Peer Gynt in Finnland

Frans Eemil Sillanpääs Novelle „Hiltu und Ragnar“ handelt vom Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oberflächlich betrachtet, besitzt diese Geschichte alles, was ein Märchen ausmacht: Ein reicher Prinz lebt in einem verwinkelten Schloss und sehnt sich nach Liebe. Wie gut, dass da ein neues Dienstmädchen auftaucht. Er könnte mit ihr etwas anfangen, sich sogar in sie verlieben, wäre da nicht seine neurotische Mutter, die das mit allen Mitteln zu sabotieren versucht. Das sind die Zutaten von Frans Eemil Sillanpääs Novelle „Hiltu und Ragnar“. Aber hier geht es nicht um eskapistische Happy-End-Literatur, sondern um die Darstellung zweier menschlicher Schicksale, deren Fundament in politischen und psychologischen Konflikten liegt.

Ragnar Palmerus, ein Finne mit schwedischen Wurzeln, lebt zusammen mit seiner Mutter, der Ehefrau des verstorbenen Rektors, auf einem herrschaftlichen Anwesen. Der Student der Ingenieurswissenschaften hat wenig Ablenkung. Von seiner Mutter verhätschelt, unterhält er kaum Kontakte zu anderen Menschen, außer zu den Dienstmädchen, die einander schon seit seiner Kindheit ständig abwechseln. Mit der Zeit entdeckt Ragnar, dass ihm die Dienstmädchen sehr zusagen, und lässt damit die schlimmsten Befürchtungen seiner Mutter in Erfüllung gehen, die lieber einen reinen, unschuldigen Sohn hätte. Deshalb ist sie zuversichtlich, als Hiltu, ein äußerst unscheinbares Mädchen aus einem nicht weit entfernten Ort, in der Villa zu arbeiten beginnt. Doch da hat sie sich getäuscht, denn Ragnar schickt seine Mutter mit einer List in den Urlaub, um sich Hiltu ungestört nähern zu können.

Der Berliner Guggolz Verlag macht mit der Veröffentlichung von Sillanpääs Novelle einen weiteren vergessenen Autor der Öffentlichkeit bekannt. Dieses Buch des bislang einzigen finnischen Nobelpreisträgers ist eine Art Vorgeschichte des schon im vergangenen Jahr erschienenen Romans „Frommes Elend“. Darin schildert Sillanpää die tragische Geschichte des Bauern Jussi-Toivola, der sich plötzlich inmitten des Bürgerkrieges wiederfindet. In „Hiltu und Ragnar“ geht es um eine von Jussi-Toivolas Töchtern, ein einsames, verarmtes Kind vom Lande, das zum ersten Mal mit der Bourgeoisie in Berührung kommt und diesen Kontakt nicht überleben wird. Dass es im Roman zum Äußersten kommt, nimmt Sillanpää schon nach wenigen Seiten vorweg. Nur wie, bleibt lange rätselhaft.

In Finnland herrscht Aufbruchsstimmung. Ragnar bekommt das durch seinen Kommilitonen Murtomäki zu spüren. Der kann die Internationale in verschiedenen Sprachen singen und glaubt an die Dialektik der Geschichte, auch wenn er Marxens Lehre nicht so genau nimmt; er möchte lieber ein „Bürgerlicher“ bleiben und nicht als idealistischer „Narr“ in der Gosse enden. Ragnar allerdings projiziert seine Wünsche nicht auf eine politische Teleologie, sondern bleibt auf dem Boden und möchte nach einer langen, schmerzhaften Einsamkeit erst einmal das Leben kennenlernen: „Er fühlte sich wie ein Mensch, der lange Zeit den anderen hinterhergehechelt war, sie endlich eingeholt hatte und nun mit auf den Karren steigen durfte, um die Strapazen des Laufens vergessen zu können.“ Im Moment dieser Erkenntnis erscheint Hiltu auf der Bühne, wenn auch nicht als mystische Offenbarung. Sie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, und das ist der Grund, weshalb sich Ragnar in sie verliebt.

Was sich Murtomäki auf politischer Ebene ersehnt, möchte Ragnar mit einer Beziehung zu Hiltu realisieren. Es ist die Geschichte einer Menschwerdung: Erst der Kontakt zu anderen verschafft Ragnar Einsicht in sein Inneres und eine gewisse Autonomie von seiner Mutter, unter deren übermäßiger Fürsorge er sehr zu leiden hat. Die sorgt nämlich dafür, dass die Instinkte des Sohnes verkümmern; der arme Junge weiß nicht, wohin mit seinen Gefühlen, weshalb er in seiner Zuneigung zu verschiedenen Dienstmädchen schwankt. Das aus Märchen sattsam bekannte Prinzen-Image zeigt Risse: Um Hiltu zu verführen, muss Ragnar Murtomäki und zwei andere Kommilitonen einladen. In seinem Inneren streiten zwei Naturen: die des Phlegmatikers und die des Hedonisten. Eine Mischung, die nicht von ungefähr an Henrik Ibsens Peer Gynt denken lässt. Denn zu einem Peer Gynt gehört auch eine Solveig.

