Als das Kino noch Rebell war

Ioana Crăciun enthüllt, wie das Weimarer Kino systematisch bürgerliche Werte und Normen infrage stellte

Von Silke HoklasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Hoklas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kino als ein zwielichtiges, proletarisches, rein kommerziell orientiertes Unterhaltungsmedium für die Massen, dem moralische Werte und Maßstäbe grundsätzlich fernliegen – dieses in den 1920er-Jahren noch weit verbreite Vorurteil über das neue Medium Film hat sich die Bukarester Germanistin Ioana Crăciun als Ausgangspunkt genommen. Sie macht daraus eine interessante Studie über den mal unterschwelligen, mal offensiven Angriff des Weimarer Kinos auf die Werte und Prinzipien des Bürgertums. Crăciuns Ausgangsthese lautet: Gerade weil „der Stummfilm sich in der Zeit der Weimarer Republik als Alternative zur logozentrischen bürgerlichen Hochkultur entwickelte“, wurde darin in besonderem Maße „das Bürgerliche einer systematischen Dekonstruktion unterzogen“.

Weil Crăciun dabei nicht versucht, sich auf ein konkretes Genre oder auf bestimmte Motive zu konzentrieren, sondern scheinbar Disparates zusammenbringt, wirkt ihre Zusammenstellung auf den ersten Blick recht arbiträr. Der Blick auf das Inhaltsverzeichnis offenbart eine bunte Mischung: Im Fokus stehen Kinder- neben Verbrecherfiguren, die Darstellung von Homosexualität, das Großstadt- und das Doppelgängermotiv im Weimarer Kino. Vieles davon ist bereits hinlänglich erforscht, sodass man sich fragt, ob innovative Erkenntnisse hier tatsächlich noch zu erwarten sind. Der erste Eindruck, es hier mit einer willkürlichen Thesensammlung zu tun zu haben, verfliegt beim Lesen jedoch schnell. Bereits nach wenigen Seiten fügt sich Crăciuns breites Spektrum an Themen und Filmen zu einem stimmigen Bild.

Dabei wird zugleich etwas greifbar von jener, wie Crăciun beteuert, „zeitlich zwar fernen, psychologisch jedoch nahen“ deutschen Zwischenkriegszeit und ihren stummen schwarz-weißen Filmen. Denn beinahe beiläufig erhält man beim Lesen Einblick in die enorme Spannbreite dieser für Deutschland so bedeutenden Filmepoche. Crăciun führt die Leser zielstrebig und gradlinig durch ihre wissenschaftlichen Ergebnisse. Das liegt nicht nur an der stringenten Argumentationsweise der Autorin, sondern unter anderem auch daran, dass sie durchweg ein gut dosiertes Maß an Hintergrundwissen zu den Filmen liefert und sich auf eine jeweils überschaubare Anzahl von Filmbeispielen konzentriert, aus denen sie einzelne Schlüsselszenen und -figuren für ihre Analysen herausgreift.

Neben den heute kanonischen Filmen der Zeit finden manchmal auch eher unbekannte Produktionen wie Der Bettler vom Kölner Dom von Rolf Randolf Eingang in die Untersuchung. Insgesamt konzentriert sich Crăciun aber auf die Größen des Weimarer Kinos. Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Robert Wiene, Paul Leni – sie alle sind (größtenteils mit mehreren Filmen) vertreten, die als Fallbeispiele untersucht werden. Der Band liest sich dadurch auch wie eine spannende Einführung ins Weimarer Kino. Das macht ihn zweifelsfrei vorrangig, aber nicht ausschließlich für ein Fachpublikum interessant. Reizvoll ist dieser Blick auf das Weimarer Kino außerdem, weil sich die Autorin, die keine Filmhistorikerin oder Filmwissenschaftlerin, sondern Germanistin ist, der Materie mit einem dezidiert interdisziplinären, kulturwissenschaftlichen Blick von außen nähert. Auch weil Crăciun sprachlich weitestgehend auf akademische Floskeln verzichtet, darf man ihren Band getrost als Lesebuch zum Weimarer Kino verstehen, diesem uns auf den ersten Blick in seinen stummen Filmbildern heute schon so fernen, tatsächlich aber noch sehr vertrauten Dokument deutscher Zeitgeschichte. Nur der inflationäre Gebrauch des Ausrufezeichens stört manchmal den Lesefluss.

