Die DDR war weniger ein Land als eine Zeit

Zumutungen der Heimat in Monika Marons Werken

Von Olga HinojosaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olga Hinojosa

1988 sah sich die Schriftstellerin Monika Maron aus politischen und ideologischen Gründen gezwungen, ihre Ost-Berliner Heimat zu verlassen. Ihre Gefühle gegenüber Deutschland waren ebenso gespalten wie das Land selbst: Die Unterdrückung in der DDR war ihr unerträglich geworden, aber auch mit dem kapitalistischen System in der BRD war sie nicht einverstanden. Kurz nach Ankunft an ihrem neuen Wohnsitz in Hamburg schreibt sie in ihrem programmatisch betiteltem Essay Die Zumutung, eine Heimat haben zu müssen über ihr ambivalentes Verhältnis zu dem “sehnsüchtige[n] Wort” Heimat.

Die Auseinandersetzung damit setzte sie in ihrem gesamten Werk fort: Immer wieder kehrt ihre Fiktion in die DDR zurück, wobei die Darstellung ständig zwischen Heimat und Anti-Heimat oszilliert. Festzustehen scheint nur, dass ihre (Anti)Heimat-Gefühle mit dem politischen Raum des real existierenden Sozialismus der DDR verbunden sind.

1. Einführung

Heimat, das ist laut Friederike Eigler ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der deutschen Kultur und Geschichte. Aber was bedeutet dieses vielschichtige Konzept überhaupt? Literaturwissenchaftler jedenfalls haben sich bisher nicht abschließend auf eine Bedeutung einigen können. Withold Bonner behauptet sogar, einig sei man sich nur darüber, dass man sich nicht einig sei. Im Gegensatz zu anderen vielschichtigen Begriffen, über deren Definition keine Einigkeit herrscht, widersprechen sich die Auffassungen des Heimat-Begriffs jedoch nicht, sondern sind meist ohne weiteres miteinander vereinbar. Statt einander auszuschließen, heben sie unterschiedliche Aspekte hervor und ergänzen sich dadurch oft sogar.

Interessant für die Betrachtung des Werkes von Monika Maron ist derjenige Aspekt von Heimat, den Peter Blickle betont. In seinem Buch Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland bemerkt er: „[Heimat] is emotional, irrational, subjective, social, political and communal […]”. Blickle versteht Heimat als eine räumliche Vorstellung von Identität. Heimat ist demnach der geografische oder auch virtuelle Raum, in dem das Subjekt mit Verwandten und Freunden interagiert und emotionale Bindungen etabliert und aufrechterhält – in dem also letztlich seine Identität ensteht und fortbesteht.

In diesem Sinne ist Heimat eines der zentralen Motive im gesamten Werk Monika Marons. An ihren nicht-fiktionalen und fiktionalen Texten Monika soll im Folgenden den Zwiespalt untersucht werden, der das Verhältnis der Autorin und ihrer Protagonistinnen zu dem Wort Heimat bzw. seinem Gegenentwurf Anti-Heimat charakterisiert. Dabei verstehen wir unter Anti-Heimat einen Raum, in dem entscheidende Charakteristika verbreiteter Heimat-Konzepte invertiert oder zumindest so prominent gestört sind, dass dies zum zentralen Handlungs- oder Reflexionsmotiv avanciert, ohne dass die identitätsprägende Eigenschaft des Raumes aufgehoben würde.

Bei Monika Maron führt das dazu, dass sie bzw. ihre Protagonistinnen zeitweise versuchen, ihre Identität in Abgrenzung von ihrer Anti-Heimat, der Deutschen Demokratischen Republik, zu suchen. Erst die Auseinandersetzung mit der Anti-Heimat führt zu einer allmählichen Heilung, sodass mit fortschreitender Zeit ein gewisser Grad an Versöhnung und Akzeptanz eintritt.

