Die Urmutter des Cyberpunk

Der zweite Band von James Tiptree jr.’s Science-Fiction-Erzählungen wartet mit einigen Klassikern des Genres auf

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fremd sind die Aliens nur auf der Erde. Und das vor allem in Science-Fiction-Storys. Denjenigen von James Tiptree jr. zum Beispiel. Als letzter der acht Bände ihrer „sämtlichen Erzählungen“ ist nun der numerisch zweite erschienen. Er trägt den Titel „Liebe ist der Plan“ und enthält die insgesamt 18 in den Jahren 1970 bis 1974 erstmals publizierten Science-Fiction-Storys Alice B. Sheldons. Entstanden sind sie zwischen 1969 und 1972. Mit Ausnahme einer Geschichte, „Angel Fix“, sind sie alle unter dem Pseudonym James Tiptree jr. erschienen. Doch auch diese eine hat sie keineswegs unter ihrem tatsächlichen Namen veröffentlicht, sondern als Raccoona Sheldon.

Als Nachwort wurde der berühmte Text „Wer oder was ist Tiptree“ von Robert Silverberg aufgenommen, in dem ihr Science-Fiction-Kollege die unter männlichem Pseudonym publizierende Frau für einen Geschlechtsgenossen hält, den er für seine ‚männlichen‘ Schreibweise rühmt. In dem 1975 erschienen Text weist Silverberg die Spekulation, „Tiptree sei eine Frau“ als „absurd“ zurück. Denn „Tiptrees Schreibstil“ habe „etwas unbedingt Maskulines“. Daher sei „sein Werk mit dem Hemingways vergleichbar“. So phantasiert sich Silverberg die Autorin Tiptree aufgrund der Lektüre etlicher ihrer Science-Fiction-Storys als „Mann von schätzungsweise 50 oder 55 Jahren“ zurecht, „vermutlich nicht verheiratet, gerne in der freien Natur, ruhelos in seinem Alltag, ein Mann der viel von der Welt gesehen hat und sie eingehend begreift.“ Drei Jahre später wurde Tiptrees Identität publik. Silverbergs Reaktion auf die Nachricht, dass sich hinter dem Pseudonym Tiptree eine Frau verbarg, wurde ebenfalls angehängt: „Sie hat mich herrlich zum Narren gehalten, ebenso wie alle anderen, und sie hat zudem die gesamte Vorstellung davon, was ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ Literatur ist, in Frage gestellt. Ich habe immer noch daran zu kauen. Aber mir ist klar geworden, dass es Frauen gibt, die über traditionell männliche Themen sachkundiger schreiben, als die meisten Männer schreiben können“.

Gleichviel, ob Tiptree nun einen ‚männlichen‘ oder ‚weiblich‘ Stil pflegte, immer wieder zeigen ihre Storys, dass „die Menge an Leid in diesem Universum grauenvoll“ und nur schwer zu überbieten ist. Allerdings erschöpfen sich weder die Storys noch das Universum in schierem Leiden. Zumindest erstere sind immer wieder voller Witz, Geist und Humor – und natürlich voller Liebe, die dann aber wiederum nicht selten in Schmerz und Leid mündet. Genauer gesagt ist es nicht die Liebe, sondern der Sex, der zu einem tragischen Ende oder Anfang führt – ja nach Perspektive.

So auch in der titelstiftenden Story. Genau genommen verschweigt der Titel des Bandes „Liebe ist der Plan“ noch, was derjenige der Geschichte bereits verrät: „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“. Doch was der Einen letal, ist dem Anderen natal. So ist das oft in Tiptrees Science-Fiction-Universen. Allerdings führt auch der Titel der Story selbst noch in die Irre. Denn nicht Liebe treibt das Geschehen voran, sondern der Sexualtrieb. Wie aber klänge auch ein Titel, der „Sex ist der Plan, der Plan ist Tod“ oder gar „Fortpflanzung ist der Plan, der Plan ist Tod“ lautete? Eben. Vielleicht aber ist der eigentliche Plan auch nichts von alledem, sondern Werden und Vergehen. Wer weiß das schon?