Was jedoch eingangs fehlt, ist eine klare Definition davon, worauf die titelgebende „Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik“ genau abzielt. Was konkret sind die Werte, die das Weimarer Kino angriff, die „ironisiert und verworfen, jedoch auch gut geheißen, ja mitunter sogar verherrlicht“ werden, wie die Autorin selbst einräumt? Mit der Zeit ergibt sich zwar ein Bild davon, was hier „dekonstruiert“ wird, zum Beispiel die fest zementiert erscheinenden Geschlechterrollen einer patriarchalischen Gesellschaft, die auf Eigentum und Pflichterfüllung, auf Triebkontrolle und einem Ethos der Vernunft basiert, aber hier wäre ein klarer Erwartungshorizont in der Einleitung wünschenswert gewesen.

In insgesamt fünf Kapiteln rückt Crăciun dann fünf unterschiedliche und auf den ersten Blick eben durchaus disparate Themenbereiche in den Fokus, die jedoch bewusst konträr angelegt sind. Diese verbinden sich zusammen betrachtet zu einem sehr guten Gesamtbild, das Crăciuns These durchweg stützt, das Weimarer Kino untergrabe Werte und Normen des Bürgerlichen deshalb so massiv, weil das Medium in dieser Zeit ohnehin als zutiefst unbürgerlich wahrgenommen und gerade deshalb zur bevorzugten Plattform, ja regelrechten „Domäne der künstlerischen Avantgarde und der antibürgerlich gesinnten Künstler und Schriftsteller“ der Zeit wurde.

Crăciun startet mit Bildern der Großstadt, deren Darstellung in unzähligen Filmen der Zeit im Mittelpunkt steht. Sie wählt dabei als Einstieg bewusst drei Klassiker der deutschen Stummfilmzeit: Asphalt von Joe May und die beiden Filme Die freudlose Gasse und Geheimnisse einer Seele von G. W. Pabst. Dabei gelingt es ihr vom ersten Beispiel an, bislang kaum beachtete Spitzen gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Werte und Strukturen in den Filmen aufzuzeigen. An einzelnen Szenen belegt sie das gesellschaftskritische Potential der Großstadtbilder, indem sie etwa die negativen Auswirkungen der bei Joe May „symbolisch zu verstehende[n] Asphaltierung“ im Sinne einer Urbanisierung, die Umwelt und menschliche Natur durch die Zementierung zerstört, herausstellt. Der Leser begegnet Verbrecherinnen, die Ordnungshütern eine Lektion erteilen, was individuellle Freiheit bedeutet; zugleich werden pflichttreue Beamte erstmals im Konflikt mit sich selbst und der bürgerlichen Gesellschaft zu „Sympathie weckenden Menschen“.

Im nächsten Schritt konzentriert sich Crăciun auf die Darstellung von Homosexualität im Weimarer Kino. Anders als die Kapitelüberschrift suggeriert, geht es jedoch nicht allein um männliche, sondern auch um die, damals strafrechtlich nicht verfolgte und auch sozial weniger stark geächtete, weibliche Homosexualität (die tatsächlich erst sehr spät im Weimarer Kino thematisiert wurde), etwa, wenn Ernst Lubitschs Ich möchte kein Mann sein besprochen wird. Die Autorin fragt dabei nach Identifikationsfiguren und spürt geschickten Empathieleitungen in den Filmbildern nach oder macht auf Ambiguitäten in der Bildsprache und den Zwischentiteln aufmerksam – wohlgemerkt in einer Zeit, in der Sexualität auf der Kinoleinwand zumeist nur als Chiffre auftaucht, etwa als begehrlicher Blick, als etwas zu intensiver Händedruck, als überlange Umarmung oder als Kuss.