2. Heimat bzw. Antiheimat in Marons Debüt-Trilogie

Das Motiv von Heimat und Anti-Heimat tritt bei Maron bereits in ihren ersten Romanen in aller Deutlichkeit auf – der Trilogie, die Monika Marons Flugasche, Die Überläuferin und Stille Zeile Sechs umfasst. Zwar nennt Josefa Nadler, Protagonistin von Flugasche, die DDR niemals Heimat, doch das Land ist zweifellos der geographische, politische und kulturelle Raum, zu dem sie sich zugehörig fühlt. Folgen wir Blickles Argumentation, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Raum jedem Menschen zueigenist – unabhängig davon, ob er diesen Raum Heimat nennt oder nicht –, müssen wir die DDR also dennoch als Josefas Heimat anerkennen. Die Heldin führt dort ein weitgehend zufriedenes Leben, solange sie die Identität, die ihr die DDR und ihr Staatsapparat zugewiesen haben, als selbstverständlich annimmt. Erst als Machthaber dieses Raums Josefa bei der Ausübung ihres Berufes als Journalistin behindern, beginnt sie die Legitimität des Systems in Frage zu stellen. Der zunächst subtile, dann immer offenere Konflikt mit linientreuen Vorgesetzten zerstört das alte Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Raum und drängt Josefa zunächst ins innere Exil. Die Vertreibung aus ihrer Heimat lässt diese zur Anti-Heimat mutieren – und zwar nicht erst als die Protagonistin in den Folgeromanen als Rosalind Polkowski den Weg ins politische und geografische Exil wählt.

Blickle schreibt: „to accept the notion of Heimat for constitutions of one’s identitity is a willing submission to a cultural construct that is perceived as a natural state of being”. Marons Protagonistin vollzieht exakt den umgekehrten Weg: Josefa tritt in Opposition zum System und versucht sich als Subjekt und Individuum in ihm zu behaupten. Damit löst sie sich aus ihrem – wenn auch nicht notwendigerweise natürlichen, so doch angestammten – Seinszustand (state of being) und entzieht dem Raum, der bisher – wenn auch unausgesprochen – ihre Heimat war, willentlich die Akzeptanz als identitätsprägendes Element. Die DDR ist für Josefa also die regelrechte Inversion von Blickles Definition von Heimat, ergo ihre Anti-Heimat.

Statt sich mit dem Raum, der einmal ihre Heimat war, zu identifizieren, verbindet Josefa mit ihm vor allem „Verlust, Distanzierung und Reflexion”. Der Verlust von Bezugspunkten, den sie durch ihre Distanzierung zu den kommunistischen Vorschriften erleidet, löst eine Identitätskrise aus, die sich im zweiten Roman, Die Überläuferin, aus folgenden Gründen zuspitzt:

Der unidentische Mensch denkt aufrührerisch und strebt Veränderungen an, was ihn zu einem gesellschaftsgefährdenden Subjekt, in Einzelfällen sogar zum Kriminellen macht. Denn der unidentische Mensch hat die ihm zugewiesene Identität verlassen, um in seelischer Heimatlosigkeit als vaterlandsloser Geselle zu vegetieren.

Obwohl die DDR in keinem der zwei Folgeromane explizit als Heimat, verlorene Heimat geschweige denn Anti-Heimat betrachtet wird, wird die DDR derart dargestellt, dass sie mit folgender Definition von Blickle korreliert: „Heimat […] provides a spatial, relentlessly positive, and secure collective identity, one that is free from private responsibility”. Auch hier ist das Problem der Protagonistin wieder, dass es sich um eine negative Korrelation handelt: Wieder ist die Beziehung zur DDR in entscheidenden Aspekten, dessen, was Heimat ausmacht, gestört: Die DDR beinhaltet zwar eine „räumliche […] und sichere kollektive Identität“, aber diese ist nicht „positiv“ und schon gar nicht „kompromisslos positiv“ besetzt. Auch wenn nicht alles, was die Protagonistinnen mit ihrer Heimat verbinden negativ besetzt ist, so besteht an dieser Stelle zumindest ein deutlicher Defekt, der die DDR zur Anti-Heimat macht.