Die ist, wie Murtomäki weinselig erkennen will, Hiltu, die allerdings nicht weiß, weshalb sie plötzlich anders heißen soll. Aber sie lässt sich, leichtgläubig wie sie ist, in die Abendgesellschaft einführen. Als Solveig kann sie jedoch den reichen, weitestgehend unsensiblen jungen Mann nicht zur moralischen Besinnung bringen; das wäre eine zu unglaubwürdige Wendung. Stattdessen macht sie Ragnar durch ihre Naivität und ihre Überforderung auf seine eigenen Fehler aufmerksam, ein Twist, der nicht unbedingt zu einem guten Ende führen muss. „C’est la lutte finale“, kommentiert Ragnars Kommilitone Sandström, und dieses Zitat aus der Internationalen wirkt wie ein Kommentar auf das noch folgende Geschehen: Ragnar verführt Hiltu, oder versucht es zumindest, und sie, verwirrt von ihrer unverhofften Verliebtheit, begeht Selbstmord.

Sillanpää verhandelt in seiner Novelle die Frage, wie sich Ideal und Realität zueinander verhalten. Johann Wolfgang von Goethes „unerhörte Begebenheit“, die Liebesgeschichte zwischen der armen Hiltu und dem reichen Ragnar, darf nicht glücklich enden, denn sowohl Solveig als auch Peer wissen nicht, wo der Pfad der Tugend liegt. Sillanpää hat eine äußerst ernüchternde Version von Ibsens bekanntestem Drama geschrieben, die noch nicht einmal den Versuch einer Verklärung zulässt. Es ist dennoch nahelegend, auf die Dichtung zurückzugreifen, um einen kurzzeitigen Ausweg aus der Mühsal des Lebens zu finden, aber es kommt darauf an, diese Bürde zu ästhetisieren. Erst im Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Ideal entfaltet diese Erzählung ihren Reiz, zumal von Anfang an klar ist, wo die Sache hinführen wird. Das erlaubt es Sillanpää, als auktorialer Erzähler aufzutreten, der die Ereignisse stillschweigend kommentiert, etwa, als Hiltu sich ihrer Gefühle langsam bewusst wird. Sillanpää spielt an dieser entscheidenden Stelle nicht nur auf eine mögliche Beziehung zu Ragnar an, sondern gibt mit einer allgemeinen Auskunft über die psychologischen Eigenheiten der Menschen einen Ausblick auf den humanistischen Horizont seiner Geschichte: „Wenn sie nach der Verwirklichung strebten, musste etwas zu Bruch gehen, damit Neues entstehen konnte. Aber auch die erwachsenen Menschenkinder können nicht immer die Entstehung von Neuem verkraften.“

Hierin liegt eine bittere Erkenntnis, die Ragnar von Ibsens Peer Gynt trennt. Gleichzeitig ist es jedoch gerade sein unrealisierbares Ideal einer Liebesbeziehung, das ihn zu Hiltu treibt. Die Enttäuschung, die das zwangsweise mit sich führt, hinterlässt Hiltu als Opfer. Aber hat Ragnar aus seinem Scheitern gelernt? Eher nicht. Sillanpää bezeichnet ihn ironisch als „fein besaiteten“ Mann und liefert mit dieser Charakterisierung einen Ausblick auf Ragnars Zukunft. Die Geschichte hat keine fortlaufende Handlung, sie wiederholt sich, und so wird der Sohn des verstorbenen Rektors immer am Beginn seines Märchens steckenbleiben, auf der Suche nach einem neuen Dienstmädchen, das er vergöttern kann, und mit seiner Mutter im Rücken, die das verhindern will. Gerade deshalb ist „Hiltu und Ragnar“ keine Coming-of-Age-Geschichte. Ragnar muss zwar seine Komfortzone verlassen und neue Erfahrungen machen, aber es ist fraglich, ob er sich in einem ähnlichen Konflikt an seine Lektion erinnern wird. Aus einer solchen Grundsituation hätte Sillanpää eine furchtbar pessimistische Geschichte über das Schicksal entwerfen können, etwa unter dem Motto „Warum lernen Menschen nie etwas?“ Er verzichtet jedoch auf Sozialkitsch und arbeitet mit den Mitteln eines distanzierten und genauen Beobachters, der den Figuren seiner Geschichte sowohl ein historisches als auch psychologisches Fundament zur Verfügung stellt.

Titelbild

Frans Eemil Sillanpää: Hiltu und Ragnar. Roman.
Mit einem Nachwort versehen von Panu Rajala.
Übersetzt aus dem Finnischen von Reetta Karjalainen.
Guggolz Verlag, Berlin 2015.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370056

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