Doch es sind letztlich nicht die Figuren, die in ihrer sexuellen Orientierung ‚anders als die Anderen‘ sind und denen eine besondere Sprengkraft innewohnt. Vielmehr sind es die Kindergestalten des Weimarer Kinos, die Crăciun als wahre Zeiger einer durch die politischen und sozialen Umwälzungen verunsicherten Gesellschaft ausmacht. Diese trügen wie keine andere Gruppe „maßgeblich zur filmischen Dekonstruktion einer krisengeschüttelten Epoche bei“ und so verwundert es nicht, dass hier das stärkste Kapitel der Arbeit vorliegt. Gerade die Kindergestalten „stellen als Kontrastfolie zur Lebenssphäre der Erwachsenen die bürgerlich-konservativen Werte und Prinzipien ihrer Umwelt in Frage“. Die eindringlichen Beispiele umspannen dabei Filme von Walther Ruttmann über Fritz Lang bis hin zu F. W. Murnau. Im Zentrum aber steht G. W. Pabsts Tagebuch einer Verlorenen. Sie alle zeigen eines: „Im Stummfilm der Weimarer Republik ist selten Platz für das Kind als liebreizendes Sinnbild der Hoffnung und der Erfüllung, als Quelle rein elterlicher Freude“, vielmehr werden Kinder entweder als Opfer der Umstände gezeigt oder ihnen ist „eine seltsame Dämonie eigen“.

Das sich anschließende Kapitel rückt die Figur des Verbrechers ins Zentrum und damit solche Gestalten wie Dr. Mabuse, Dr. Caligari, Rotwang oder Nosferatu. Die von diesen Gestalten ausgehende Faszination „wäre unerklärlich, zeigten nicht ihre Untaten die Fragwürdigkeit bürgerlich-konservativer Prinzipien“, argumentiert die Autorin. Hier sind es dann sogar gleich acht Filme, die eingehender untersucht werden. Dabei fällt zunächst auf, dass der Staatsapparat fast nie durch prägnante Figuren oder gar Sympathieträger dargestellt wird, die sich im ehrbaren Kampf gegen das Böse befinden. Vielmehr stehen all den bedrohlichen, schillernden Bösewichten, die internationale Verbrecherorganisationen leiten oder durch Versuchung und Trieb zu Dieben und Mördern werden, reichlich unpersönliche, trübe Gesetzeshüter gegenüber. An anderer Stelle etwa werden Gesetzesbrecher und Gesetzeshüter derart parallelisiert, dass die Grenze zwischen beiden Gruppen brüchig zu werden scheint. Recht und Ordnung geraten im Weimarer Kino völlig durcheinander.

Abschließend geht es um die auffällige Präsenz von Doppelgängern in den Filmen der Weimarer Republik. Crăciun, die diese Denkfigur von der gespaltenen Brust, in der zwei Seelen wohnen, bis ins Mittelalter zurückverfolgt, zeigt, dass das gehäufte Auftreten dieses im Deutschen traditionsreichen Motivs im Stummfilm nicht auf das Erbe der Romantik zurückzuführen ist, sondern dass die „Dr. Jekylls und Mr. Hydes der bürgerlichen Gesellschaft“ deshalb allerorts auf den Leinwänden der jungen Republik auftauchten, weil sie eine „Doppelmoral pflegten“, die den Filmschaffenden als paradigmatisch für ihre Zeit schien.

„Der Stummfilm der Weimarer Republik leuchtet uns aus naher Zeitferne mit einer betörenden Kraft“ – zugegeben, manchmal wird es etwas metaphorisch in Ioana Crăciuns Band zum Weimarer Kino. Am Ende ergibt sich aber ein stimmiges Bild, das den Facettenreichtum des Weimarer Kinos deutlich werden lässt. Crăciun zeigt detailreich und in stringenter Argumentation, wie im Stummfilm der Weimarer Republik das bürgerliche Selbstverständnis auf vielseitige Art und Weise in Frage gestellt wurde. Eine Besonderheit bildet dabei, dass alle fünf Kapitel auch sehr gut einzeln lesbar sind. Sie beleuchten aufeinander aufbauend, aber ohne sich vorauszusetzen, die oftmals ambivalente Symbolsprache der Filme und enthüllen ganz nebenbei jene „unvermutete Aktualität des Weimarer Stummfilms“ und seiner gesellschaftskritischen Tendenzen, die die Autorin umtreibt. Lediglich am Schluss wäre eine umfassendere Zusammenfassung der Ergebnisse wünschenswert gewesen, die den gemeinsamen Horizont der einzelnen Befunde nochmals klar herausarbeitet und diese rückblickend in Relation zueinander stellt.

Titelbild

Ioana Craciun: Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik.
Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Band 337.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015.
337 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783825364168

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