Dieser Defekt führt dazu, dass sich Josefa bzw. Rosalind von der zugeschriebenen kollektiven Identität der DDR befreien und – entgegen dem Heimat-Begriff von Blickle – jene persönliche Verantwortung übernehmen wollen, die ihnen die DDR aberkennt. Erst als die Protagonistin von Stille Zeile Sechs ihre vertraute Umgebung in etwas Fremdes verwandelt, nimmt sie die starke Bindung wahr, die sie stets zu diesem Raum empfand. Diesen anscheinenden Widerspruch erklärt Blickle wie folgt: „to perceive Heimat, we had to become mobile and homeless”. Und so ist es auch in Marons Trilogie das Gefühl des Verstoßenseins, das die Protagonistin letztlich zum endgültigen Bruch mit der DRR bewegt. Erst dann geschieht mit Rosalind, was Blickle so beschreibt:

Heimat is where one feels at home, where one´s language is spoken, where one has absorbed the climate so much that it is part of oneself without one´s being aware of it. One becomes aware of it only after one has lost part of it through moving, education.

3. Heimat bzw. Antiheimat in Marons Biografie

In welchem Maße Monika Marons Werk autobiographisch geprägt ist, soll in dieser Arbeit nicht näher untersucht werden. Dass es deutliche Parallelen zwischen Marons Biografie und den Biografien ihrer Protagonistinnen gibt, ist unstrittig. Monika Maron verlässt 1988 die DDR unter anderem deshalb, weil sie aus ideologischen Gründen mit dem sozialistischen System in Konflikt gerät. Dabei ging es nicht nur um Auseinandersetzungen mit der Zensurbehörde wegen ihrer Fiktion, sondern auch um Sachtexte, in denen Maron selbst – wie Josefa Nadler in Flugasche – bestimmte Zustände in der DDR anprangerte. Und auch Maron stellt – wie Rosalind Polkowski in Stille Zeile Sechs – erst in der BRD fest, dass Heimat – entgegen ihrer bisherigen Annahme – auch für ihre Identität relevant ist:

Der Begriff Heimat, den ich in seiner landläufigen Bedeutung längst als etwas abgetan hatte, das in keinem unmittelbaren Bezug zu mir stehen kann, schwappt mir nun in Gestalt teilnahmsvoller oder indiskreter Fragen allenthalben entgegen.

In der Bundesrepublik sieht sich Maron nämlich dazu gedrängt, ihre eigene Identität als deutsche Schriftstellerin bzw. Deutsche überhaupt zu rechtfertigen. Denn kaum angekommen in Hamburg wird ihr der Stempel der DDR-Autorin aufgedrückt. Plötzlich gilt sie also als Person, die ihre Heimat verlassen hat, dabei wähnte Maron sich selbst überhaupt nicht in der Fremde:

Und was will die Frage von mir, ob ich nun, in meiner «neuen Heimat», über die Probleme des Westen schreiben wolle oder ob mir nun vielleicht der Stoff ausginge. Als hätte ich bislang über Känguruhs geforscht und nicht über Menschen geschrieben, und zwar deutsche, deren jüngste Vorgeschichte die aller Deutschen ist.

Diese Zeilen notiert Maron in ihren autobiografischen Essay mit dem programmatischen Titel Die Zumutung eine Heimat haben zu müssen. Was sie damit auch meint, ist die Zumutung, sich auf eine Heimat festzulegen: West oder Ost. In Marons Wahrnehmung ist es also nicht ihr Umzug, der sie zu einer Exilantin macht, sondern die Dichotomie zwischen DDR und BRD. Schließlich ist sie 1941 in Deutschland, nicht in der BRD oder DDR geboren. Wenngleich ihre Welt alsbald in Ideologien statt in Nationen geteilt war, plädiert sie dafür, die gemeinsame Vorgeschichte beider deutschen Staaten nicht außer Acht zu lassen:

Wer von seiner Heimat spricht, erzählt seine Kindheit, die erinnerte Berührung zwischen ihm und dem, was ihn umgab. Soweit die Kindheit gereicht hat, reicht das Wort Heimat; dahinter richtet es sich auf zu der Grenze zwischen Vertrautem und Fremdem, die wir, wollen wir unsere Biographie nicht dem geographischen Zufall überlassen, überschreiten müssen, sei es tatsächlich oder im Geiste.

