Entwurf für eine Religion der Liebe

Ralph Dutli folgt in „Die Liebenden von Mantua“ den Spuren und Schatten eines kulturgeschichtlichen Mythos mit den Mitteln des Essayismus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben entspringt dem Zufall. Alles ist unwahrscheinlich, „aber wahr. Deshalb ist alles so klar“. Und deshalb darf es geschehen, dass sich Raffa und Manu nach vielen Jahren ausgerechnet in Mantua wieder begegnen. Der eine forscht über das Erdbeben, das die Stadt ein Jahr zuvor erschütterte, der andere interessiert sich für die „Liebenden von Mantua“, ein Paar, das seit dem Neolithikum, seit rund 6000 Jahren also, eng umschlungen in einem Grab gelegen hatte, bevor es 2007 in Folge von Bauarbeiten ausgebaggert wurde. Schon während der kurzen Begegnung fällt Raffa auf, dass Manu offenkundig beobachtet wird.

So unwahrscheinlich ein Fund wie das neolithische Liebespaar ist, so wahrscheinlich ist es auch, dass sich irgendein hirnverbrannter Enthusiast findet, der darin eine Botschaft erkennen will. Ein Conte mit dem nebelhaften Namen Ignoto lässt Manu tatsächlich auf sein herrschaftliches Anwesen irgendwo in der Umgebung der Stadt entführen. Nebst gediegenem Interieur und viel Kunst präsentiert er seinem Opfer im Keller der Anlage auch die beiden Liebenden, die unlängst aus einem Laboratorium spurlos verschwunden sind. Im Gespräch mit Manu zeigt der Conte Anzeichen einer fanatischen Verrücktheit. Er glaubt in den beiden Skeletten den Ursprungsmythos für eine Religion der Liebe zu finden, die den christlichen Leidenskult ablösen würde. Und in Manu, dem Schriftsteller aus Paris, sieht er den Apostel dieses neuen Glaubens. Manu würde ihm ein Evangelium verfassen, bis dahin wäre er „Gast“ auf dem herrschaftlichen Gut.

Soweit in aller Kürze der Plot, den Ralph Dutli in seinem Buch entwickelt. Wer dabei an Dan Brown denkt, liegt ziemlich falsch. Anklänge an Umberto Eco sind schon eher herauszuhören, dessen Belesenheit und Gelehrsamkeit liegen Dutli näher.

Den „Schlüssel zu den Liebenden von Mantua“ glaubt der Conte in der Alchemie erkannt zu haben, in der „Suche nach der quintia essentia, dem fünften Element des Lebens, das nur die Liebe sein kann“. Ihm ist es unverständlich, wie das allumfassende Christentum, eine Religion der Nächstenliebe, auf das Leiden eines Gottessohnes bauen kann. Eine derart perverse Opferreligion muss zwangsläufig in Religionskriegen und einem „Monopol der Männer“ gipfeln. Deshalb braucht es, ist er mit männlicher Leidenschaft überzeugt, ein neues Fundament des Glaubens. Dabei zeigt sich der Conte gleichermaßen idealistisch beseelt wie von allen guten Geistern verlassen. Selbst sein streng bewachtes Anwesen trägt Züge seines Realitätsverlustes. Die reich ausgestattete Bibliothek scheint innerhalb des Hauses zu wandern, bis sie eines Nachts für Manu nicht mehr auffindbar ist. Ein Menetekel, in dem sich das Ende bereits abzeichnet.

Doch Ralph Dutli zielt mit alledem weniger auf eine von Spannung geleitete Handlung ab, in die auch eine junge Frau verwickelt wird, die sich vertrauensvoll mit Raffa zusammentut. Seine Faszination gilt vielmehr der reichen kulturgeschichtlichen Tradition, die sich in der Stadt Mantua und ihren verborgenen Mythen entfaltet. Die Bibliothek des Conte beherbergt allerlei seltsame Kostbarkeiten wie das alchemistische Rosarium Philosophorum aus dem 13. Jahrhundert, welche Anlass zu klugen Erörterungen sind. Und die opulenten Zeugnisse der Renaissance, mit denen Mantua reich gesegnet ist, verdienen Dutlis leidenschaftliche Aufmerksamkeit. In Mantua ist Vergil geboren und hat Mantegna seine ergreifendsten Bilder gemalt, darunter die Camera degli Sposi mit ihrer kühnen Perspektive hoch in den Himmel, („Di sotto in sù“). Sie wird nur noch manieristisch übertroffen von Giulio Romanos Fall der Giganten im Mantueser Palazzo del Te. Die Stadt ist die eigentliche Protagonistin in diesem Roman, der Motor eines mehr skizzierten als gewaltsam ausgeführten Plots, der letztlich den essayistischen Vorlieben des Autors unterliegt. Aus ihrer Geschichte präpariert Ralph Dutli eine Fülle von Motivketten und Beziehungslinien heraus, die gerne auch in unwegsame Spekulationen abdriften. Alchemie und Kunst, Philosophie und Märchen finden hier ihren Platz. Hin und wieder gibt er dieser Lust an Verknüpfungen etwas zu sehr nach, etwa wenn das Auto der Entführer Manus nicht bloß eine filmreife Limousine ist, sondern jenem blauen Cadillac gleicht, mit dem Salvador Dalí seine tote Gala 1982 ins Mausoleum nach Pubòl überführt habe.

Am Ende hilft der Zufall bei der Auflösung. Ob es sich beim 6000-jährigen Paar um Liebende oder vielleicht nicht doch um kranke Hungerleider handelte, die platzsparend ins gemeinsame Grab gelegt wurden, muss offen bleiben. Die Fantasie und die universale Belesenheit des Autors kann das nicht erschüttern. Seine elegante, bildkräftige und hin und wieder ein wenig bildungsbeflissen ausufernde Sprache ist getragen vom Enthusiasmus für dieses städtische Idyll, wo dem Autor bei Graffitis wie „MANTUA OHNE ARBEIT OHNE ZUKUNFT“ eher die Sinne auf- als die Hoffnungen untergehen.

Titelbild

Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachs 2015.
276 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316836

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