Auch die Titel der anderen Storys klingen nicht selten enigmatisch oder auch alltagsbanal, gelegentlich sogar beides. Sie heißen etwa „All die vielen Jas“, „Und so weiter, und so weiter“, „Ich warte auf euch, wenn der Swimmingpool leer ist“ , „Der Mann, der nachhause ging“ oder „Da fuhr ich auf und fand mich hier auf dem kalten Hang“. Eine Science-Fiction-Story würde man wohl hinter keinem dieser Titel erwarten, wüsste man nicht, dass sie von Tiptree geschrieben wurden. Anders bei der Eingangsgeschichte „Das eingeschaltete Mädchen“. Als Urmutter des Cyberpunks und Vorbotin eines ganzen neuen Subgenres der Science-Fiction ist sie zugleich die bekannteste und wirkmächtigste des Bandes.

Fast alle Storys atmen die psychedelisch geschwängerte Atmosphäre ihrer Entstehungszeit. Am deutlichsten macht dies der Titel der Story „Mother in the Sky with Diamonds“. Er spielt auf den Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ an, der wiederum als Chiffre für die damals als bewusstseinserweiternd gepriesene Droge LSD gelesen wurde. Der Protagonist ist ein alter Kauz, „der aus den Zeiten zurückgeblieben war, als die Menschen noch in Maschinen zu den Sternen reisten“, und der noch immer gerne die Stones-Songs seiner Jugend hört. Tatsächlich ist die Story selbst dabei gar nicht so sonderlich psychedelisch, sondern kommt einem ‚echten‘ (also konventionellen) Weltraumabenteuer noch am nächsten und verlässt dabei nicht einmal das Sonnensystem. „Zugedröhnt“ sind die Figuren der Geschichte allerdings des Öfteren.

Auch in der satirischen Geschichte „All die Vielen Jas“ sind die „ziemlich primitive Brutrituale mit einer Art migratorischer Sippenbildung“ pflegenden  BewohnerInnen einer wohlbekannten Welt schon mal „vollgedröhnt“. In „Ich warte auf euch, wenn der Swimmingpool leer ist“ lässt Tiptree ihr bitterböses satirisches Talent dann völlig von der Leine. Diesmal knöpft sie sich einen sich als Entwicklungshelfer gerierenden jungen Mann vor, der ebenso wohlmeinend wie naiv ans Werk geht, um den einander bestialisch bekriegenden und unterdrückenden Bewohnern eines barbarischen Planeten Freiheit, Friede, Freundschaft und was dergleichen guter Dinge mehr sind, zu bringen. Wie sich versteht, ohne deren „kulturelle Identität“ zu missachten. Zwar weder zu- noch vollgedröhnt, allerdings vielleicht auch nicht völlig klaren Sinnes sind die Wissenschaftler in der rein humoristischen Geschichte „Der nachtblühende Saurier“.

In „Schmerzweise“, einer Geschichte über Leiden und Schmerz, zeigt die Autorin, wie geschickt sie Komik und Tragik miteinander zu verknüpfen versteht. Diesmal schickt Tiptree ihren Protagonisten, „eine umgearbeitete Version des normalen Menschen“, die „quer zur Zeit“ lebt, auf einen wahren Horrortrip, der zwischendurch ins Kulinarisch-Komische kippt, um schließlich in reinem Grauen zu enden. Skurril-phantastisch nimmt sich hingegen die Story „Der Mann, zu dem die Türen Hallo sagten“ aus. Es mag auch zweifelhaft erscheinen, ob man sie überhaupt dem Science-Fiction-Genre zurechnen sollte. Keine Frage ist dies hingegen bei der Weltraumgeschichte „Und so weiter, und so weiter“, in der sich die älteren Angehörigen diverser galaktischer Spezies nicht eins darüber werden können, was Heldentum ausmacht, während die nachwachsende Generation neugierig ins Unbekannte äugt. „Da fuhr ich auf und fand mich hier, auf dem kalten Hang“ ist eine von Tiptrees zahlreichen Geschichten die von Sex handeln, irdischem und außerirdischem. Als zweites Thema tritt hier der Kolonialismus hinzu. Sollten beide gar etwas miteinander zu tun haben?