Dennoch kommt sie im Jahre 1988 nicht umhin einzusehen, dass ihre einstige Heimat zwischendurch geteilt wurde. Beide Räume als Heimat anzuerkennen, um die „Zumutung“, zu umgehen, wäre ihr aber wohl zu einfach gewesen. Denn offenbar hält sie es in diesem Punkt mit Blickle, der anführt: „one can have only one true Heimat”. Die hat Maron in den Jahren nach ihrer Ausreise aus der DDR jedoch nicht. Wie bei ihrer Protagonistin wird auch Marons Identitäts-Raum zur Antiheimat, noch bevor sie ihn als Heimat identifiziert hat.

Diese Heimatlosigkeit, die Maron in der BRD, mit der DDR als Anti-Heimat und der BRD sozusagen als Nicht-Heimat, erlebt, soll sich erst viele Jahre nach der Wiedervereinigung allmählich auflösen – nämlich in dem Maße, in dem auch der Gegensatz zwischen Ost und West verblasst, in dem sie selbst ihren Frieden mit der DDR macht und in dem sie sowohl ihre ehemalige Heimat als auch ihre Anti-Heimat in der BRD aufgegangen sieht.

4. Anti-Heimat als Identitätsstifter

Frequenter Bestandteil von Marons Romanen ist, dass die Protagonistinnen intensiv ihre eigene Vergangenheit reflektieren. Ziel des Erinnerns ist es, den Sinn ihrer biografischen Laufbahnen zu erkennen und sich selbst eine Identität zu geben. Wenngleich in jedem Menschenleben eine unterschiedliche Menge an Erinnerungen mit der Heimat verbunden ist – die Erinnerungen von Marons Protagonistinnen beziehen sich meist auf einen Raum, den wir zuvor exemplarisch als Heimat oder Anti-Heimat beschrieben haben. Welche immense Bedeutung das Gedächtnis für den Heimat-Begriff hat, beschreiben Friederike Eigler und Jens Kugele in dem Buch Heimat. At the Intersection of Memory and Space.

Auch nach der Wiedervereinigung beschäftigt sich Maron noch mit der DDR, einem Raum, der jetzt nur noch in ihrer Erinnerungen existiert. Und auch in den 90er-Jahren durchleben ihre Protagonistinnen noch Identitätskrisen in diesem Raum – wenn auch aus anderen Gründen als zuvor: Während Josefa in Flugasche auf das politische System der DDR anspielend ihr Unbehagen mit den Worten „alles, was ich bin, darf ich nicht sein” zusammenfasste, meint Johanna, die Protagonistin von Endmoränen nach dem Fall der Mauer: „Alles, was ich weiß, ist unwichtig geworden”. Dabei bezieht sich die Protagonistin auf eine neue Realität ganz ohne DDR, an die sie sich zwar anpassen muss, die aber ihre Ansprüche nicht erfüllt. Zwischen beiden Romanen liegen mehr als 20 Jahre, in denen sich Deutschland wesentlich verändert hat. Marons Protagonistinnen ringen um ihre Anpassung an diese neue Realität. Ihr Bezugspunkt für die inneren Konflikte der Protagonistinnen bleibt jedoch die DDR, der Raum, an den sie sich gebunden fühlen, mit der sie sich identifizieren – eben ihre erinnerte Anti-Heimat. Die Gründe dafür erklärt die Autorin selbst in ihrem autobiografischen Roman Pawels Briefe:

