Catching the Wind of Change

Der Post-DDR-Roman als Medium des kulturellen Gedächtnisses 25 Jahre nach der Deutschen Einheit

Von Yun-Chu ChoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yun-Chu Cho

„Die Magie des Moments“, die Klaus Meine, der Frontsänger der Band Scorpions in dem Lied Wind of Change besang, begleitete das deutsche Volk während der Umbrüche 1989/90. Das Lied ist als die Hymne der deutschen Wiedervereinigung in das kulturelle Gedächtnis eingegangen. Die Liedzeilen begleiteten den großen Moment der deutsch-deutschen Geschichte, die Euphorie und die in Erfüllung gegangenen Hoffnungen. Dieser „magische Augenblick“ des Umbruchs bietet heute den Stoff für viele literarische Werke, auch noch 25 Jahre nach der Deutschen Einheit.

The Wind of Change in der deutschen Literatur nach der Einheit

Rückblick 1990: Die Umbrüche, die das deutsche Volk zu dieser Zeit erlebte, wurden überwiegend mit Euphorie begrüßt, und fast zeitgleich erschienen „Wendewerke“, die mit dem Wegfall der Zensur all das thematisierten, was die DDR-Bürger beschäftigt hatte und neue Themen im Sinne einer autoreflexiven Denkweise hervorbrachten: Es erfolgte ein Abschiednehmen von der Heimat, die Schuldfrage wurde gestellt, die Ent-Schuldigungen verteilt. Vornehmlich ging es aber auch um das Bewahren der Heimat, die Erinnerung an den Alltag, und nicht zuletzt auch deswegen um einen Rückblick in die Vergangenheit, den immer auch ein Hauch von (N)Ostalgie anhaftete. Für die einen brachte der „Wind der Veränderungen“ der Deutschen Einheit die ersehnte „Wende“ herbei, für die anderen „drehte“ sich die Welt: Man empfand ein wiedervereintes Deutschland als einen „Verrat“ an den alten Werten und Ideologien. Die Aufarbeitung dieser persönlichen Erlebnisse und Eindrücke und auch der Repressionen unter der SED-Diktatur erfolgte aktiv in verschiedenen literarischen Formen. Somit konnte eine freie Literatur entstehen, die nicht mehr unter der Zensur der DDR litt. Aus der überwältigenden Masse an Werken, die produziert wurde, entstand ein komplett neues Genre, das bisher in der Forschung als Wendeliteratur bezeichnet wird.

Zum 25. Jubiläum der Deutschen Einheit stellt sich in Literaturkreisen die Frage nach einer (Zwischen-)Bilanz: Ist der Begriff Wendeliteratur noch treffend? Die künstliche  Forderung in den Feuilletons nach „dem einen großen Wenderoman“ und die damit einhergehenden Überlegungen ob und wer den „großen Wenderoman“ geschrieben hat, sind überholt. Zahlreiche Schriftsteller haben sich bis heute daran versucht und abgearbeitet. Offensichtlich hat sich für das Feuilleton die Frage nach dem Wenderoman jedoch noch nicht erledigt: Jahr für Jahr ist der erneute Aufschrei nach dem vermeintlichen Wenderoman zu vernehmen. Diese Forderungen stehen in klarer Diskrepanz zu den vielen Werken, die bislang veröffentlicht wurden. Abseits feuilletonistischer Forderungen stellt sich somit die Frage nach den „Nachwenderomanen“.

Die folgenden Überlegungen erörtern in diesem Zuge die Nachwendeliteratur als kulturelles Gedächtnis der Deutschen. Der Wind of Change ist in diesem Gedächtnis festgehalten und zeichnet sich als ein Genre mit vielen heterogenen Komponenten aus. Der „eine große Wenderoman“ wurde noch nicht geschrieben – und wird wohl auch für immer feuilletonistisches Wunschdenken bleiben. Es ist stattdessen die Masse an verschiedenartigen Werken, die den Gesamtkomplex des Genres des Post-DDR-Romans ausmachen, und die „den großen Wenderoman“ definieren.

