Auf dem Wege sein

Zum Tod des tschechischen Philosophen und Pädagogen Radim Palouš

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Radim Palouš hatte das Amt als Rektor der Prager Karls-Universität in einem Alter übernommen, in welchem üblicherweise an den Ruhestand gedacht wird. Die Amtsübernahme erfolgte im Zuge der „Samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei und mit der Persönlichkeit von Radim Palouš war die richtige Wahl getroffen worden. Der gebürtige Prager verkörperte intellektuelle Redlichkeit, ohne Rücksicht darauf, ob es der persönlichen Karriere schaden könnte. Courage und Mut zeichneten ihn als charakterstarken wie gebildeten Mitteleuropäer aus. Die Angst vor Verfolgung in einem „Arbeiter-und Bauern-Staat“ kannte er sehr wohl, weigerte sich aber, sich ihr zu unterwerfen.

Bereits während der Protektoratszeit musste er Zwangsarbeit leisten und als junger Mann beteiligte er sich am Aufstand gegen die Fremdherrschaft im Frühjahr 1945. Während des Studiums der Philosophie an der Karls-Universität traf er auf den Philosophen Jan Patočka, der ihn prägte und sein weiteres Leben im freundschaftlichen Gespräch begleiten sollte. Es folgten Schikanen und Willkür in den stalinistischen Jahren ebenso wie nach der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968.

Aufgrund politisch bedingter Entlassungen als Lehrer wie auch als Hochschullehrer musste Palouš seinen Lebensunterhalt an der Werkbank und als Heizer verdienen. In den 1980er-Jahren fungierte er als einer der Sprecher der Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77. Seiner philosophischen wie publizistischen Berufung blieb Palouš auch in all den Jahren treu, in denen seine Texte nicht veröffentlicht werden durften. Er hielt seine Forschungen über Johann Amos Comenius aufrecht und entwickelte seine eigenen Ansätze zu einer neuen Pädagogik weiter, um sie nicht zuletzt in den sogenannten „Wohnungsseminaren“ zur Anwendung zu bringen. Seine Schriften erschienen maschinengetippt im Untergrund, dem sogenannten Samizdat. Eine seiner nachdenklichsten Reflexionen war 1993 auch in Deutschland erschienen. Im Academia Verlag liegt in hervorragender Übersetzung von Miloslav Anděl und Klaus Schaller die Schrift „Das Weltzeitalter“ vor. Palouš war, wie der Untertitel „Hypothese über das Ende der Neuzeit, das Ende der europäischen Epoche und über den Anfang des Weltzeitalters“ belegt, seiner Zeit weit voraus. Verfasst hatte er diese Studie unter den Argusaugen der Polizei, die seine Aufenthalte zu Studienzwecken im Prager Klementinum stundenlang observierten.

Palouš hielt die Periodisierungen von Geschichte für legitime Versuche, ihrem „Sinn“ auf die Spur zu kommen. Er lehnte den Glauben an einen gesetzmäßigen Fortschritt ebenso entschieden ab wie jene „gnostische Anmaßung“, die für sich in Anspruch nimmt, den Schlüssel für alle Fragen des menschlichen Daseins zu besitzen. Palouš stand in der europäischen Tradition des wissenschaftlichen Denkens, doch gleichzeitig stellte er fest, dass dies alleine nicht ausreicht, der „spirituellen Verlegenheit“ unserer Zeit abzuhelfen. Die Globalität der atomaren und ökologischen Krisen habe, so Palouš, das Gefühl einer Abwesenheit jeglichen Sinnes ausgelöst. Dagegen setzte er die Verantwortung des Einzelnen, der sich nicht als ein in die Welt Geworfener begreift, sondern als Partner und Sachwalter der Dinge. Bewusst nahm Palouš die Gratwanderung akademischer Analyse zur Metaphysik in Kauf. In der Theologie sah er „eine lebendige, wundervolle Möglichkeit der geistigen Synthese der Wege von ‚Logos‘ und ‚Mythos‘, die sich einst am Anfang des europäischen Denkens so unglücklich getrennt haben“. Unmissverständlich plädierte der gläubige katholische Christ Palouš dafür, dass die Menschheit es sich nicht leisten könne, die Kraft des Mythos zu verachten. Geschichte stelle sich als „offene Aufgabe“ dar, der wir lediglich unsere Unvollkommenheit entbieten können: „So ist die Wissenschaft von ihrem Wesen her christlich, aber auch griechisch: Es geht um das Auf-dem-Wege-Sein“.

Radim Palouš ist am 10. September 2015 im Alter von 90 Jahren verstorben.