Heimaträume und Gefühle

Hinweise zur Wiederkehr eines verpönten Begriffs, zu einem sich ausweitenden Forschungsfeld und zum zweiten Themenschwerpunkt dieser Ausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeiten, in denen literarische Heimatmotive oder -gefühle unter pauschalem Kitsch-Verdacht standen und „Heimatkunst“ mit völkisch-nationalen Traditionen ganz eng assoziiert war, sind seit etlichen Jahren vorbei. Die aufklärerische Ideologiekritik begriff sehnsüchtige Phantasien über eine alte und heile Heimat als fragwürdige Reaktionen und Kompensationen angesichts der vermeintlichen Verluste, die den Menschen in Prozessen neuzeitlicher Modernisierung zugemutet werden. „Heimat“ erschien in Literatur und Film allenfalls noch als Sujet einer „Anti-Heimat-Literatur“, wie sie vor allem in Österreich geschrieben wurde, oder als „kritischer Heimatfilm“, wie ihn Volker Schlöndorf 1971 mit „Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach“ produzierte, erträglich.

Erst im Umfeld der modernisierungskritischen Impulse der Postmoderne seit den späteren 1970er und vor allem in den 80er Jahren erfuhr „Heimat“ eine erneute Aufwertung, die bis heute anhält. In Deutschland war und ist dafür unter anderem die international erfolgreiche Filmtrilogie Heimat des Regisseurs und Autors Edgar Reitz symptomatisch, mit deren Dreharbeiten er 1980 begann. Sie erzählt die Geschichte einer Familie aus dem fiktiven Dorf „Schabbach“ im ländlichen Hunsrück. Vor dem belasteten Heimat-Begriff schreckte Reitz, der seine Filme in mehreren „Büchern zum Film“ kommentiert hat, damals zunächst zurück, rechtfertigte dann aber den Titel seiner Serie so:

Es [das Wort Heimat] war mit lauter negativen Erinnerungen belastet. Heimat war bei den Nazis ein Propagandawort. Dann gab es in den fünfziger Jahren die seicht-kitschigen Heimatfilme. Ich war aber überzeugt davon, daß man das Wort von diesem Ballast befreien kann, und sagte mir: Weder die Nazis noch die Folklore-Musiker haben das Wort erfunden; sein wahrer Inhalt ist eigentlich unschuldig. Der Begriff Heimat hat eine große kulturgeschichtliche Vergangenheit. Ich sah bedeutende Philosophen an meiner Seite, die sich damit auseinander gesetzt hatten, zum Beispiel Ernst Bloch. In seinem Prinzip Hoffnung heißt es: „…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Der Satz enthält die Vorstellung, daß Heimat etwas ist, das jeder von uns verloren hat.

In einer anderen Stellungnahme grenzte sich Reitz entschieden von nationalistischen Vereinnahmungen des Heimat-Begriffs ab:

Ich habe die Nation Deutschland noch nie als meine Heimat begriffen. Das ist mir zu abstrakt für das Gefühl. Heimat hat für mich immer mit konkreter Erinnerung zu tun. Leute, die Heimat politisch definieren, sie vermarkten, […] die Volkstum pflegen und dergleichen, schädigen den Begriff…

Dass die Fortführung der Heimat-Trilogie von Reitz, der Film Die andere Heimat, ihren Kinostart vor zwei Jahren ausgerechnet am „Tag der Deutschen Einheit“ hatte oder dass in diesem Jahr die „ARD Themenwoche Heimat“, für die am 3. Oktober die wiederholte Sendung dieses Films der Auftakt war, mit dem Gedenken an die „Wiedervereinigung“ Deutschlands vor 25 Jahren zusammenfiel, war eine fragwürdige Symbolsetzung und hätte dem Begriff vielleicht neuen Schaden zufügen können. Doch der Film sowie die anderen Sendungen in dieser Themenwoche trugen nicht dazu bei.