Einen Glauben oder eine Weltanschauung abzulegen, in denen man erzogen wurde, verlangt mehr als ein gewisses Maß an Mut und Charakterstärke; es erfordert eine andauernde intellektuelle und emotionale Anstrengung, denn den Relikten seiner Erziehung begegnet der Mensch, der sich einer solchen Umwandlung unterzieht, noch Jahren und Jahrzehnten. Bis in die kleinsten Verzweigungen seines Gedächtnisses finden sich immer wieder frühe Einübungen des Lebens und Denkens, die sich der Überprüfung bis dahin entzogen und darum als gültig fortgelebt haben. Wenn diese Metamorphose zudem den vorhersehbaren Bruch mit allem, was das bisherige Leben ausgemacht hat, bedeutet, mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Verwandten, mit der geographischen und der kulturellen Heimat, und wenn sich ein gerade erwachsener Mensch trotzdem dazu entschließt, muß ihm die Welt, mit der er bricht – und ich sage das aus Erfahrung –etwas angetan haben.

Die DDR zu verlassen, ist für Maron eine Notwendigkeit. Den anerzogenen Glauben an den Sozialismus abzulegen, ist für sie jedoch die weit größere, ja eine nie endende Herausforderung. Folgerichtig setzt sich in Marons Werken auch nach dem Fall der Mauer das Thema DDR fort. Was sich ändert, ist die Perspektive: Geht es Maron vor dem Mauerfall darum, mit der DDR abzurechnen, so blickt sie ab den neunziger Jahren auf die vergangene DDR als Wurzel ihrer Identität und der ihrer Protagonistinnen. Folgt man der Argumentation von Wolfgang Schemme, so erscheint die Fortsetzung der Thematik folgerichtig: „Wenn der Erfahrung der eigenen Geschichte, zumal der tatsächlich gelebten Vergangenheit, ihre fortwirkende, gültige Wertigkeit bestritten wird, fehlt die Basis, von der aus gerade ein kreativer Mensch in die Zukunft hineinwirken kann”. Maron lässt sich die Basis ihrer Kreativität aber nicht nehmen. Sie setzt das Ringen um das gestörte Verhältnis zu ihrer Heimat, ergo zu ihrer Anti-Heimat, fort. Und so bleibt ihr Kernthema die Identitätsbildung und der Raum, von dem diese abhängt. Was sich ändert ist die Erkenntnis, dass ihr die DDR – trotz aller Abscheu vor ihr – zumindest eine Identitätsbasis gegeben hat. Oder wie Elke Gilson es ausdrückt:

Mit dem Verschwinden des Bedürfnisses nach kritischer Stellungnahme zu dem von der Autorin als diktatorisch eingeschätzten Staat (und seinem verlogenen offiziellen Geschichtsverständnis) ging eine neue Fähigkeit und eine neue Bereitschaft, sich zu erinnern, einher. […] Während in den frühen Prosatexten die Protagonistinnen […] sämtlich am Gefühl litten, die Geschichte als konditionierende Macht mache “einige” Konstruktionen unmöglich, werden Marons Werke der neunziger Jahre eher von der Einsicht gekennzeichnet, dass überhaupt nur etwas zustande kommt, wenn überlieferte Muster für eigene Zwecke neu zusammengesetzt und kombiniert werden.

So ist es keine Nostalgie – und schon gar keine Verklärung –, mit der Marons Protagonistinnen nach der Wende auf die DDR blicken, sondern der Versuch, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen, um sich der Zukunft zu widmen. Am ehesten ist es vielleicht eine gewisse Milde, mit der sie versuchen ihre Vergangenheit zu rekonstruieren. Hilfreich ist ihnen dabei nicht nur das zeitliche Ende der DDR, sondern auch das neue Gefühl, das sich im Laufe der Zeit aus geographischen, kulturellen, politischen, aber auch persönlichen Gründen geändert hat.

