Nicht nur Lippenbekenntnisse

Ilija Trojanow erzählt in seinem neuen Roman von „Macht und Widerstand“ in Bulgarien

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Macht und Widerstand sind zwei Seiten einer Medaille: Wer Macht besitzt, wird sich immer mit einem Widerstand konfrontiert sehen, und Widerstand ist ohne eine oppositionelle Macht nicht denkbar. Beide Seiten jedoch benötigen Überzeugungen, auf denen ihre jeweilige Position fußt. Wie stark diese Überzeugungen dann wirklich sind, wird in der Konfrontation von Macht und Widerstand deutlich: Wenn eine Seite gewinnt, dann zeigt sich, ob die Überzeugungen nicht nur Lippenbekenntnisse oder spontane Eingebungen, sondern tief in der Person verankert waren und ob man an ihnen auch nach der Niederlage festhält und sie bis zum Schluss verteidigt.

Von Überzeugungen und von deren Preis erzählt Ilija Trojanow in seinem neuen Roman „Macht und Widerstand“. In jeweils abwechselnden Kapiteln erzählt Trojanow von Konstantin, einem Anarchisten, und von Metodi, einem hohen Offizier der ehemaligen Staatsicherheit. Beide erinnern sich an ihren Werdegang und an ihre Erlebnisse in der sozialistische Zeit in Bulgarien, wobei ihre Erinnerungen bis in die Gegenwart hinein reichen.

Konstantin als Anarchist lehnt sich gegen die sozialistische Herrschaft auf, die er als eine Diktatur und Unrechtsherrschaft empfindet. Im Untergrund plant er mit einer Gruppe Gleichgesinnter Aktionen gegen die sozialistische Diktatur, etwa die Sprengung eines Stalindenkmals. Als Staatsfeind – und Sohn eines Regimekritikers, der jedoch mental gebrochen wurde – ist er unter ständiger Beobachtung der Staatssicherheit, die ihn am liebsten im Gefängnis sehen würde und nur auf einen Fehler von ihm wartet. Durch ein riesiges Spitzelsystem bekommt die Staatssicherheit auch die Informationen zugespielt, die sie benötigt, um Konstatin ins Gefängnis zu bekommen. Folter – mental als auch physisch – muss Konstantin über sich ergehen lassen, jedoch ist er in seinen Überzeugungen soweit gefestigt, dass er sie und auch seine Kameraden nie verrät.

Viele Jahre später, als der politische Umbruch in Bulgarien erfolgt ist und man seine Staatssicherheitsakten einsehen kann, will Konstantin seiner Vergangenheit und auch dem Spitzelsystem auf die Spur kommen. Hier legt Trojanow seinen Finger in eine offene Wunde: Denn Bulgarien arbeitet seine sozialistische Vergangenheit nicht auf, durch Unterschlagung, Korruption und zum Schutz der Täter werden die Akten absichtlich zurückgehalten. Im ehemaligen sozialistischen Bulgarien gab es keine Verbrechen und Folter an Menschen im Namen des Sozialismus, so das offizielle Diktum. Wer in den Akten nicht existiert, kann nie im Gefängnis gewesen oder gar misshandelt worden sein. Doch Konstantin lässt sich dies nicht gefallen, er will um jeden Preis seine vollständigen Akten sehen, denn es geht ihm nicht nur um nachträgliche Gerechtigkeit oder um die Bestätigung, dass Bulgarien doch ein Unrechtsstaat war, es geht ihm auch um seine Existenz: Er will nachvollziehen, für was er gekämpft hat und wofür er so lange im Gefängnis gewesen ist.

Doch wer nicht in den Akten verzeichnet ist, hat nie etwas getan – für Konstantin heißt das, dass er laut der aktuellen Regierung nie im Gefängnis oder gar ein Kritiker des Systems gewesen ist. Seine Geschichte, wie er sie kennt, existiert offiziell nicht. Für seine Kameraden und Freunde ist sein Kampf um die Akten und die Wahrheit unverständlich, er ist für sie jemand, der die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann. Doch er hält an seinen Überzeugungen – auch nach all den Jahren – noch immer fest, mit dem Wissen, dass er in den Akten jene Freunde, Kameraden und Familienangehörige finden wird, die ihn an die Staatssicherheit verraten haben. Konstantin befällt eine Blindheit gegenüber der Gegenwart. Er erkennt nicht einmal, dass seine Nachbarin in ihn verliebt ist und ihm anbietet, endlich ein Leben ohne die belastende Vergangenheit zu führen.

Auf der anderen Seite steht Metodi, der von Jugend auf dem Sozialismus verhaftet ist. Schnell erkennt er, dass nur Macht ein Garant für das Überleben ist. Metodi entwickelt sich zum Machtmenschen, der sogar seinen alten Lehrmeister verrät, um schnell die Karriereleiter ein Stück nach oben zu klettern. Folter ist für ihn ein legitimes Mittel, um die Sicherheit der Volksrepublik zu sichern. Auch nach dem politischen Umbruch sieht er sich immer noch im Recht, er bereut nichts, denn für ihn ist und war die Staatssicherheit der einzige Garant für die Stabilität und Sicherheit des Staats. Er sieht sich als letztes Bollwerk gegen die von allen Seiten lauernden Gefahren. Und so verklärt er sich und seine Vergangenheit, der kein Partikel von Unrecht anhaftet: Unrecht haben immer nur die anderen begangen, diejenigen, die sich im Widerstand befanden.