Die vielleicht feministischste Story des Bandes handelt von „Frauen, die man übersieht“.  Ein männlicher Ich-Erzähler reiferen Alters stürzt mit dem Piloten und zwei Frauen in den Mangroven-Sümpfen Yukatans ab. Während des Fluges würdigt er die beiden „verschwommenen Flecken Weiblichkeit“ mit ihren „Mäuschenstimmen“ kaum eines Blickes. Hat er schon vor dem Abflug gemutmaßt, sie könnten Mutter und Tochter sein, so bestätigt sich seine Annahme nach dem Crash. In den Sümpfen muss er bald „irritiert“ feststellen, dass sich „diese verfluchten Weiber noch kein bisschen beschwert“ haben. „Kein Muckser, kein Zittern in der Stimme, überhaupt kein Ausdruck von Persönlichkeit“. Derlei Reaktionen allerdings wären nun durchaus nicht Ausdrucksweisen von „Persönlichkeit“. Vielmehr spiegeln sich in der Irritation des Erzählers Erwartungshaltungen, die auf misogynen Weiblichkeitsklischees fußen. Später widerfährt ihm mit einer der Frauen gar noch „die absolut peinlichste intime Situation seit Jahren“. Er schläft neben ihr, ohne mit ihr zu schlafen. Wahrhaftig unvorstellbar. Während der Pilot und die erwachsene Tochter am Wrack zurückbleiben, macht er sich mit der Mutter auf, um Trinkwasser zu suchen. Als er unterwegs vermutet, die unverheiratete Mutter sei wohl „irgend so eine berufsmäßige Männerhasserin“, antwortet diese mit einem Lächeln und einem spöttischen Blick zum „peitschenden Regen“: „Ich hasse die Männer nicht. Das wäre genauso dumm wie – das Wetter zu hassen.“ Mag die Story auch die eine oder andere Frage offen lassen. Eines zumindest ist gewiss: Frauen, die mann übersieht, sollte mann nicht auch noch unterschätzen.

In der Geschichte „Am letzten Nachmittag“ wünscht sich der todgeweihte Protagonist, „frei zu sein von der Tyrannei der Spezies, frei von der Liebe. Zu leben für immer …“. Im Zentrum der Story steht die Urgewalt der Sexualität. Sie wird in drastischen Worten in Szene gesetzt, wenn sich die „Monster“ des Handlungsplaneten paaren: „Das Glied“ des männlichen Parts „schlug blind herum, bäumte sich wild auf.“ Schließlich tötet er im Sexualakt, der alles, nur kein Liebesakt ist, zunächst seine Paarungspartnerin und anschließend sich selbst. Zwar ist das noch ganz der übliche Gang der Dinge – zumindest in dieser fernen Science-Fiction-Welt. Doch wieder einmal geht das, wie so oft bei Tiptree, alles nicht gut aus. Weder für die heimischen Monster noch für die gestrandeten Menschen.

Nicht nur um schieren Sex, sondern tatsächlich einmal um Liebe geht es in der Story „Ein Leben für eine Hudson Bay Wolldecke“. Aber auch hier spielt die Sexualität eine zentrale Rolle. Dabei beweist Tiptree, wie problemlos sie einem männlichen Protagonisten Leben und eine Seele einhauchen kann. Nun ja, eigentlich eher Leben und eine Männerphantasie. Genauer gesagt, eine männliche Sexphantasie. Zudem variiert die Story ein berühmtes Zeitparadoxon auf ausgesprochen humoristische Art. Traurig ist aber letzten Endes auch sie. Wie könnte sie auch nicht? Schließlich handelt sie von der Liebe – und Tiptree hat sie geschrieben. Denkbar schlechte Voraussetzungen für ein Happy End.

Titelbild

James Tiptree Jr.: Liebe ist der Plan. Sämtliche Erzählungen, Band 2.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers, Elvira Bittner, Frank Böhmert, Sabrina Gmeiner, Laura Scheifinger, Andrea Stumpf, Samuel N. D. Wohl und Margo Jane Warnken.
Septime Verlag, Wien 2015.
526 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711373

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