Mehr als die Frage nach Nutella oder Nudossi

„Sind wir ein Volk?“: Thea Dorn, Jana Hensel und Thomas Brussig diskutieren 25 Jahre nach dem Mauerfall über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West

Von Sandra VlastaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Vlasta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Diskussion im Bundestag anlässlich des 25. Jahrestags der deutschen Wiedervereinigung standen einerseits der Jahresbericht zum Stand der Einheit sowie die Frage nach der Anpassung der Löhne und Renten in Ost und West im Vordergrund. Andererseits hat Gregor Gysi an seinem letzten Tag in der Funktion als Fraktionsführer der Linken darauf hingewiesen, was ihn beim Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, wie er die Wiedervereinigung formal korrekt bezeichnet, am meisten gestört hat: der mangelnde Respekt vor ostdeutschen Biografien und dem dortigen Leben. Aspekte wie dieser beeinflussen die Ähnlichkeit beziehungsweise die Unterschiede der Lebensverhältnisse in Ost und West mindestens ebenso stark wie die ökonomischen Bedingungen. Sie sind daher auch zentral bei der Diskussion der Frage „Sind wir ein Volk?“, um die sich der schmale, gleichnamige Band dreht.

An der Diskussion beteiligt sind Thea Dorn, Jana Hensel und Thomas Brussig, moderiert wird sie vom langjährigen Leiter des „ZDF nachstudios“, Volker Panzer. Die Auswahl der AutorInnen scheint zumindest teilweise auf ihre Herkunft und Sozialisierung zurückzuführen zu sein: Jana Hensel wurde in Borna bei Leipzig geboren, Thomas Brussig stammt aus Ost-Berlin. Alle drei jedoch, und damit auch die aus Offenbach stammende Thea Dorn, haben sich in ihren literarischen und essayistischen Werken mit der DDR beziehungsweise dem wiedervereinigten Deutschland auseinandergesetzt.

Anlass der Diskussion, die am 14. September 2014 in Schloss Neuhardenberg stattfand, ist nicht der dieser Tage gefeierte 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, sondern der 2014 begangene 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Die persönlichen Erfahrungen mit diesem Ereignis fallen biografisch bedingt unterschiedlich aus: Brussig war beim Mauerfall in (Ost-)Berlin, Hensel hat ihn im Fernsehen verfolgt. Bei ihr ist die Erinnerung an die Montagsdemonstrationen in Leipzig, an denen sie teilgenommen hat, stärker. Thea Dorn wiederum hat keine konkrete Erinnerung an den Tag, allerdings an ihre damalige Frage, ob ihr mit der Bestnote ausgezeichneter Abitur-Aufsatz aus dem Mai 1989, in dem sie argumentiert, warum eine Wiedervereinigung Deutschlands unmöglich sei, nachträglich schlechter benotet werden würde.

Mit diesen ersten Antworten ist die Diskussion bereits bei ihrer Grundaussage angelangt: Die Frage „Sind wir ein Volk?“ muss vor allem im Lichte des auch von Gregor Gysi festgestellten Defizits gesehen werden. Das Unwissen beziehungsweise das fehlende Interesse, das Thea Dorn als typisch für ihre „Generation West“ erachtet, wird zum Thema: „die traurige Wahrheit ist, dass uns die ganze Geschichte [die DDR, die Wiedervereinigung] allenfalls beiläufig interessiert hat“. Für dieses historische Desinteresse werden im Laufe der Diskussion mehrere Ursachen genannt: eine Abwendung von jeglichem Nationalgefühl und damit auch von der Idee eines „Deutschlands mit großen D“, der Eindruck, dass West- und Ostdeutsche „ganz anders“ wären, die unterschiedliche Warenwelt – Nutella im Westen, Nudossi im Osten. Bei der Wiedervereinigung schließlich wurde nicht nach den Erfahrungen und Prägungen der DDR-Bürger gefragt, sondern die DDR wurde als ein abgeschlossenes Kapitel gesehen. Nun zählte das Neue, der neue Staat, in dem sich die Westdeutschen bereits bestens auskannten. Die DDR-Bürger sollten von Anfang an umlernen – ein kompletter Wertewandel fand statt, der aber als solcher nie kommuniziert wurde.