Trojanow stellt dem Leser nicht nur das alte Schema von Gut und Böse, von Täter und Opfer vor, auch wenn es im Roman eine nicht unerhebliche Rolle spielt, dennoch geht er darüber hinaus: So wie Macht und Widerstand zusammengehören, die zwei Seiten einer Medaille, so gehören auch Konstantin und Metodi als Repräsentanten unzertrennlich zusammen. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, immer wieder versucht Metodi Konstantin zu brechen. Dennoch gleichen sich die beiden sich in gewissen Punkten – denn die Seiten einer Medaille teilen sich auch einen gemeinsamen Grund. Sowohl Metodi als auch Konstantin können nicht in die Zukunft blicken, immer wieder zieht es ihre Blicke in die Vergangenheit, und beide erkennen nicht ihre Probleme mit ihren Mitmenschen: Konstantin erkennt nicht die Liebe seiner Nachbarin und den Schutz seiner Freunde vor der Enttäuschung des Verrats, den der Akteneinblick zwangsläufig offenlegen wird. Denn der Verrat, den Konstantin bereits ahnt, aber noch nicht wissen kann, wer ihn begangen hat, macht ihn auch misstrauisch gegenüber den Menschen. Selbst nach dem Ende des Sozialismus legt er seine Skepsis nicht ab.

Metodi ist ebenfalls Menschen gegenüber misstrauisch, auch er wittert Verrat an jeder Ecke. Niemand will ihm etwas Gutes, so seine Gedanken. Sein größtes Glück, ein eigenes Kind, bleibt ihm auch dann verwehrt, als ihn seine Tochter, die aus einer Affäre – oder Vergewaltigung? – mit einer Gefangenen hervorging, aufsucht. Metodi versperrt sich gegen den Gedanken, jemals etwas Unrechtes getan zu haben, dass ihm dieses späte Glück verwehrt bleibt. Eher glaubt er an ein Komplott seiner Gegner, die ihn stürzen wollen. Eigentlich liebt er seine Tochter, dennoch wäre das Eingeständnis eine Niederlage für ihn und den Staat. Der Preis für die Überzeugungen der beiden Protagonisten ist ein hoher: Zwischenmenschliche Beziehungen gibt es so gut wie nicht, alles reduziert sich auf Misstrauen und Verrat – und auf die Einsicht, dass Überzeugungen einsam machen. Hier drängt sich ein Vergleich zu einer anderen Figur Trojanows auf: Schon Zeno aus „EisTau“ (2011) war jemand, der für seine Überzeugungen den Preis der Entmenschlichung zahlte, der aber im Gegensatz zu Metodi und Konstantin die vollständige Isolation aus der Gesellschaft und den Freitod für seine Überzeugung wählte. Die beiden Protagonisten in „Macht und Widerstand“ wählen zwar nicht den Freitod, kämpfen aber bis zu ihrem Ende für ihre Weltsicht – und dies so wie Zeno notfalls mit Gewalt. Der eine mit Drohungen und Folter, der andere mit Bomben.

Trojanows Roman funktioniert sowohl auf der politischen Ebene als auch auf der menschlichen sehr gut, nie hat man das Gefühl, dass der Autor hier etwas völlig Unrealistisches erzählt. Das mag daran liegen, dass Trojanow für „Macht und Widerstand“ auf Berichte politischer Häftlinge und von Offizieren der Staatsicherheit, mit denen er Gespräche führte, zurückgegriffen hat. Daneben haben in den Roman Aktenauszüge aus dem Archiv der Staatssicherheit, die Trojanow teil- und zeitweise einsehen und für sein Buch benutzen durfte, Einzug gefunden. Diese Akten sind im Text entsprechend gekennzeichnet und fügen sich hervorragend in die Handlung ein. Nie wirken sie wie Fremdkörper, die nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben. Trojanow setzt sie intelligent ein und spinnt um sie herum die erzählerischen Fäden. Mal sind es Verhörprotokolle oder Spitzelberichte oder auch Auszüge aus Handhabungen für Folterungen. Ihr Inhalt ist oftmals schockierend, beispielsweise wenn man liest, wie ein Onkel den eigenen Neffen belastet oder wie man am besten einen potenziellen Häftling zum Geständnis zwingt. Das Schockierende daran ist jedoch nicht nur ihr Inhalt, sondern auch die Tatsache, dass die Dokumente keine Fiktion, sondern real sind.

Trojanow hat sich mit seinem neuen Roman auf nun mittlerweile für ihn bekanntes Terrain begeben, denn er bildet quasi den literarischen Teil seines Bulgarien-Triptychons: Seit vielen Jahren beobachtet Trojanow die politischen Geschicke seines Herkunftslandes Bulgarien und setzt sich stark für die Aufarbeitung der Gräueltaten des sozialistischen Systems ein. Er versucht, die damit verbundenen Lügen innerhalb der bulgarischen Gesellschaft zu durchbrechen. So drehte er die Dokumentation „Vorwärts und nie vergessen – Ballade über bulgarische Helden“ (2007) und veröffentliche das Reportagebuch „Die fingierte Revolution“ (2006), die sich wie sein aktueller Roman mit Opfern und Tätern dieser Zeit beschäftigen. „Macht und Widerstand“ ist jedoch keine bloße Wiedergabe seiner vorherigen Werke, sondern beschreitet eigenständige Wege und ist eine überaus stimmige (literarische) Erweiterung zur Dokumentation und zum Reportagebuch.

Titelbild

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
479 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024633

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