Dasselbe in Grün?

Ein von Martin Schierbaum und Sven Kramer herausgegebener Sammelband widmet sich dem Ecocriticism und der Rolle der Natur in der Literatur

Von Simone SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Episode der HBO-Serie „Mad Men“ (Staffel 2, Folge 7) zeigt den Werbetexter Don Draper bei einem Familienpicknick in den frühen 1960er-Jahren. Die Drapers sind mit ihren Kindern in die Natur gefahren und liegen in der Sonne auf einer Wiese. Inszeniert wird eine klassische Idylle, die dann genüsslich verdorben wird. Bevor die Familie wieder ins Auto steigt, leert Don mit zwei tiefen Schlucken seine Bierdose, holt aus und wirft sie in hohem Bogen in die Landschaft. Kurz danach schüttelt seine Frau Betty die Picknickdecke aus, der Abfall bleibt auf der Wiese liegen. Don startet den Motor, die Familie fährt ab. Episoden wie diese spielen mit dem Kontrast zwischen der Wahrnehmung des ethisch umfassend konditionierten Zuschauers des 21. Jahrhundert und der fehlenden Political Correctness der Akteure in der „Mad Men“-Ära. Was die amerikanische Serie, die nicht ohne Grund als neuer Gesellschaftsroman unserer Zeit bezeichnet wird, mit Leichtigkeit ausstellt, ist ein veränderter Naturbezug, ein Bruch im Umgang mit Ressourcen und unserem Ökosystem. Die Tatsache, dass die Macher dieser Fernsehserie, im Wissen, dass der Zuschauer einen stillen Aufschrei loslassen wird, gezielt mit dieser Szene spielen können, zeigt, dass hier zwischen der Zeit, auf die die Serie verweist, und der Zuschauergegenwart tatsächlich eine Veränderung stattgefunden hat.

Ob solche Brüche auch in der zeitgenössischen – vor allem deutschsprachigen – Literatur sichtbar werden, fragt ein im Sommer 2015 erschienener Sammelband zum Thema Neue Naturverhältnisse in der Gegenwartsliteratur? Der titelgebenden Frage müsste eigentlich eine zweite hinzugefügt werden: Neue Naturverhältnisse in der Forschung? – denn es geht in diesem Band neben der Gegenwartsliteratur mindestens ebenso sehr um aktuelle theoretische Perspektivierungen literarischer Naturdarstellungen. Gegenüber Themenbereichen wie dem Naturschönen, der Idylle, dem Erhabenen und dem Pastoralen, die in der Germanistik und anderen Philologien bereits umfassend erforscht worden sind, nehmen neuere Ansätze wie Ecocriticism und Animal Studies andere Schwerpunktsetzungen vor. In den Fokus rücken Gegenstände wie Ressourcenverbrauch, die Handlungsfähigkeit (oder Agency) von nichtmenschlichen Tieren, Nachhaltigkeit, Klimawandel, Artensterben und die Risiken atomarer Katastrophen. Unter Verweis auf die ökologische Krise wird dabei oft eine „Umorientierung des Bewusstseins auf die Natur“ beziehungsweise auf die Lebenswirklichkeit der Tiere postuliert und eine Art „Lobbying für die Natur in Kunst und Interpretation“, wie sie die deutschen Amerikanistinnen Catrin Gersdorf und Sylvia Mayer in der Einleitung von Natur – Kultur – Text. Beiträge zu Ökologie und Literaturwissenschaft bereits 2005 forderten.

Solchen normativ grundierten Forschungsperspektiven stehen die beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes, Sven Kramer und Martin Schierbaum, indessen eher kritisch gegenüber. Wenn die Literatur zum Hilfsmittel und Katalysator eines ökologischen Bewusstseins wird, argumentieren sie, riskiere die Kunst den Verlust ihrer Autonomie als „unabhängiges Reflexionsmedium“. Zwar beziehen sich Kramer und Schierbaum auf literaturökologische Positionen, insbesondere auf den britischen Germanisten Axel Goodbody und den deutschen Amerikanisten Hubert Zapf, hätten dabei aber auch weitere Forschungslinien stärker berücksichtigen können. Die Auseinandersetzung mit dem Ecocriticism erfolgt hier vor allem vor dem Hintergrund deutschsprachiger Forschungsliteratur. Es ist zwar richtig, dass der als Forschungsperspektive in den 1990er-Jahren in den USA institutionalisierte Ecocriticism eine moralisch-ethische Agenda mitbringt, allerdings bislang keine eigene Methode vorgelegt hat. Trotzdem lassen sich innerhalb der bestehenden Forschung Ansätze finden, das übliche literaturwissenschaftliche Handwerkszeug – was Schierbaum seinerseits durchaus normativ als „konventionell arbeitende[]“ Literaturwissenschaft bezeichnet – fruchtbar im Hinblick auf die Darstellung von Naturverhältnissen zu nutzen. Wenn Schierbaum attestiert, die „Frage nach dem Kunstcharakter der literarischen Texte“ bliebe im Ecocriticism ebenso offen wie eine Nichtberücksichtigung von „Perspektiven der modernen und postmodernen Ästhetik“, zu der auch „Montage- und Textualitätskonzepte“ gehörten, reduziert er das Spektrum tatsächlich bestehender Ansätze im Ecocriticism. Anglophone Forschungsliteratur hätte hier stärker berücksichtigt werden können. Greg Garrards Einführung Ecocriticism und Ursula Heises Monographie Sense of Place and Sense of Planet – um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen – diskutieren textuelle Strategien, Motivik und genuin literarische Verfahren wie die Montage zur Darstellung der Umweltkrise.

