Peta, du erzählst wieder!

Mit „Bis er kommt“ liegt jetzt der erste Band der Kurzeck Nachlass-Edition vor

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein erfreuliches Ereignis für Kurzeck-Fans: Knapp zwei Jahre nach dem Tod des Frankfurter Schriftstellers veröffentlicht der Stroemfeld Verlag den sechsten Band der autobiographisch-poetischen Chronik „Das alte Jahrhundert“ aus dem Nachlass des Schriftstellers – man hat sofort wieder die naiv-freudige Aufforderung der Tochter des Erzählers im Ohr: „Erzähl, Peta, erzähl!“ Der Fragment gebliebene Roman „Bis er kommt“ knüpft zeitlich an „Oktober oder wer wir selbst sind“ und „Vorabend“ an und erzählt knapp zwei Wochen aus dem Oktober des Jahres 1983. Zeitlich steht der neue Roman vor der Nullstunde des Kurzeckschen Erzählkosmos, der einschneidenden Trennung von seiner Partnerin Sibylle. Die Rahmenhandlung, sofern man bei Kurzecks Texten überhaupt von einer solchen sprechen will, ist wie gewohnt spartanisch. Der Erzähler erfährt von seinem Freund Jürgen, dass dessen Freundin Pascale ihn nach einem Streit überstürzt in der gemeinsamen Wohnung in Barjac hat sitzen lassen. Die geplante gemeinsame Zukunft mit dem mühsam anlaufenden eigenen Restaurant in Südfrankreich liegt in Scherben. Das „Er“ im Romantitel ist in diesem Fall also Jürgen, auf dessen Ankunft der Erzähler in Frankfurt wartet. Häufige Telefongespräche zwischen Peter und dem Freund zeichnen das emotionale Chaos des Verlassenen auf und veranlassen den Erzähler zu seinen Erinnerungskaskaden, die den mächtigen Sog von Kurzecks Erzählen ausmachen.

Dieses konstante Mäandern der Erinnerungen und Eindrücke nimmt in „Bis er kommt“ bekannte, aber auch neue Wege und Formen an. Kurzeck, die idiosynkratischste Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur, erzeugt durch immer wiederkehrende Motive und Erzählstränge in seinen Texten eine immense Welthaltigkeit, die sich jedoch keineswegs in einem naiven Realismus verliert, sondern konsequent die Bedingungen des eigenen Erzählens reflektiert und die Grenzen zwischen erzähltem Leben und Schreiben verwischt. Staufenberg, das Dorf seiner Kindheit, und das immer wieder buchstäblich abgeschrittene und kartografierte Frankfurt der späten 70er und frühen 80er Jahre sind Fixpunkte seines Erzählens, mit denen Kurzeck-Leser bereits bestens vertraut sind. Das Romanfragment „Bis er kommt“ erweitert dieses Erinnerungspanorama um neue Motive und gewichtet bereits bekannte Motive und Figuren neu. Bereits die Anfangsepisode fällt durch einen – sogar für Kurzeck’sche Verhältnisse – besonders elliptischen und gehetzten Stil auf: „Nachts aufwachen! Jäh ein Schreck! Wo bin ich? Und wer? Wer gewesen? […] Dann Wasser! Schnell! Drei Sorten! Viel Wasser trinken!“ So viele Ausrufezeichen hat man bei Kurzeck selten gesehen.

Dieses Gefühl der Bedrängnis findet im Roman mit den Motiven des Vogels und des Engels eine eindringliche Ausgestaltung. Die transkribierten Notizkonvolute, die dem Romanfragment beigefügt sind, geben Aufschluss darüber, dass Kurzeck sich „Bis er kommt“ als eine Art „Gespenster-Buch“ vorgestellt hat. Der Erzähler imaginiert sich als „Menschenvogelgespenst“, das unruhig umherflattert, seine eigenen und fremde Sorgen trägt: „Müde Seelen, an die lang schon keiner mehr denkt. Sollen hier bei den Simsen vorerst.“ Schon in den früheren Teilen des „Alten Jahrhunderts“ versucht der Erzähler nicht nur sich selbst, sondern auch Personen, Tieren und Dingen, die in Vergessenheit zu geraten drohen, eine Stimme zu geben; Kurzecks Erinnerungswut macht weder vor Igeln, noch vor dem Geschmack von Sommerwalderdbeeren oder zufällig gefundenen Kirschkernen halt. Dieser Erinnerungszwang erreicht in „Bis er kommt“ ein existentielles Ausmaß. So lässt die Erzählerfigur Schatten als Kopien seiner selbst Wege gehen, die er als einzelne Person gar nicht schaffen könnte; ewig knapp sind Zeit und Geld. Doch ist diese Spaltung in zahllose Doppelgänger keine romantische Teilung des Ichs in seine seelischen Bestandteile, keine Gut-Böse-Dialektik, sondern das Urbedürfnis des Erzählers, der stetig verrinnenden Zeit zu trotzen: „Ein paar Schatten, die den Sommer suchen. Einer schon auf den Winter zu.“ Der extrem verknappte, musikalische Erzählfluss verlebendigt das Gewesene als eine, wie Kurzeck es formuliert, „seinerzeitige Gegenwart“.