Von alten volkstümlichen und nationalistischen Begriffsschädigungen weitgehend befreit, verbreitete sich seit den Anfängen des neuen Jahrtausends eine regelrechte Heimatbesessenheit. Im Jahr 2000 erschien Bernhard Schlinks kleiner Essay mit dem Titel Heimat als Utopie. 2006 engagierte sich der Philosoph Christoph Türcke für eine „Rehabilitierung“ des Heimatbegriffs. 2007 erschien ein grundlegender und erhellender Beitrag des Literaturwissenschaftlers Bernd Hüppauf zu dem Thema unter dem Titel Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes. „Heimat“, so erläuterte er, „wurde im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend mit Räumen assoziiert, deren affektive Bedeutung und erotische Besetzung eine Spannung zur industriellen Modernisierung und kulturellen Rationalisierung herstellte. Dies nahe und doch verlorene Arkadien wurde in Land und Landschaft, Dorf und Kleinstadt vermutet. Die Kleinstadt bot einen idealen Raum für die Entwicklung von Heimatgefühlen an.“

Das gilt auch noch für die deutsche Literatur des 21. Jahrhunderts: für Peter Kurzeck etwa, obwohl seine Werke jeder „Heimatliteratur“ im traditionellen Sinn denkbar fernstehen. Bis zu seinem Tod arbeite er geradezu besessen daran, vergangene und verlorene Zeiten mit literarischen Mitteln wieder aufleben zu lassen, vor allem die in dem hessischen Dorf Staufenberg. Hier hatte der Autor, nach der Flucht der Familie aus Böhmen, in den 1950er-Jahren seine Kindheit verbracht. In der gleichen Region, im hessischen Bad Nauheim, ist die viel beachtete „autobiografisch grundierte Heimatkunde in Romanform“ des an Thomas Bernhard geschulten Andreas Maier situiert, der im zweiten Band seiner Serie, Das Haus (2011), von der Vertreibung aus dem Paradies der frühsten Kindheit erzählt. Im selben Jahr erschienen Katharina Hackers Dorfgeschichte aus dem Odenwald und Judith Schalanskys Schulgeschichte in einer Kleinstadt Vorpommerns Der Hals der Giraffe. Gleich zwei Literaturjournalist/innen ist dieser auffallende Trend in der Literatur zu Beginn des gegenwärtigen Jahrzehnts aufgefallen. Sandra Kegel in der F.A.Z. (7.4.2012) und dem Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung Christopher Schmidt, der dazu einen Beitrag auf der Website des Goethe-Instituts geschrieben hat. Beide weisen auf die modernisierungskritischen Aspekte dieser Literatur hin.

Nicht nur das „verpönte Wort“, sondern auch die damit verbundenen Vorstellungen und Gefühle sind wiedergekehrt, aber sie haben sich dabei zum Teil deutlich verändert. Jedenfalls unterscheiden sie sich in der gegenwärtigen Literatur, Kultur und kulturwissenschaftlichen Forschung erheblich von dem, was Botho Strauß schon vor über zwanzig Jahren und kürzlich fortgesetzt im Spiegel an kulturkritischen Ressentiments gegenüber der Moderne veröffentlichte. In seinem Manifest Der anschwellende Bocksgesang hatte er geschrieben: „Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt.“ Und: „Wir werden herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten, wir sind per Gesetz zur Güte verpflichtet.“ In der Fortsetzung dieses peinlichen Pamphlets gegen die, so seine neue Formulierung, „Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich nun zu ihnen gesellen“, hält er nun, sich selbst mit heroischer Geste zu einem der wenigen, wahren und „letzten Deutschen“ stilisierend, der „Entwurzelung“ aus der Heimat deutscher Elitekultur eine neue Beheimatung entgegen: „So bleibt dem deutschen Schriftsteller, sofern er ein Schriftsteller des Deutschen ist, nichts anderes, als sich neu zu beheimaten“, ein „Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt zu sein“ und „Zuflucht in die ästhetische Überlieferung“ zu suchen.

Von solchen Tönen ist die neuere „Heimatliteratur“, wenn man sie denn wieder so nennen darf, bis hin zu den erst kürzlich erschienenen Romanen von Jenny Erpenbeck oder Katharina Hacker gänzlich frei. Vertriebene, Flüchtlinge, Reisende oder Migranten gehören zu dem für sie typischen Personal, Abschied, Auseinandersetzungen mit der Fremde oder Heimkehr zu den wiederkehrenden Szenarien, Schmerz, Sehnsucht, Wut, Geborgenheit, Einsamkeit, Enttäuschung oder Angst zum Spektrum der von ihr vermittelten Emotionen.