Begrifflichkeiten: Wendeliteratur versus Post-DDR-Literatur

Wie aber definiert sich die (Nach-)Wendeliteratur? Einen Überblick über die Tendenzen in der Literatur der ersten zehn Jahre nach der Deutschen Einheit gab Volker Wehdeking in dem Sammelband Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (2000). Er benutzte weder die Begriffe „Einheitsliteratur“ noch „Wendeliteratur“ und versuchte stattdessen von einer festen Begriffsdefinition Abstand zu nehmen. Frank Thomas Grubs Nachschlagewerk zur „Einheit und Wende in der Literatur“ (2003) gibt dagegen eine konkrete Bandbreite an Definitionen und Charakterisierungen der Wendeliteratur der ersten Dekade nach der Deutschen Einheit. Dieser Begriff wird bei ihm für Literatur verwendet, die sich thematisch mit der DDR, dem Mauerfall beziehungsweise der Einheit und deren Folgen befasst.

In diesem Text soll der weit verbreitete Begriff „Wendeliteratur“ durch eine neutralere Alternative ersetzt werden, da das Wort „Wende“ den Eindruck einer strikt positiven „Wendung zum Besseren“ vermittelt. „Post-DDR-Literatur“ scheint hingegen präziser, da nicht in jedem Werk, in dem die „Wendezeit“ beschreiben wird, immer und unbedingt ein positives Licht auf die Umbrüche der Zeit geworfen wird. Um die kritischen Auseinandersetzungen besser benennen zu können, wird die „Post-DDR-Literatur“ wie folgt definiert: Es ist Literatur, die von Autoren geschrieben wurde, die mit wenigen Ausnahmen aus der DDR stammen, sprich die dort geboren und aufgewachsen sind, Werke, die nach der Deutschen Einheit geschrieben und publiziert wurden, und sich thematisch mit der Zeit unmittelbar vor, während und nach der Einheit befassen.

Die kleine Sparte an westdeutschen oder ausländischen Autoren wird hier nicht näher beleuchtet; eine Differenzierung von jener Post-DDR-Literatur, die nicht von Autoren aus der DDR geschrieben wurde beziehungsweise wird, würde zu umfangreiche Fragen aufwerfen und den Rahmen dieses Essays sprengen.

Der populäre Kanon: Bestseller und der Deutsche Buchpreis

Ein Blick auf den populären Kanon und die Bestsellerlisten im deutschsprachigen Raum zeigt die immer noch wichtige Präsenz der Wende- und Nachwenderomane im Kulturbetrieb. Es finden sich nach der Wende vermehrt Werke, die sich mit der DDR beschäftigen. Markus Joch bezeichnete die Tendenzen der deutschen Pop-Literatur nach der Einheit zwar als „Geschmacksterrorismen“ – anlehnend an Pierre Bourdieus Aussage über Künstlerintentionen um die Kakophonie an Eindrücken zu beschreiben –, doch kann die popliterarische Verarbeitung des Topos „Wende“ auch einfach als facettenreich gestaltete angesehen werden.

Diese Spanne der Zeitgeschichte scheint als Topos in der Literatur populärer zu sein denn je: Die Longlist für den Deutschen Buchpreis, die als ein Gradmesser der populären Stimmung verstanden werden kann, zeigt eine Bestandsaufnahme des Themas ‚Aufarbeitung der DDR und der deutschen Einheit‘. Sie dient als ein Beleg für eine aktive literarische Aufarbeitung. Zu den Werken, die im Laufe der Preisausschreibung in die engere Auswahl kamen, zählen zum Beispiel Neue Leben (2005) und Adam und Evelyn (2008) von Ingo Schulze, Die Stille (2009) von Reinhard Jirgl, Gegen die Welt (2011) von Jan Brandt, Berlin liegt im Osten (2013) von Nellja Veremej und Clemens Meyers Im Stein (2013); Peter Richter spielt sogar mit den Wendezahlen im Titel seines Romans 89/90 (2015). In Peter Stamms Sieben Jahre (2009) wird auf den Mauerfall hingewiesen, in Marlene Streeruwitz’ Die Schmerzmacherin (2011) findet die DDR zumindest Erwähnung, und auch bei Ulrich Peltzer hat eine Figur mit DDR-Vergangenheit Einzug in das Werk Das bessere Leben (2015) gefunden. Namen von Autoren, die „Wendewerke“ publizierten, sind ebenfalls mit anderen Titeln auf den Listen vertreten, beispielsweise Julia Franck, Thomas Hettche, Hans Joachim Schädlich, Jenny Erpenbeck oder Uwe Timm.