Teil dieser heraufbeschworenen Vergangenheit ist dieses Mal auch der Vater des Erzählers, welcher ihn ebenfalls als Schattenfigur im Strom der erzählten Zeit begleitet. Die Erinnerungen des Vaters an sein Wanderarbeiterleben in Böhmen entfalten sich beim gemeinsamen Spaziergang durch Frankfurt; die erinnerte Vergangenheit des Vaters überlagert sich mit der erzählten Gegenwart und macht die vagabundierende Vaterfigur so als eine Folie der Rastlosigkeit des Erzählers selbst lesbar. Da „Bis er kommt“ aber Fragment geblieben ist und nach der Selbstauskunft Kurzecks in fertiger Form etwa das Doppelte der nun vorliegenden Länge hätte umfassen sollen, lässt sich nur anhand des Notizapparates erahnen, welche Rolle dem Vater im Roman zugedacht war.

Mit diesem umfangreichen Anhang, der drei Notizkonvolute und diverse andere Entwürfe und Dokumente umfasst, haben die beiden Stroemfeld-Lektoren Rudi Deuble und Alexander Losse enorme Arbeit geleistet. Die transkribierten Notizkonvolute zu „Bis er kommt“, die Kurzeck dem Verlag kurz vor seinem Tod im Oktober 2013 übergeben hat, umfassen etwa die Hälfte des nun erschienenen Bandes. Das Manuskript bricht im 17. Kapitel ab, doch kann man sich mit Hilfe der Notizen nicht nur einen Eindruck über die geplanten Erzählstränge und Motive machen, sondern auch einen spannenden Blick in Kurzecks Werkstatt werfen. Zwar hat Kurzeck den Schreibprozess in seinen Romanen nie verhüllt – ganz im Gegenteil, das Wie des Erzählens ist schon immer zentraler Gegenstand seines Werks – aber erlauben die abgedruckten Faksimiles von Kurzecks Notizzetteln doch einen qualitativ anderen Blick in den Arbeitsprozess des Autors als es die Romane tun. Beispielsweise entpuppen sich die Notizkonvolute als bereits durchkomponierte Keimzellen: Jeder Notiz ist ein motivisches Stichwort oder eine Figur zugewiesen, diese Zuordnungen sind nochmals durch ein Farbsystem geordnet. Kurzeck, dessen Texten immer schon ein ganz eigener Klang und hohe Musikalität zugesprochen worden ist, arbeitet wie ein Komponist, der seine Text aus einzelnen, immer wiederkehrenden (Leit)Motiven webt. In diesem Sinne illustriert der editorische Apparat die poetologische Selbstauskunft des Autor-Erzählers im Roman selbst: „Nach der Reise das erste Kapitel fertig. So gut wie fertig. Soll wie ein Lied! Muß noch ein paarmal abgeschrieben werden, damit dann jeder Ton stimmt.“ Und wie ein Lied wirkt „Bis er kommt“ tatsächlich. Der oft repetierte Satz „Eine Straßenbahn klingelt“ – das Straßenbahnklingeln hat man schon aus früheren Romanen Kurzecks im Ohr – formt beispielsweise den Alltag zu einer Symphonie aus Wahrnehmungs- und Erinnerungsschnipseln.

Welche Arbeit  hinter dem Apparat steckt, lassen die Umschriften der faksimilierten Teebeutelpapiere und Caféquittungen, auf denen Kurzeck den ersten Entwurf des ersten Kapitels schrieb, vermuten. Die eng beschriebenen Papierchen beglaubigen die Authentizität des Immer-und-Überall-Schreiben-Müssens; man sieht die Notizzettelchen, ohne die der Erzähler des „Alten Jahrhunderts“ nie die Wohnung verlässt, vor sich. Die stellenweise nur mühsam zu entziffernden Aufzeichnungen erweisen sich als wunderbare Prosaminiaturen, die ungleich mehr ausgereift sind als man es von Unterwegs-Notizen erwarten würde. Der stenographische Charakter der Notizen ist sehr nah an Kurzecks ohnehin elliptischer Sprache. Im Roman heißt es: „Von unterwegs die angefangenen halben Sätze hervorkramen, blankreiben, polieren und von allen Seiten betrachten. Und vielleicht finden sich noch ein paar Sätze dazu.“ Es ist eine Freude, die Notizen zu durchstöbern und dieser Keimzellen-Poetik nachzuspüren; nachvollziehen zu können, wie sich altbekannte und neue Motive verschränken. Die Notizen sind im Übrigen auch der Ort, den man aufsuchen sollte, um Hinweise auf die Einlösung des Titels zu finden. Der Fragment gebliebene Roman gibt leider keine Antwort auf die Frage, ob und wann der Freund zurückkehrt. Aber Kurzecks Ideensammlung hält einiges an Material dazu bereit.

In seinem Nachruf auf Peter Kurzeck schrieb Christoph Schröder in der Zeit, der Tod des Frankfurter Autors sei „das Schlimmste, was der deutschsprachigen Literatur seit vielen Jahren passiert ist.“ Das ist richtig. Doch verstummen wird der einmalige Kurzeck-Sound so schnell nicht. Die letzten drei Bände des „Alten Jahrhunderts“, deren Typoskripte im Übrigen weiter ausgearbeitet sind als „Bis er kommt“, sind bereits in Planung. Die Lektoren des Stroemfeld Verlages werden sicherlich noch auf Jahre hin editorische Arbeit zu leisten haben. In der Zwischenzeit bleibt einem als Leser wohl nichts anderes übrig, als sich das Motto des ersten Bandes des Großprojekts in Erinnerung zu rufen: „Wie hoffen geht, weißt du!“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Peter Kurzeck: Bis er kommt. Romanfragment.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Rudi Deuble und Alexander Losse.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
382 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783866000902

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