Den veränderten Interessen des Films und der Literatur an „Heimat“ folgten die Kulturwissenschaften rasch nach. Die Heimatforschung ist mittlerweile kaum noch überschaubar. Allein in diesem und im vorigen Jahr sind Titel wie diese erschienen (vgl. auch die unter diesem Beitrag verzeichneten Bücher): Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl (2015), Heimat. Eine künstlerische Spurensuche (2015), Zweite Heimat. Westdeutsche im Osten (2014), Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen (2014; Rezension hier), Versuch, eine Heimat zu finden. Eine Reise zu Uwe Johnson (2014), Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative (2014). Komparatistisch, also nicht auf deutschsprachige Literatur beschränkt, war auch eine Sektion beim Internationalen Germanistentag 2010 in Warschau, deren Ergebnisse unter dem Titel Post-nationale Vorstellungen von „Heimat“ in deutschen, europäischen und globalen Kontexten (2012) dokumentiert sind. Bereits vor 15 Jahren erschien eine bemerkenswerte Aufsatzsammlung, die zeigt, dass das Interesse an dem Thema keineswegs ein Phänomen allein in den deutschen Kulturwissenschaften ist. Sie ist in Oxford erschienen, bezieht sich allerdings auf Deutschland und der Obertitel signalisiert, dass „Heimat“ ein Wort ist, für das es im Englischen (wie in anderen Sprachen) keinen Begriff mit gleicher Bedeutung gibt: Heimat. A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890-1990 (2000, Rezension hier).

Als Beleg für das internationale Interesse an dem Thema sei hier schließlich auf zwei Tagungen hingewiesen, die im Anschluss an ein mehrjähriges Forschungsprojekt an der nordspanischen Universität des Baskenlandes in Vitoria-Gasteiz stattfanden. Die Dokumentation der ersten Tagung ist, herausgegeben von Carme Bescansa und Ilse Nagelschmidt, 2014 unter dem Titel Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat erschienen. Die Herausgeberinnen setzen sich hier ganz entschieden für einen modernen Begriff von Heimat ein, der sich vom „Mythos der Natürlichkeit von Heimat als Garant für Stabilität und für deutliche Ich-Abgrenzung gegenüber dem Fremden“ distanziert. „Wenn die Geschichte und ganz besonders das vergangene Jahrhundert in diesen Gebieten uns etwas vehement lehrt, dann ist es die Brüchigkeit von Grenzen bzw. von Heimat; trotz der menschlichen Mühen, immer wieder neue Schranken mit Anspruch auf Ewigkeit errichten zu wollen.“

Die zweite internationale Tagung zu dem Thema an dieser Universität, die zu einer Art Zentrum kulturwissenschaftlicher Heimatforschung geworden ist, fand vor wenigen Wochen unter dem Titel Raum-Gefühl-Heimat: Literarische Repräsentationen nach 1945 statt. Bereits der Titel deutet an, dass die Heimatforschung hier anschließt an zwei neuere kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, die unter dem Label Spatial Turn und Emotional Turn expandieren. Einige Beiträge zu der Tagung werden in dieser Ausgabe von literaturkritik.de in leicht gekürzten und vorläufigen Versionen veröffentlicht, weitere Beiträge zusammen mit Rezensionen und Essays, die unabhängig von dieser Tagung geschrieben wurden, in der nächsten Folge unseres Themenschwerpunktes „Heimat“ im November.

Titelbild

Friederike Eigler / Franciszek Grucza / Janusz Golec / Leszek Zylinskis (Hg.): Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Band 9: Post-nationale Vorstellungen von "Heimat" in deutschen, europäischen und globalen Kontexten.
Peter Lang Verlag, Frankfurt, M ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ; New York, NY ; Oxford ; Warszawa ; Wien 2012.
333 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783631632109

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Edgar Reitz: Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht.
Schüren Verlag, Marburg 2013.
294 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894728687

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Rolf Parr: Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen.
Konstanz University Press, Paderborn 2014.
250 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530519

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Carme Bescansa / Ilse Nagelschmidt (Hg.): Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2014.
333 S. , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783732900275

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Kein Bild

Claudia Gremler / Niels Penke / Jenny Bauer (Hg.): Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative.
Reihe: Studia Comparatistica – Schriften zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft / Band 3.
Ch. A. Bachmann Verlag, Berlin 2014.
252 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783941030459

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Markus Decker: Zweite Heimat. Westdeutsche im Osten.
Ch. Links Verlag, Berlin 2014.
237 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783861537984

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Edgar Reitz: Heimat – Eine deutsche Chronik. Die Kinofassung. Das Jahrhundert-Epos in Text und Bildern.
Schüren Verlag, Marburg 2015.
544 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783894729998

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Renate Zöller: Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl.
Ch. Links Verlag, Berlin 2015.
231 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538431

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Burcu Dogramaci: Heimat. Eine künstlerische Spurensuche.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
184 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412502058

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