Nicht zuletzt lässt der kommerzielle Erfolg einiger Autoren und Werke auf ein aktuelles Interesse am Thema DDR und ihrer Aufarbeitung schließen. Die Gewinner des Deutschen Buchpreises beispielsweise reflektieren die Gewichtung dieses Genres auf dem Buchmarkt der deutschen Gegenwartsliteratur. Als 2008 Uwe Tellkamp mit seinem Roman Der Turm den Deutschen Buchpreis erhielt, wurde das Werk als der Wenderoman gefeiert und beachtet. Zusätzlich wurde ihm durch eine Verfilmung Aufmerksamkeit zuteil. Es folgten weitere Preisträger wie 2011 Eugen Ruge mit In Zeiten des abnehmenden Lichts und 2014 Lutz Seiler mit seinem offiziell „kein Wenderoman“-Werk Kruso, welches trotzdem ebenfalls der Post-DDR-Literatur zugeordnet wird, da sich die Handlung in der DDR abspielt und die Wende den zeitlichen Hintergrund bildet.

Erinnerungsdiskurse: Post-DDR-Literatur als kollektives und kulturelles Gedächtnis

Die oben aufgeführte Virulenz, die Fülle an unterschiedlichen Texten zeigt das noch heute anhaltende Interesse der Leser an der Wendezeit. Dabei stellt sich die Frage nach der Funktion, die der Post-DDR-Literatur zukommt.

Eine der möglichen Antworten hierfür ist in der Aufarbeitung einer Erinnerungskultur zu sehen. Denn Erinnern ist immer auch ein „Verlangen nach Geschichte, nach Herkunft, nach Heimat“. Nach dem Fall der Mauer und dem Verlust der DDR als Heimat wurde in der Post-DDR-Literatur vermehrt danach gesucht. In diesem Genre geht es darum, die eigene Geschichte und die der untergegangenen SED-Diktatur zu erzählen. Die Analysen und Konstrukte, die mit der Post-DDR-Literatur gebildet werden, stehen jedoch teilweise im Gegensatz zu den Erklärungsmodellen der Geschichtswissenschaftler beziehungsweise Zeithistoriker. Hier ist es die Literatur, die ein Meer von verifizierten Erinnerungsbildern schafft, das auch in Bezug zu Jugendlichen eine besondere Relevanz erfüllt. So bemerkt etwa Michael Meyen zur Erinnerung an die DDR, dass die heutige Jugend von heute ein „Zerrbild vom Leben in der DDR“ (2013) besitze. Die Post-DDR-Literatur kann somit einen spezifischen Erinnerungsdiskurs anlegen und als Medium des kollektiven Gedächtnisses fungieren.

Erst kürzlich, Ende September 2015, wurden auf der internationalen Konferenz am Institut für Germanistik der Universität Warschau zu dem Thema Kulturen und Sprachen der Erinnerung etwa 150 Vorträge gehalten, die unter anderem auch die Funktion von Literatur als Gedächtnis untersuchten und Werke der Post-DDR-Literatur im Zusammenhang mit der Erinnerung beleuchteten. Unter anderem stand am Ende Eines fest: Dass Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses nicht wegzudenken ist, aber auch, dass die literarischen Darstellungen nicht unbedingt eins zu eins Geschichtsdarstellungen waren, sondern vielmehr Denkanstöße zur Reflexion und Erinnerung.

Jan Assmanns Aussage (1997), dass „Erinnerung ein Akt der Semiotisierung“ sei und nur „bedeutsame Vergangenheit“ erinnert wird, und nur diese „erinnerte Vergangenheit“ eine Bedeutung gewinnt, kann man zudem direkt auf die Post-DDR-Literatur beziehen. Der Akt der Erinnerung zur Formung des kulturellen Gedächtnisses wird von jenen literarischen Werken durchgeführt, die an die DDR erinnern. Zweifelsohne wird die Post-DDR-Literatur in den folgenden Generationen als kollektives Gedächtnis fungieren. Das Bild, dass der Oscar-prämierte Film Das Leben der Anderen hinterlassen hat, schreibt sich ebenso in das kulturelle Gedächtnis ein wie die Schilderungen der bürgerlichen Gesellschaft in Uwe Tellkamps Der Turm.

Somit kann analog zu den historischen Ereignissen das Aufkommen einer neuen literarischen Gattung bestimmt werden, welche als Bruch mit der bisherigen DDR-Literatur verstanden werden muss. Hierauf verweist etwa Wolfgang Emmerich (nach Wehdeking, 2000), der in Bezug zu Ingo Schulze erkannte, dass dieser mit seiner Schreibweise „einen Text jenseits aller DDR-typischen Lebens- und Schreibmuster vorgelegt“ hatte. Dies deutete Emmerich als einen klaren Bruch mit der DDR-Literatur. An Stelle einer diktierten und reglementierten Literatur etablierte sich die Post-DDR-Literatur als eigenständiges Genre.

Dass sich die Wendezeit bekanntlich als nicht ganz unproblematisch erwies, kann man auch in der Literatur nachempfinden. Nach einer Phase der Euphorie machte sich unter anderem Unmut aufgrund der Schwierigkeit einer neuen Identitätsfindung breit. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Strömungen der Literatur wider.

Dabei waren sich die Inszenierungsmodi der Post-DDR-Romane zunächst einander sehr ähnlich. In der Literatur entstanden Stadtromane, die die Atmosphäre der Städte einzufangen suchten, individuelle oder auch familieninterne Schicksalsgeschichten, die sich in neuen Familienromanen spiegelten, einer Gattung, die längst tot geglaubt war, und die durch das Aufgreifen der Post-DDR-Thematik wiederbelebt wurde. Die Erinnerungsbedürfnisse der Zeitzeugen formierten sich in ihren literarischen Werken – als Einsprüche und Kommentare zur Erinnerung an die Geschichte, und der Problematisierung eines „wie es wirklich war“. Es schien wichtig, den Wert eines Werkes anhand des Authentizitätsgrades der Darstellung der ‚typischen Eigenschaften‘ der DDR-Bürger zu bemessen. Die „unhintergehbare Subjektivität“ der Autoren gaben der Post-DDR-Literatur einen hohen Grad an Authentizität, da Literatur als ein Mittel fungiert, um diese subjektiven Wahrnehmungen zu Papier zu bringen. So findet sich die „Authentizität des Selbsterlebten“ in fast allen Post-DDR-Romanen wieder. Durch das vermehrte Aufgreifen von „Legitimations- und Identifikationsbemühungen“ ergibt sich jedoch ein Kritikpunkt an der Post-DDR-Literatur, da sich durch die eben beschriebenen, streng subjektiven Sichtweisen eingeschränkte Wahrnehmungen der Autoren und auch der Perspektiven der Figuren ergeben.

Eine wiederkehrende Kernfrage der Post-DDR-Literatur ist das Topos „Mauer“, sei es die reale Mauer, oder die sprichwörtlich gewordene „Mauer in den Köpfen“. Joseph Beuys stellte bereits 1964 zum Topos der Mauer die Fragen: „Welches Wesensglied in mir oder anderen Menschen hat dieses Ding entstehen lassen? Wieviel hat jeder von uns zum Möglichsein dieser Mauer[n] beigetragen und trägt weiter bei? Ist jeder Mensch ausreichend am Verschwinden dieser Mauer[n] interessiert?“ Diesen von Beuys aufgeworfenen Fragen scheinen auch die Autoren der Post-DDR-Romane verpflichtet zu sein, sind sie doch selbst ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall noch virulent. Während sich die Mauer als Motiv einer Post-DDR-Literatur etabliert, unterliegen die Reflexionen bezüglich der Mauer und ihrer damit assoziierten Fragestellungen literarischen Neuerungen.

Michael Meyen schreibt über das deutsche Empfinden: „Westdeutsche glauben zu wissen, wie es gewesen ist, Ostdeutsche vermeiden es, als DDR-Bürger enttarnt zu werden“, deswegen verschwinden „Arrangement“ und „Fortschritt“ aus dem kollektiven Gedächtnis. Diese Tendenzen zeigen sich auch in der neueren Post-DDR-Literatur. Plötzlich wurde der mutige DDR-Bürger gezeichnet, der sich gegen das System zur Wehr setzte, dann wurde eingeräumt, dass die DDR-Gesellschaft nicht so fortschrittlich war wie die im Westen. Später wurde jedoch vor allem das „neue Unbehagen der Ellenbogengesellschaft“ thematisiert. Dieselben Abbreviaturen werden von Roman zu Roman wieder benutzt, um den Alltag in der DDR zu rekonstruieren.

Das spätere Phänomen der (N)Ostalgie in der Literatur lässt sich hingegen durch „aktuelle kollektive Enttäuschungen und Kränkungen“ erklären. Sie dient als eine „Kompensation für eine zugemutete Zweitklassigkeit“ der DDR-Bürger. In anderen Worten: „Die Bildung einer postumen DDR-Identität stellt einen Akt sozialer ‚Selbstermächtigung‘ der Ostdeutschen dar“. In der verklärten literarischen Erinnerung an die DDR hatte alles seine Ordnung, die dargestellte Kindheit vermittelt Sicherheit.

Die DDR-Geschichte bietet somit noch immer ein facettenreiches Themenfeld für die Literatur. Der Umgang mit der jüngsten Zeitgeschichte Deutschlands hat sich zu einem wichtigen Feld der Geschichtskultur etabliert. Zeitgeschichte wird als „Geschichte, die noch qualmt“, bezeichnet, und diese Geschichte qualmt noch in vielen Werken über die DDR. Dabei bedient sie sich zumindest in Ansätzen autobiographischer Züge. Und tatsächlich scheint es im Genre der Post-DDR-Literatur schwierig, Autor und Werk voneinander zu trennen. Wirft man einen Blick auf die Texte, dann scheint eines sicher: Die derzeitigen Definitionen und Untersuchungen zeigen, dass die nötige Distanz für einen objektiven Blick noch nicht geschaffen ist.

Neben autobiographischen Zügen durchzieht zudem eine gewisse Ernsthaftigkeit den Großteil der Post-DDR-Romane. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Diktionen und der bisherigen Strömungen erkennen. Werke, die die DDR aufarbeiten, werden in einem strengen, sachlichen Ton gehalten, denn die Werke sollen möglichst realitätsnah die DDR beschreiben und genau an sie erinnern. Ein mögliches Erklärungsmuster hierfür ist, dass die Deutsche Einheit und die Umbrüche zeitlich als zu nah empfunden werden. So erscheint es den meisten Autoren als richtig, die DDR aus einer subjektiven Perspektive nachzuerzählen. Hierfür dienen strenge Beobachtungen und ein eigener Jargon mit dem Wortschatz aus der DDR, minutiöse Schilderungen werden bevorzugt. Die Post-DDR-Literatur scheint also weiterhin einer didaktischen Ernsthaftigkeit verpflichtet zu sein, dessen tragender Ton vielleicht einen neuen Impuls benötigt, da sie auserzählt zu sein scheint. Dieser Ernsthaftigkeit setzen manche Autoren ein gewisses Maß an Leichtigkeit entgegen, womit die Grenzen des Genres kontinuierlich ausgeweitet werden. Einen Bruch mit den oben beschriebenen starren Narrationsweisen bietet die Satire.

Thomas Brussig, als einer der Autoren gefeiert, der einen Wenderoman geschrieben hat (Helden wie wir, 1995) ist zudem einer der wenigen – oder vielleicht auch der einzige Autor –, der es schafft, die Wirren der Wende und die Schuldfragen auf eine humorvolle Art darzustellen. Seine lakonische Sprache und satirische Darstellung der DDR und seiner Bewohner in vielen seiner Werke animieren zum Schmunzeln und Lachen. Inmitten der ernsten Darstellungen des DDR-Alltags, des Unrechts, der Schuldfragen und der sachlichen Darstellungen scheinen seine Werke zu glänzen durch kontrafaktische Geschichtserzählungen – etwa in Bezug auf die Ursachen des Mauerfalles in Helden wie wir (1995), oder er liefert eine romantisch verklärte Sicht auf den Alltag und seine Tücken in der DDR  wie in Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999). Brussig bedient sich zuweilen eines unzuverlässigen Erzählers (Leben bis Männer, 2001), kreiert aberwitzige Zufälle in Wie es leuchtet (2004) und erfindet in seinem autobiografischen und kontrafaktischen Roman Das gibts in keinem Russenfilm (2015) die deutsch-deutsche Geschichte nach 1990 neu.