Schlussüberlegungen

Monika Maron hat sich ihre gesamte bisherige Schriftstellerkarriere hindurch – meist implizit – mit dem Thema Heimat bzw. Anti-Heimat beschäftigt. Das tut sie auch noch in ihren beiden aktuellsten Werken: Ihre Essaysammlung Zwei Brüder von 2010 handelt von Konflikten und Gemeinsamkeiten der Menschen in Ost und West. In dem Roman Zwischenspiel von 2013 unternimmt die Protagonistin, die wie Maron im Stadtteil Wilmersdorf im wiedervereinten West-Berlin lebt, eine Reise nach Ost-Berlin und erlebt eine Halluzination, in der ihr Verstorbene aus der DDR begegnen. Mit dieser imaginären Zeitreise verdeutlicht sie auch literarisch, was sie in ihrer Rede anlässlich der Entgegennahme des Deutschen Nationalpreises 2009 sagte: „die DDR [war] weniger ein Land als eine Zeit“. Wenngleich beide Werke das tiefe Unbehagen offenbaren, das Maron und ihre Protagonisten weiterhin gegenüber dem (Zeit-)Raum verspüren, auf dem ihre Identität maßgeblich beruht, ist die massive Ablehnung der DDR einer versöhnlichen Betrachtung gewichen – nicht gegenüber dem SED-Regime, wohl aber gegenüber der Gesamtheit des geografischen, kulturellen und menschlichen Raums, den die DDR einmal darstellte.

Wenn wir Heimat und Anti-Heimat als die beiden Pole derselben Definitionsaxe verstehen, die einen identitätsprägenden Raum beschreibt, so können wir abschließend feststellen, dass sich die Wahrnehmung der DDR in Marons Schriften auf dieser Axe vom Anti-Heimat-Pol zum Heimat-Pol bewegt hat, ohne ihn je zu erreichen.

Literaturhinweise

Blickle, Peter: Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland. New York: Camden House 2004.

Bonner, Withold: „Mein Problem ist das Kontinuum”. Heimat als dynamischer Gedächtnisraum im Werk Franz Fühmanns. In: Eigler, Friederike; Kugele, Jens: Heimat. At the Intersection of Memory and Space. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 140-141.

Gilson, Elke: „„Zwiesprache mit Geistern“: Die Entschränkung der Rhetorik im Werk von Monika Maron nach 1989“. In: http://www.researchgate.net/publication/233597372_Zwiesprache_mit_Geistern_Die_Entschrnkung_der_Rhetorik_im_Werk_von_Monika_Maron_nach_1989

Eigler, Friederike; Kugele, Jens: Heimat. At the Intersection of Memory and Space. Berlin/Boston: De Gruyter 2012.

Hinojosa, Olga: Ficción histórica y realidad literaria. Bern: Peter Lang 2012.

Maron, Monika: Die Überläuferin. Frankfurt am Main: Fischer (1986) 2002.

Maron, Monika: Endmoränen. Frankfurt am Main: Fischer 2002.

Maron, Monika: Pawels Briefe. Frankfurt am Main: Fischer (1999) 2004.

Maron, Monika: Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit. Frankfurt am Main: Fischer 2010.

Schemme, Wolfgang: Chancen für eine menschliche Gesellschaft. Schriftsteller der DDR nach der Wiedervereinigung. GFP Gesellschaft für Projektentwicklung und Liegenschaftsverwaltung 1994.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem gekürzten Manuskript eines Vortrags, den die Verfasserin auf der internationalen Tagung “RAUM – GEFÜHL – HEIMAT. Literarische Repräsentationen nach 1945“ an der Universität des Baskenlandes in Vitoria-Gasteiz gehalten hat. Die Tagung fand am 23. bis 25.9.2015 statt und wurde organisiert von Dr. Garbiñe Iztueta, Prof. Dr. Mario Saalbach, Dr. Carme Bescansa und cand. phil. Iraide Talavera. Eine Dokumentation der Tagung erscheint 2016 als Buch im Verlag LiteraturWissenschaft.de.