apokalyptisch – und irgendwo weit weg im Süden.

Der Prolog stimmt den Leser die Tonlage des ganzen Romans ein: Es geht um Zusammenbruch, um Niedergang. Denn auch das Hamburg, in das Lennard Salm zurückkehrt, ist kalt, arm, verwahrlost. Seine Schwester ist gestorben, seine Herkunftsfamilie zerstritten und desillusioniert, und an den Mauern der Stadt liest Lennard immer wieder merkwürdige Graffiti-Sprüche. Das Elend der dritten Welt ist längst auch hier angekommen und das Nahen des Weltuntergangs ist für Salms Vater sowie dessen Gefährtin und Pflegerin Bascha eine ausgemachte Sache.

Rolf Lappert bedient sich beim Erzählen bewährter Motive: Die exotische Insel am Rand der Zivilisation, auf der die Vergessenen der Dritten wie auch der Ersten Welt stranden, kennt man schon aus seinen Romanen „Gesänge der Verlierer“ und „Auf den Inseln des letzten Lichts“, die Selbstsuche als vertrackte Suche nach dem Vater ist bekannt aus „Nach Hause schwimmen“. Doch diesmal hat der Autor die Handlung geradliniger und einfacher angelegt.

Er inszeniert sie als Geschichte einer Regression – der Protagonist weiß bald nach der Ankunft in der Heimatstadt, dass er hier bleiben, sein bisheriges Leben aufgeben und näher bei seinem Vater sein möchte. Er nistet sich in seinem ehemaligen Kinderzimmer ein und drängt sich in das Leben seines alten Vaters, zunehmend enttäuscht davon, dass dieser sein eigenes Leben führt. Auch die pubertären Kämpfe mit seiner strengen Mutter nimmt er wieder auf, ohne zu spüren, wie anachronistisch das wirkt. Stück für Stück verliert er seine bisherige erwachsene Identität: Zunächst ist es nur sein Koffer, der auf dem Heimflug verloren geht, und der den ganzen Roman über nicht wieder auftaucht. Dann verschwinden seine beruflichen Ambitionen, sein New Yorker Atelier wird abgerissen, am Ende verschwindet selbst der Vater – er geht mit Bascha nach Polen. Da Lennard Salm auch zu seinen in der Heimat gebliebenen Geschwistern keinen Zugang findet, bleibt er am Ende seltsam verloren in Hamburg zurück.

Gleichzeitig ist Salms Rückkehr in die Familie aber auch eine Rückkehr zu sich selbst, in klassisch-christlichem Sinne: Er verlässt ein falsches, fremdbestimmtes Leben, das als dekadent geschildert wird, entwickelt Verantwortlichkeiten, erkennt seine verstorbene Schwester Helene als Idealfigur. Nach ihrem Vorbild, die in einer Suppenküche für Arme arbeitete, vollbringt er nun Taten der Nächstenliebe in der Umgebung der väterlichen Wohnung: Seinen teuren Mantel schenkt er wie ein heiliger Martin einem armen Rentner, zwei andere alte Menschen, Nachbarn des Vaters, rettet er aus akuten Notsituationen. Und dem Sohn der jungen Nachbarin wird er ein väterlicher Freund.

Das Schöne an dem Roman ist, dass Lappert diese beiden etwas banalen Erzählmuster so miteinander kombiniert, dass sie einander nahezu aufheben und Kitsch weitgehend vermieden wird. Da die bedrückende Grundstimmung des Prologs den gesamten Roman prägt, ja sich teilweise noch in ihm steigert, erlebt der Leser die Rückkehr des Protagonisten in die Familie an keiner Stelle als befreiend. Konsequenterweise kommt es letztlich zu keiner echten Versöhnung mit dieser. Aber auch die düsteren Weltuntergangsassoziationen werden nirgends bedrohlich für Salm, verbindet sich der Niedergang des vermeintlichen Helden doch an vielen Stellen mit einer Zunahme an Ich-Stärke und Verantwortungsbereitschaft. Im Grunde läuft die Geschichte in eine Leere, die an den gelungensten Stellen surreale Züge annimmt, etwa wenn Salm ein herrenloses Pferd im Hinterhof des Mietshauses unterbringt und im Folgenden plant, einen Personenaufzug mit Pferdeantrieb zu konstruieren.

Vielleicht sollte man die Handlung von „Über den Winter“ überhaupt nicht beachten und sich einfach den eindrucksvollen Stimmungen hingeben, die die Geschichte tragen und die ins Nirgendwo führen. Der Autor versteht es nämlich meisterhaft, über die Beschreibung scheinbar banaler Details intensive Gefühle im Leser zu erzeugen. Dabei sind es in der Regel keine Handlungskonstellationen und schon gar nicht die Charaktere der Figuren, die zu berühren vermögen – es ist die Atmosphäre von Orten mit außergewöhnlicher Ausstrahlung. Sei es eine Rentnerküche mit meterhohen Zeitungsstapeln gegen die Kälte oder eine Wilhelmsburger Wiese, auf der im Nebel ein Pferd auftaucht, sei es das triste Schlafzimmer einer proletarischen Schönheit, vollgestellt mit schweren, alten Möbeln oder das skurrile Relief einer von Einkerbungen, Notizen und Graffiti malträtierten Mietshaustür – diese melancholischen, oft beklemmenden, manchmal aber auch zauberhaften Bilder sind es, die „Über den Winter“ ungeachtet aller Schwächen zu einem Lesevergnügen machen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 13.10.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Rolf Lappert: Über den Winter. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
383 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783446249059

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