Als Folge stellen die DiskutantInnen die Unwissenheit auch für die Gegenwart fest. Thea Dorn hält die Idee, dass es etwas Verbindendes zwischen den Deutschen gäbe, für sehr schwach ausgeprägt. Die Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West seien nach wie vor aufgrund der Prägung durch unterschiedliche politische Systeme immens. Und auch Jana Hensel hebt (wie auch in ihrem Essayband „Achtung Zone! Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten“) die Differenz hervor, sieht diese aber durchaus positiv. Sie geht dabei einerseits von konkreten Zahlen aus – Einkommensverhältnisse, Vermögensverhältnisse, Anzahl der Kinder et cetera – die sich in Ost und West deutlich unterscheiden. Andererseits wurden Mentalitäten durch den demographischen Wandel, zu dem auch die Migration gehört, geprägt – gut 30 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger sind in den letzten 25 Jahren nach Westdeutschland gegangen. Der Umgang mit der Politik ist aufgrund der historischen Erfahrung ein anderer. Doch Hensel verwehrt sich dagegen, einfach ein „Defizit“ festzustellen: Ostdeutsche seien keine defizitären Westdeutschen. Vielmehr sieht sie die Schuld für (politische) Ungleichgewichte respektive Unverständlichkeiten unter anderem bei den Medien, die aus den ostdeutschen Räumen nicht berichteten. Sie verweist auf die Unwissenheit auch unter Journalisten, die bei Berichterstattungen aus dem Osten Namen falsch aussprechen oder Positionen verwechseln würden.

Doch das Unwissen kann im Einzelfall auch als Mangel empfunden werden, den es aufzuholen gilt. So hat Thea Dorn Anfang der 1990er-Jahre begonnen, die ostdeutschen Bundesländer zu bereisen und bei dieser persönlichen Entdeckung erlebt, dass sie sich in diesen Regionen zu Hause und vertraut fühlt. „Die Deutsche Seele“, so Dorn auch im Titel ihres gemeinsam mit Richard Wagner herausgegebenen Essayband, würde man entlang der A4 zwischen Dresden und Eisenach finden.

Die Diskussion zwischen den drei AutorInnen ist jedoch noch deutlich facettenreicher: So wird der unterschiedliche Umgang mit dem zweiten Weltkrieg in der BRD und der DDR besprochen, die Bedeutung von Politik und das daraus resultierende Wahlverhalten in den verschiedenen Landesteilen diskutiert, das differierende Verständnis der russischen Politik im Westen und Osten thematisiert und Angela Merkels ostdeutsche Herkunft erörtert. Die unterschiedliche Ausprägung des Feminismus in Ostdeutschland stellt schließlich Jana Hensel als einen der Punkte dar, die sich nach der Wiedervereinigung am stärksten auf ganz Deutschland ausgewirkt hätten: Nun wird überall über Ganztagsschulen diskutiert und Kita- und Krippenangebote werden im ganzen Land geschaffen.

Als das Gespräch auf die aktuellen internationalen Krisenherde sowie Deutschlands außenpolitische Position beziehungsweise sein Verhältnis zu den USA kommt, führt die Diskussion etwas weit von der ursprünglichen Fragestellung weg. Insgesamt allerdings lohnt die kurzweilige Lektüre des Gesprächs, in dem sich vor allem Thea Dorn und Jana Hensel als engagierte und informierte Diskutantinnen zeigen, die neugierig auf ihre weiteren Bücher zum Thema machen.

Titelbild

Thea Dorn / Jana Hensel / Thomas Brussig: Sind wir ein Volk?
Herder Verlag, Freiburg 2015.
88 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783451329579

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