Piss-in in Westberlin

In seinem nachgelassenen Roman „Narrenreise“ erzählt Sigmar Schollak vom Kampf eines Einzelnen gegen die Berliner Mauer

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als John Randow 1945 als Soldat einer der vier Siegermächte über das faschistische Deutschland in den Trümmern Berlins steht, da fühlt er eine gewisse persönliche Verantwortung dieser Stadt und diesem Land gegenüber. Eine Sympathie, die er sich auch nicht kaputt machen lässt von dem, was in den nächsten Jahrzehnten auf deutschem Boden geschieht. Vor allem die im August 1961 errichtete Mauer, mit deren Hilfe sich Deutschland-Ost gegen Deutschland-West endgültig abzuschotten gedachte, zieht seinen Hass auf sich. Und so wirbt er in seiner Heimatstadt Seattle unter seinen Freunden und Bekannten darum, als eine Art demokratisches Expeditionskorps noch einmal den Atlantik zu überqueren, um vor Ort mit symbolträchtigen Aktionen auf den Widersinn dieses die Stadt teilenden Bauwerks aufmerksam zu machen. Doch weil sich niemand findet, der sich der Protestaktion im fernen Germany anzuschließt, setzt er sich schließlich allein in ein Flugzeug, um 44 Jahre nach seinem ersten Besuch in der deutschen Hauptstadt alles zu versuchen, das „Monstrum“ Mauer zu beseitigen.

Sigmar Schollak wurde 1930 in Berlin geboren. Der spätere Gründer des Schriftsteller aus Ost- und Westdeutschland vereinigenden  „Autorenkreises der Bundesrepublik“ war, anders als seine Eltern, die 1953 die DDR verlassen hatten, im östlichen Teil Deutschlands geblieben. Trotz erheblicher Repressalien durch die staatlichen Organe, die letzten Endes auch zu seiner Ausreise aus der DDR im Zuge der Biermann-Affäre führten, veröffentlichte er im Ostberliner Kinderbuchverlag bis 1980 zahlreiche Romane und trat eine Zeit lang auch als Musiker in Erscheinung. Seinem Hang zur Satire konnte Schollak so richtig aber erst nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik frönen. Der nun aus dem Nachlass des 2012 verstorbenen Schriftstellers herausgegebene kleine Roman „Narrenreise“ ist ein beredtes Beispiel dafür, wie „witzig und aggressiv, komisch und bedenklich in einem“ – so Günter Kunert in seinem Nachruf auf den Freund Schollak – einer zu sein vermochte, den viel zu wenige Leser zu seiner Zeit wahrnahmen.

Eine „Narrenreise“ ist es gleich in mehrerer Hinsicht, was der Roman ins Werk setzt: die Reise eines alten Narren zu einer weltgeschichtlichen Narretei ohnegleichen, deren Widersinn er mit Narrenstreichen wie einem „Piss-in“ an dem Betonungeheuer zu entlarven gedenkt. Dass dabei so einiges schiefgeht, ist nicht verwunderlich. Und dass ost- wie westdeutsche Geheimdienste ziemlich schnell auf die Aktionen des Amerikaners aufmerksam werden und versuchen, sie in seltsamer Einigkeit zu verhindern, eigentlich auch nicht. Am Ende des Buches ist John Randow jedenfalls wieder an dem Ort, von wo er auszog, die Mauer zu stürzen. Und am Fernsehapparat in Seattle darf er endlich mit Genugtuung verfolgen, wie das Bauwerk, dem sein ganzer Hass über Jahrzehnte galt, im Laufe einer einzigen verrückten Nacht geschleift wird.

Sigmar Schollaks Roman steckt voller skurriler Einfälle und Figuren. Da sind zum einen die, die die Mission, auf der sich der Amerikaner befindet, unterstützen. Maxwell Grabowski dient ihm als jugendlicher Cicerone durch Westberlin und hätte nichts dagegen, wenn sich zwischen seiner Mutter Hilke und dem verrückten Amerikaner eine Beziehung der festeren Art entwickeln würde. In Herrmann Friedrich Lowig schließlich findet er einen, der aus dem anderen Deutschland kommt. Leider ist der Mann per Ausreiseantrag der DDR entflohen, hat also keine allzu abenteuerliche Fluchtgeschichte, sondern nur einen ermüdenden Kampf mit der Hydra Bürokratie zu bieten und darf zudem auch nicht mehr zurück. So muss sich John Randow also allein über die Zonengrenze wagen, um einen Blick in die Welt jener zu tun, die ihm vor 28 Jahren sein geliebtes Berlin mit all den wundervollen Erinnerungen, die er daran mit sich herumtrug, in zwei Teile zerrissen hatten.      

Noch ironischer freilich gerät Schollaks Blick auf jene, die im Auftrag der Supermächte dafür zu sorgen haben, dass der Status quo an jener Grenze, die die Erste von der Zweiten Welt mitten in Europa scheidet, erhalten bleibt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Allianz aus russischen, amerikanischen sowie ost- und westdeutschen Regierungs- und Geheimdienstvertretern bildet, deren erklärtes Ziel es ist, den unbequemen Amerikaner, der sich nach seinem gescheiterten Piss-in mit einer Ramme an der Mauer einfindet, aus der Schusslinie zu bekommen. Doch Widersinn hat halt keinen Bestand. Und so führt die friedliche Revolution der Ostdeutschen letzten Endes dazu, dass das, was sich John Randow im Frühling 1989 vorgenommen hatte, im Herbst desselben Jahres noch zu Ende gebracht wird. Aus einer Donquichotterie wird Realität und der Querkopf Randow kann sich in seiner Bar in Seattle von den Freunden dafür feiern lassen, dass er den Anstoß zu Ereignissen gegeben hat, die die Welt veränderten.

Titelbild

Sigmar Schollak: Narrenreise. Roman.
Mit einem Nachwort von Klaus Pankow.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015.
157 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783954625390

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