Die Welt an einen Platz bringen

„Die ersten Suchmaschinen“: Anton Tantners Studie über frühneuzeitliche Fragstuben, Intelligenz-Comptoirs und Berichthäuser

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben ohne Google, Bing und Co.? Das kann sich heute eigentlich keiner mehr so recht vorstellen. Dennoch kam die Gesellschaft auch ohne digitale Suchmaschinen aus, schließlich gab es ja analoge Alternativen: Branchenverzeichnisse, Telefonbücher oder Mitfahrzentralen. Dass es aber einmal möglich sein würde, „die Informationen der Welt zu organisieren“, wie Google sein selbst gestecktes Ziel beschreibt, „und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen“, hat bis zur Erfindung des Internets niemand zu träumen gewagt – oder?

Tatsächlich war die Idee, sämtliche Informationen zu sammeln und zu vermitteln, schon erstaunlich lange in der Welt, wie der Wiener Historiker Anton Tantner in seiner Studie „Die ersten Suchmaschinen“ nachweist – und wurde mit den sogenannten „Adressbüros“ sogar ernsthaft zu realisieren versucht. 1751 etwa teilte der Romancier Henry Fielding den Londonern mit, das von ihm und seinem blinden Halbbruder John in The Strand eröffnete „Universal Register Office“ habe das Ziel, „die Welt […] zusammen an einen Platz zu bringen“. Als „universaler Mittelpunkt“ sollte es Käufer und Verkäufer von Waren, Informationen und Dienstleistungen aller Art miteinander in Kontakt bringen, Dienstherren und Diener ebenso wie Vermieter und Wohnungssuchende oder Gelehrte und Erfinder.

Tantner erforschte bereits die Geschichte der Hausnummer (2007) und gab 2012 den Sammelband „Vor Google“ mit heraus. Den Internet-Begriff „Suchmaschine“ auf die frühneuzeitlichen Adressbüros zu übertragen, hält der Historiker für einen legitimen, da „kontrollierten Anachronismus“ im Dienste des Erkenntnisgewinns. Das Resultat überzeugt: Quellennah und in einem angenehm lebendigen Stil verfolgt Tantner die Geschichte von Idee und Praxis dieser Einrichtungen bis ins späte 19. Jahrhundert, als sie von den Zeitungen und General-Anzeigern abgelöst wurden.

Die Gebrüder Fielding waren weder die einzigen noch die ersten, die eine solche Vision verfolgten: In Paris sprach man schon im 17. Jahrhundert von „Bureaux d’adresse“, in London von „Offices of Intelligence“, bald darauf in Wien von „Fragstuben“, in Preußen von „Adressbüros“ und in der Schweiz von „Berichthäusern“ (in Zürich wurde zumindest der Name noch bis 2004 für eine Druckerei verwendet) – vergessene Einrichtungen aus einem vordigitalen Medienzeitalter, die „in ihrer schillernden Vielfalt an Kunst- und Wunderkammern“ erinnern, wie Tantner konstatiert.

Wunderkammern – oder universalen Verkaufsplattformen wie Amazon – glichen die Adressbüros auch deshalb, weil Verkäufer gern ihre Waren in den jeweiligen Räumlichkeiten kommissionsweise hinterlegten: „Knöpfflein“ ebenso wie „Lissabonsche Schokolade“, „güldene Sackuhren“ oder „Pompadourisches Zahnpulver“. Manch findiger Adressbüro-Betreiber erweiterte sein Angebot noch um ein Lektürekabinett, veranstaltete populärwissenschaftliche Vorträge oder offerierte die Möglichkeit von Ferndiagnosen anhand eines Fragebogens à la Netdoktor – was prompt den Protest medizinischer Fakultäten auslöste.

Tantner zufolge begann alles mit Michel de Montaigne, der in seinen Essais schrieb: „der eine sucht dies, der andere das, jeder nach seinem Bedarf“, warum also nicht „in den Städten eine bestimmte Stelle“ einrichten, die alle Angebote, Wünsche und Suchanfragen registriert, um den „Austausch von Informationen“ zu erleichtern? Viele nachfolgende Visionäre beriefen sich auf Montaigne und verbanden mit der Idee mitunter handfeste sozialreformerische Absichten, die den heutigen Gesellschaftsutopien von Google kaum nachstehen. So träumte der englische Gelehrte Samuel Hartlib in den 1640er-Jahren von einem „Office“, das alles verfügbare Wissen sammeln und zur Verfügung stellen würde, um so eine Reform des Königreichs zu ermöglichen und eine „wohlgeordnete Gesellschaft“ entstehen zu lassen.

Auf den praktischen Nutzen rekurrierte dagegen kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz, der 1712/13 die Einrichtung eines „Notiz-Amtes“ vorschlug, in dem nicht nur „leute, die einander von nöthen haben, von einander kundschafft bekommen können“, sondern darin „bekommt [einer] auch offt gelegenheit etwas zu suchen und zu verlangen, darauff er sonst nicht gedacht hätte“ – in dem man sich also den Zufall planmäßig zunutze machen könnte.

Zu den Ergebnissen von Tantners Studie gehört, dass bereits die Diskussionen um diese durchaus umstrittenen Einrichtungen wie die heutigen ums Internet, um die Pole „privacy“ und Kontrolle pendelten. Zwar warben Pioniere der Adressbüros wie Théophraste Renaudot, der in Paris nach 1630 sein „Bureau d’adresse“ führte, damit, die Anonymität ihrer Kunden zu wahren, wozu etwa ausgeklügelte Systeme mit getrennten Registern entwickelt wurden. Zugleich weckten sie aber erste Überwachungsfantasien wie die, dass man mit einem Adressbüro Dienstboten oder Fremde in der Stadt kontrollieren könnte.

Da sich in den Archiven aber nur wenige Dokumente dieser fast immer privat betriebenen, oft nur kurzlebigen Einrichtungen erhalten haben, bleibt einiges in Tantners Studie spekulativ. Sie erregten nachweislich Aufsehen, aber wie erfolgreich waren sie tatsächlich? Zumindest Renaudot brüstete sich damit, bis 1647 über 80.000 Arbeitsstellen vermittelt zu haben – und König Ludwig XIII. ein isabellfarbiges Pferd passend zu den anderen seiner Karosse.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 1.12.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015.
176 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136541

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