Post-DDR-Romane erzeugen auf verschiedenartigste Weise peu à peu das Bild der DDR und die Zeit nach der Deutschen Einheit im kulturellen Gedächtnis. Ein Teil der Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurse wird heute auch mittels der Post-DDR-Literatur geführt. So dienen diese Werke den nachfolgenden Generationen auch als kulturelles Gedächtnis. Freilich lässt sich der weitere Weg einer kollektiven Erinnerung durch die Post-DDR-Literatur nicht bestimmen oder vorhersagen.

Klar ist hingegen, dass sie bereits in Diskrepanz zur Lebenswirklichkeit ehemaliger DDR-Bürger steht. Meyen beispielsweise diagnostiziert heute bei den Deutschen (entgegengesetzt zu den Tendenzen, die man auf dem Buchmarkt beobachtet) ein „gestörtes kommunikatives Gedächtnis“: „Sie wollen sich nicht mehr über die DDR unterhalten.“ Für ihn nehmen die Bilder der Kulturindustrie, die seit 1990 fast ausschließlich von der Diktatur in der DDR erzählen, den Deutschen den „Anker für kollektive Identität“. Dies kann man jedoch kritisch hinterfragen, indem man die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema der Aussage Meyens gegenüberstellt. Der Bedarf, alles in Worte zu fassen und darüber zu schreiben, ist – in Hinblick auf die literarischen Tendenzen – noch immer ungestillt.

Was mit dem vermehrten Schweigen der DDR-Literatur passierte und warum die Brüche in der Geschichtserzählung keine sind

Nach dem Mauerfall und der Wende sei literarisch nur eine „erzählerische Vielfalt“ dem vielschichtigen Geschichtsereignis angemessen, konstatiert Heide Hollmer. Mit ihrer Definition widerspricht sie der allgemeinen Suche nach dem Wenderoman, der diese Ereignisse gebündelt darstellen sollte. Die absolute Gültigkeit, den unbedingten Wahrheitsanspruch der so genannten Wendeliteratur gibt es nicht. All die unterschiedlichen Texte bilden den Kanon zur Post-DDR-Literatur und eröffnen neue Erinnerungsweisen.

Den Charakter der Post-DDR-Literatur definiert Asako Miyazaki in ihrer Dissertation als „Brüche in der Geschichtserzählung“ (2013). Die Post-DDR-Literatur in all ihren Facetten sei nicht als homogenes Genre zu verstehen, sondern als eine heterogene Masse an Texten, in denen die Umbrüche und Wendeproblematik jeweils individuell verarbeitet werden. Ihre Beobachtung, die Texte einer Post-DDR-Literatur zeigten, „dass der Akt der Erinnerung an die DDR zur Distanzierung von kollektiver Identitätsstiftung führt“, soll an dieser Stelle produktiv weitergeführt werden.

Die Diversität an Ausdrucksformen in der Post-DDR-Literatur, die als „Brüche“ bezeichnet werden, charakterisieren ihren rhizomatischen Aufbau, um es mit Gilles Deleuze und Felix Guattaris Rhizom-Konzept zu erklären. Denn Post-DDR-Literatur teilt sich in gemeinsame große Kategorien, „Vielheiten“ auf – in so genannte Plateaus im Sinne von Deleuze und Guattari. Erzählungen aus dem alltäglichen Leben (in Form von Sachbüchern oder Sach-Romanen à la Jana Hensels Zonenkinder oder Alexander Osangs ´89), autobiographische Werke (wie Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe), Schuldfragen/Ent-Schuldigungen zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts (staatlich) oder individuelle Schicksalserzählungen (wie zum Beispiel Thomas Brussigs Leben bis Männer), (n)ostalgische Werke wie Klaus Kordons Krokodil im Nacken oder Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee, und auch die Westsicht auf die Schwierigkeiten der Wende (Sven Regeners Herr Lehmann). Obwohl sich die Textformen, die Miyazaki in ihrer Arbeit als „heterogen“ und als „Brüche“ bezeichnet, unterscheiden, sind durchaus auch Gemeinsamkeiten in der Post-DDR-Literatur zu finden.