Dennoch ist dieser Band begrüßenswert, gerade auch, weil er eine mögliche Schwerpunktsetzung einer genuin deutschen Literaturökologie aufzeigt, nämlich die der verstärkten Berücksichtigung literarischer Traditionen, Motive, Formen und Muster und die Analyse ihrer Funktionen im Umweltdiskurs. Ergänzend zu theoretischen Überlegungen zu zentralen Positionen des Ecocriticism und ergänzend zur Diskussion von Naturkonzepten versammelt der Band ein knappes Dutzend von Textanalysen. Diese gehen mal stärker, mal weniger stark literaturökologisch ausgerichtet am konkreten Beispiel der titelgebenden Frage nach, ob in der Gegenwartsliteratur neue Formen der Begegnung von Mensch und Natur dargestellt und reflektiert werden. Ein wenig irreführend ist dabei der Gebrauch der Bezeichnung „Gegenwartsliteratur“. Behandelt werden neben aktueller deutschsprachiger Prosa, wie Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe (2011), Ann Cottens Florida-Räume (2010) und Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten (2008), kanonische Texte von Autoren wie Arno Schmidt, Sarah Kirsch und Wolfgang Hilbig, deren Erscheinen zum Teil mehr als 60 Jahre zurückliegt und die somit kaum mehr der Gegenwartsliteratur zugerechnet werden können. Vielleicht wäre es besser gewesen, im Titel des Bandes von neuen Naturverhältnissen in der Literatur seit 1945 zu sprechen. Und wäre man doch beim Wort „Gegenwartsliteratur“ geblieben, hätte es aktuellere Beispiele wie Andreas Maiers Romanzyklus Ortsumgehung, die Prosa und Lyrik Marcel Beyers, Esther Kinskys Am Fluss, Franz Friedrichs Zukunftsroman Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr oder auch die jüngst vom Berliner Matthes & Seitz Verlag herausgegebene Reihe Naturkunden gegeben, die sich als Ergänzungen nicht nur aufgrund des jüngeren Erscheinungsdatums, sondern gerade auch wegen der darin verhandelten Positionen der Natur gegenüber als interessante Gegenstände angeboten hätten.

Hinzu kommt, dass die Frage nach dem Ort des Menschen in der Natur und nach literarischen Darstellungsformen der Wechselwirkungen und Austauschprozesse zwischen Mensch und Umwelt in den einzelnen Textanalysebeiträgen teilweise deutlicher hätte verfolgt werden können. Schade ist in diesem Zusammenhang auch, dass darauf verzichtet wurde, in einem Fazit am Ende des Bandes übergreifend Ergebnisse zu bündeln und somit, zumindest annäherungsweise, eine Antwort auf die im Titel gestellte Frage zu geben. Stattdessen greift das Nachwort von Sven Kramer noch einmal die bereits in der Einleitung und in Martin Schierbaums theoretischem Beitrag skizzierten Überlegungen zum Verhältnis von Nachhaltigkeit und Literatur sowie der Rolle des Ecocriticism im literaturwissenschaftlichen Diskurs auf. Interessant ist zwar die Feststellung, dass „der Augenblick der Gefahr“, wie Kramer betont, vor allem auf Seiten der Rezipienten und nicht so sehr der Produzenten, „eine Richtungsänderung in der Lektüre erzwingt“, interessant wäre aber ebenso gewesen, zu erfahren, welche neuen Positionen sich in den letzten Jahren unter den Gegenwartsautorinnen und -autoren womöglich als Reaktion auf die ökologische Krise entwickelt haben. Folgt man Kramer in seinen Überlegungen zu einer nachhaltigen Literatur, so gibt es „hier keinen grundsätzlich neuen Gegenstand zu entdecken. Und doch, so könnte man argumentieren, steht die Untersuchung der Natur in den Künsten heute anders als noch vor ein paar Jahrzehnten, weil sich das Debattenumfeld seither verändert hat.“ Diesem Befund kann man sich nur anschließen.

Titelbild

Martin Schierbaum / Sven Kramer (Hg.): Neue Naturverhältnisse in der Gegenwartsliteratur?
Philologische Studien und Quellen Bd. 250.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
346 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155675

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch