Ähnliche Probleme und Herausforderungen

Die Wiedervereinigung Deutschlands aus polnischer Sicht

Von Elzbieta Tomasi-KapralRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elzbieta Tomasi-Kapral

Vor 25 Jahren, am 3. Oktober 1990, hat sich der einige Monate zuvor mit dem Mauerfall begonnene Prozess der deutschen Wiedervereinigung vollzogen. Zwei deutsche Staaten, die seit dem Zweiten Weltkrieg zwei unterschiedlichen politischen Lagern in Europa angehörten, sollten von jetzt an zusammenwachsen und ein ‚demokratisches Gesicht‘ bekommen. Nicht nur für Deutschland, sondern auch für ganz Europa begann eine neue Epoche: Die alte politische Ordnung wurde aufgehoben, die durch die Berliner Mauer symbolisch noch betonte Teilung und Abgrenzung des kommunistischen Ostens vom kapitalistischen Westen wurde beendet. Das Jahr 1989/90 bildete in vielerlei Hinsicht einen Neuanfang. Die in allen wichtigen Fernsehsendern übertragenen Aufnahmen der Ereignisse in Deutschland, für die es bis dahin in der europäischen Geschichte keine Vorbilder gab, ermöglichten den Menschen in der ganzen Welt die Teilnahme an diesem Geschehen.

Die Wiedervereinigung Deutschlands befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen und ist auch heute noch für manche umstritten. Die anfängliche Euphorie und der Optimismus, welche die Periode der sogenannten Friedlichen Revolution in Deutschland geprägt haben, wurden bald durch Skepsis und Ängste ersetzt. Durch die ganze Welt hallte die Frage, wie das geeinte Deutschland sein und welchen politischen Kurs es einschlagen würde? In dieser Hinsicht bildete Polen keine Ausnahme. Als Nachbarland, das vor Kurzem selbst die eigene Autonomie wiedergewonnen und dem kommunistischen System den Rücken gekehrt hatte, verfolgten die Menschen in Polen die politische Lage in Deutschland mit großem Interesse und höchster Aufmerksamkeit.

In der seit Mai 1989 in Polen existierenden Zeitung „Gazeta Wyborcza“, dessen Entstehung symbolisch für den Anfang der freien, unabhängigen Presse in Polen steht, erschienen jeden Tag Artikel, Berichte, Feuilletons und Interviews mit deutschen Politikern und Intellektuellen, die das aktuelle Geschehen in Deutschland den polnischen Lesern näherbringen beziehungsweise erklären sollten. Schon die Titel der Artikel weisen auf bestimmte Tendenzen hin, die den politischen Diskurs damals dominierten. Im November 1989 waren das beispielsweise Schlagzeilen wie „Schlüssel zu Deutschland, Schlüssel zu Europa“ (GW vom 15.11.1989), „Wir haben keine Angst vor den Deutschen“ (GW 15.11.1989), „Nur wenige Bürger wünschen sich Wiedervereinigung“ (GW 20.11.1989) oder „Wen bedroht Deutschland?“ (GW 24.11.1989). 1990, also wenige Monate später, dominierten schon andere Aspekte der politischen Wende in Deutschland die Debatten. Schlagzeilen wie „Bonn erfüllt polnische Förderungen“ (GW 01.03.1990), „DDR in Deutschland verwandeln“ (GW 01.08.1990), „Das europäische Deutschland“ (GW 26.09.1990) oder „Unser Nachbar – Deutschland“ (GW 03.10.1990) zeugen von einer gewissen Beruhigung und Entspannung in den neudefinierten deutsch-polnischen Beziehungen.

Die oben genannten Artikel spiegeln eine gewisse Janusköpfigkeit der polnischen Debatte über die Wiedervereinigung Deutschlands wider. Während die oppositionellen Gruppierungen in Polen die Bestrebungen Deutschlands zur Wiedervereinigung befürworteten, waren die bis 1989 in Polen regierenden Politiker eher skeptisch – niemand glaubte daran, dass sich die beiden deutschen Staaten tatsächlich vereinigen würden. Je mehr jedoch in Deutschland darüber gesprochen wurde, desto größer wurden die polnischen Befürchtungen um die eigene Sicherheit.

Alte, aus der tragischen Geschichte des polnischen Staates resultierende Ängste wurden wieder aktuell. Nach der Wiedervereinigung des westlichen Nachbarn würde sich Polen ja wieder geographisch zwischen zwei Großmächten befinden. Drei Teilungen Polens wie auch die beiden Weltkriege hatten gezeigt, dass dies nichts Vorteilhaftes für das Land bedeutete.

Die von der kommunistischen Propaganda, die Ende der 1980er-Jahre – obwohl immer schwächer – nach wie vor die polnische Gesellschaft beeinflusste, und von verschiedenen Politikern geschürten Ängste vor dem mächtigen, vereinten deutschen Nachbar fanden ihren Wiederhall in den Reaktionen der Bevölkerung auf die historischen Veränderungen in Europa. Die Ergebnisse einer 1987 durchgeführten Umfrage zeigen, dass in diesem Jahr die Hälfte der Befragten die Wiedervereinigung Deutschlands eher als fraglich einschätzte, während im Jahr 1989 nur noch 16 Prozent dieser Ansicht waren. 1987 glaubten lediglich vier Prozent an eine baldige Wiedervereinigung Deutschlands. Im Jahr 1989 hingegen war das schon für 22 Prozent der Befragten so gut wie sicher.[1]

Mit der wachsenden Wahrscheinlichkeit, dass es eine Wiedervereinigung geben würde, wuchs auch die Angst der polnischen Bevölkerung vor den Konsequenzen dieser politischen Entwicklung. In der einige Monate vor der Einigung der beiden über 40 Jahre getrennten Staaten durchgeführten Umfrage gaben 68 Prozent der befragten Polen zu, dass die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland beängstigend seien und dass sie sich durch Deutschland bedroht fühlten.

Der Mauerfall im November 1989 löste in Polen eine Welle der intensiven Auseinandersetzung mit der neuen politischen Wirklichkeit aus. Im Jahr 1990 fand im Forschungszentrum für Internationale Beziehungen der Republik Polen eine Debatte zur künftigen Rolle Deutschlands in Europa statt. Dabei besaß die Stimme Jerzy Holzers, eines polnischen Historikers, großes Gewicht. Bezüglich der neuen geographischen Aufteilung des europäischen Kontinents stellte er Folgendes fest:

In der Tat ist es für uns nicht von Vorteil, sich erneut zwischen zwei Supermächten zu befinden. Es ist nicht von Vorteil unter anderem deswegen, dass es in unterschiedlichen Formen als ein Druckmittel seitens Deutschland auf Polen verwendet werden könnte.[2]

Zu den politischen Veränderungen in Deutschland äußerten sich auch viele polnische Wissenschaftler. In ihrer am 9. März 1990 erschienenen offiziellen Erklärung verkündeten sie:

Wir erkennen hiermit das unumstrittene Recht des deutschen Volkes auf Einheit an. Wir fordern daher, dass dabei die Interessen seiner Nachbarstaaten berücksichtigt werden, insbesondere die Interessen Polens, das so große Opfer während des Zweiten Weltkrieges getragen hat. Die polnische Westgrenze, derer endgültiger Charakter  nur von der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt wird, muss stabil bleiben.[3]

Die Frage der deutschen Wiedervereinigung beschäftigte ebenfalls die katholische Kirche in Polen. Die offizielle Stellung in dieser Sache lautete:

Die Kirche in Polen, wie auch die ganze polnische Gesellschaft, unterstützt die eindeutige Haltung der Regierung der Republik Polen, welche fordert, dass Polen an den Gesprächen über die Sicherheit und die Integrität seiner Westgrenze teilnimmt. Dieses unantastbare moralische Recht darauf geben dem polnischen Volk dessen zahlreiche Kriegsopfer.[4]

Diese Stimmungen sollten sich erst in den ersten Monaten nach der Wiedervereinigung wesentlich verändern. Zweifelsohne hat dazu die offizielle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze seitens der deutschen Regierung beigetragen, wodurch die Unantastbarkeit der polnischen Grenze und die Sicherheit des Staates garantiert wurden. Ein weiterer wichtiger Schritt in der neuen deutsch-polnischen Politik bildete der von beiden Seiten ausgehandelte deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag. Beide Länder erklärten sich in diesem zu freundschaftlicher Zusammenarbeit und zu einer guten nachbarschaftlichen Beziehung (in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens) bereit.

Spricht man über die deutsche Wende und Wiedervereinigung in diesem Kontext, dann muss auch beachtet werden, dass die Bestrebungen der ostdeutschen Gesellschaft, die geplanten Veränderungen in ihrem Land durchzuführen, für die polnischen Bürger umso interessanter gewesen sind, da sie sich selbst gerade vor ähnliche Probleme und Herausforderungen gestellt sahen. Der 4. Juni 1989 ist in die Geschichte als der Tag eingegangen, an dem es zum Fall des Kommunismus in Polen gekommen ist: Die oppositionelle Gruppierung Solidarność hatte in den Wahlen gegen die kommunistische Regierung der Volksrepublik Polen gewonnen. Diesem Erfolg gingen unter anderem die Arbeiterstreiks in den frühen 1980er-Jahren, die Legalisierung der freien Gewerkschaft Solidarność und die Gespräche am Runden Tisch – um nur die wichtigsten zu nennen – voraus. Diese Erfahrungen bewirkten, dass die meisten Polen die Friedliche Revolution in der DDR doch befürworten und die antikommunistische Stimmung in der DDR nachvollziehen konnten.

In den damaligen Pressetexten, aber auch in Essays und Feuilletons findet man viele Analysen des aktuellen politischen Geschehens. Es wurden auch Vergleiche zwischen der polnischen und der ostdeutschen Art des Kampfes gegen den verhassten Kommunismus gezogen.

In diesem Kontext soll stellvertretend auf die Texte von Andrzej Szczypiorski hinweisen werden, der wohl zu den in Deutschland bekanntesten polnischen Schriftstellern und Publizisten gehört. Von einiger Bedeutung ist dabei sicherlich die Tatsache, dass er die facettenreiche deutsch-polnische Geschichte zum Hauptthema seiner Werke gemacht hat – Romane wie „Die schöne Frau Seidemann“, „Nacht, Tag und Nacht“ oder „Feuerspiele“ widmen sich diesem Themenkomplex. In seinen Essays und Reden, die in den 1980er- und 90er-Jahren entstanden sind, finden sich auch Äußerungen zur aktuellen politischen Situation in Europa, mit besonderer Berücksichtigung der Veränderungen in Deutschland und Polen sowie der Analyse der deutsch-polnischen Beziehungen. Szczypiorski beschäftigte insbesondere die Frage, welchen Einfluss die 1990 vollzogene Wiedervereinigung Deutschlands auf die deutsch-polnische Nachbarschaft haben würde. Seine Überlegungen dazu hat er unter anderem im Essay „Das Europa von morgen“[5] festgehalten. Dieser Text wurde vom Autor am 3. Oktober 1994 in Bremen vorgetragen. Wie viele andere Texte Szczypiorskis, so ist auch dieser autobiographisch beeinflusst und inspiriert. Der Autor thematisiert in seinen Texten nicht nur die komplizierte deutsch-polnische Geschichte, sondern hatte es gleichzeitig darauf  abgesehen, durch das Prisma dieser Geschichte die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Polen und Deutschen zu erklären.

In „Das Europa von morgen“ rekonstruiert Szczypiorski die Stimmung, die Ende der 1980er-Jahre in Polen in Bezug auf den Fall der Berliner Mauer herrschte. Er betont dabei die Tatsache, dass die Veränderungen in der DDR, welche die zweite Hälfte der 1980er-Jahre prägten, den Fall des Kommunismus in Polen ermöglichten. Aus polnischer Sicht ist die DDR ein Bollwerk des Sozialismus gewesen, das Polen vom lange ersehnten Europa trennte. Andererseits, so Szczypiorski, hatte der polnische Runde Tisch und der Fall des Kommunismus in Polen die deutsche Wende ermöglicht. Das Jahr 1989 hatte die politische Ordnung in Europa verändert; einem Domino-Effekt gleich wurde der Kommunismus in fast allen Ländern des Ostblocks zu Fall gebracht. Die Wende in der DDR wurde in Polen zwar mit Angst, aber vor allem, was Szczypiorski betont, mit großer Erleichterung hingenommen. Mit einer Erleichterung, die aus der Überzeugung resultierte, dass die große Welle der Veränderungen im östlichen Teil Europas nun nicht mehr aufzuhalten sei.

Szczypiorski betont in seinen Texten ebenfalls einen anderen wichtigen Aspekt, der an dieser Stelle nicht ungenannt bleiben darf: Das Jahr brachte nicht nur Veränderungen für jedes der beiden Länder, sondern veränderte auch die gegenseitige Wahrnehmung. Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die kommunistische Diktatur, hatte die beiden Nationen einander näher gebracht.

Zu einer wichtigen Stimme in den Debatten über die deutsch-polnische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehörte auch die eines in Deutschland sehr geschätzten, in diesem Jahr verstorbenen, polnischen Politikers: gemeint ist Władysław Bartoszewski. Er beschäftigte sich ebenfalls sehr intensiv mit den deutsch-polnischen Nachkriegsbeziehungen, gestaltete diese aktiv mit und hat wesentlich zu deren Normalisierung beigetragen. Sowohl auf polnische als auch auf deutsche Bürger wirkte es oft überraschend, dass ausgerechnet er, der als Pole jüdischer Abstammung die Schrecken des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib erfahren und die deutsche Sprache im KZ kennengelernt hatte, nach 1945 in der Öffentlichkeit dafür plädierte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich auf das friedliche Zusammenleben der beiden Nationen in der Zukunft zu konzentrieren. Bartoszewski verstand seine Lebensaufgabe darin, zur Versöhnung zwischen Deutschland und Polen beizutragen, wonach er zeitlebens konsequent strebte. Die Wiedervereinigung Deutschlands erlebte er in München mit, wo er an der Ludwig-Maximilians-Universität tätig war. In seinem für die „Süddeutsche Zeitung“ verfassten Artikel vom 3. Oktober 2012 erinnert er sich an die damaligen Ereignisse und beschreibt die Stimmung, die im Jahr der Wiedervereinigung in der deutschen und polnischen Gesellschaft herrschte. Bartoszewski betont dabei ähnlich wie Szczypiorski die Tatsache, dass die sich westlich der Oder abspielenden Ereignisse von der polnischen Gesellschaft als Fortsetzung jenes Prozesses betrachtet wurden, welcher wenige Monate zuvor in Polen in Gang gesetzt wurde. Bartoszewski schreibt:

Der deutsche Einigungsprozess wurde in Polen mit großem Wohlwollen und wacher Bereitschaft zur Mitwirkung an der Maueröffnung beobachtet. Die deutsche Geschichte war in diesen Wochen und Monaten auch unsere Geschichte, die Geschichte von Menschen, die Freiheit wollten und das Ende der Diktatur.[6]

Dieses bei polnischen Politikern herrschende Gefühl, dass nun ein weiteres Kapitel in der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte geschrieben werden würde, wurde noch durch die Tatsache potenziert, dass sich der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl am Tag des Mauerfalls zu einem offiziellen Besuch in Warschau befand. Der Besuch Kohls in Polen wurde zwar sofort unterbrochen, aber der Kanzler kehrte nach Polen zurück, um den unterbrochenen Besuch fortzusetzen, sobald die politische Lage in Deutschland es ihm erlaubte. Dies ist ein deutliches Zeichen für die polnische Gesellschaft gewesen – und ein Beweis dafür, dass die guten Beziehungen zum Nachbarland Polen zu den wichtigsten Punkten in der deutschen Politik gehörten respektive gehören würden.

Władysław Bartoszewski hebt in seinem Artikel hervor, dass es, da der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands parallel zum politischen Umbruch in Polen verlief, für den neuen polnischen Staat von großer Bedeutung war, im Westen einen Nachbarn zu haben, der der Europäischen Union und der NATO angehörte und der in der Zukunft Polen den Weg in diese Strukturen bahnen könnte. Die Tatsache, dass Helmut Kohl in seinen in Polen gehaltenen Reden auf die Europa-Vision von Konrad Adenauer Bezug nahm, wirkte daher wie ein Versprechen, dass diese politische Vision gemeinsam mit Polen realisiert werden würde.

Nun, nach 25 Jahren, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Aus der Perspektive des letzten Vierteljahrhunderts kann man wohl sagen, dass die Vereinigung Deutschlands aus der (nicht nur) polnischen Sicht zweifelsohne ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa gewesen ist. Die Ereignisse der Umbruchsjahre haben zu einer neuen Ära in den deutsch-polnischen Beziehungen geführt; außerdem ist deutlich geworden, dass sich die anfänglichen Ängste und Befürchtungen als grundlos erwiesen haben, im Gegenteil zu den damaligen, von der polnischen Bevölkerung gehegten Hoffnungen, die größtenteils in Erfüllung gegangen sind.

Anmerkungen:

[1] Vgl.: Tomala, Mieczysław: Zjednoczenie Niemiec. Reakcje Polaków. Warszawa 2004, S. 36f.

[2] Vgl. ebd., S. 31.

[3] Vgl. ebd., S. 84.

[4] Vgl. ebd., S. 82.

[5] Szczypiorski, Andrzej: „Europa jutra”. In: Szczypiorski, Andrzej: Kumkanie żaby, krakanie wrony… Poznań 1995, S. 181ff.

[6] Bartoszewski, Władysław: „Verhältnis zu Deutschland. Wie Polen die Wiedervereinigung lieben lernte“. In:  http://www.sueddeutsche.de/politik/verhaeltnis-zu-deutschland-wie-polen-die-wiedervereinigung-lieben-lernte-1.1485004  [Zugriff vom 28.09.2015].