In der Tat gibt es eine Polyphonie, die die polymorphe DDR in den Romanen auferstehen und zugleich in ihre Stücke zerfallen lässt. Doch es lassen sich ebenso Topoi filtrieren, die als rhizomatische Plateaus verstanden werden können. Demnach ist der Post-DDR-Roman nicht nur auf einer Ebene zu betrachten, sondern als einer rhizomatischen Struktur verpflichtet anzusehen. Jede Eigenart, die Miyazaki der Post-DDR-Literatur zuschreibt und auf Grund deren sie zum Schluss kommt, dass es keine Homogenität in diesem Genre gäbe, kann als einzelnes Plateau weitergedacht werden. Ein mögliches Plateau wäre beispielsweise der Topos des Schweigens, der zwar nicht für das ganze Rhizom, aber doch für eine Vielzahl von Werken gilt. Es ist gerade die von Miyazaki beschriebene Heterogenität oder auch die von Hollmer erwähnte Vielfältigkeit, die die Homogenität des Genres ausmachen.

Um die Tendenzen der Post-DDR-Romane besser zu erfassen, ist es zunächst unumgänglich, einen wissenschaftlichen Blick auf die späte DDR-Literatur zu werfen. Susanne Liermann schreibt in ihrer 2012 erschienenen Dissertation, dass sich in der späten DDR-Literatur eine besondere Form des Schweigens im Angesicht der prekären Verhältnisse in der DDR geformt hatte. Sie findet diese in den Werken von Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Christa Wolf, Gert Neumann, Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Jan Faktor sowie Hans Joachim Schädlich. Die DDR-Autoren entzogen sich angesichts der „Kunstverhinderung und -verfolgung“ der Zeit, indem sie auf verschiedene Arten und Weisen das Schweigen als Metapher verwendeten. „Ohnmächtig“ sei die DDR-Literatur, und das vermehrte Schweigen ein Zeichen der Verweigerung gegen die Diktatur, resümiert Liermann unter anderem.

Es heißt, „das Redegebot der Erinnerungskultur spendet Versöhnung, Schweigen hat eine zerstörerische Macht“. Dem Schweigen wird demnach eine destruktive Funktion  zugeschrieben, gegen die sich die Post-DDR-Literatur zu wehren scheint, indem sie genau dieses Schweigen thematisiert. So werden diesem nicht selten Wortkaskaden entgegengestellt.

Nimmt man dieses Beispiel aus dem Kanon der Post-DDR-Romane, findet man die Thematisierung des Schweigens in vielfältigsten Lesarten und eingebettet in die unterschiedlichsten Rahmenhandlungen. 1995 wird beispielsweise in Erich Loests Nikolaikirche das Schweigen und die Rede im Rahmen eines religiösen Umfelds beleuchtet. Das Schweigen im bürgerlichen Milieu, im Kreis der Familie und im sogenannten „Tal der Ahnungslosen“ in Dresden wird von Uwe Tellkamp 2008 in Der Turm thematisiert. Sowohl Loests als auch Tellkamps Texte, die beide von der Zeit unmittelbar vor dem Mauerfall handeln, wurden gefeiert und verfilmt. Auch Ulrich Schacht beschreibt das Schweigen in seinem 2001 erschienen Werk Verrat. Die Welt hat sich gedreht, indem er seinen Protagonisten nach der Wende einen Stasi-Hauptmann aufsuchen lässt, der verantwortlich für seine Inhaftierung zu DDR-Zeiten war.

Auch wenn sich diese Werke verschiedener Zeiten, gesellschaftlicher Kreise und literarischer Formen bedienen, so kann man doch die Gemeinsamkeit des Schweigens als literarischen Topos in ihnen wiederfinden und damit das Schweigen als eine verbindende Ebene definieren.

Eine Zwischenbilanz zur Post-DDR-Literatur

25 Jahre nach der Deutschen Einheit kann die Suche nach dem großen Wenderoman  eingestellt werden. Es wurden bereits etliche Wenderomane geschrieben, die sich mit dem gleichnamigen Thema befassten. Und wenn es auch den einen großen Wenderoman (noch) nicht geben sollte, so ist alles Warten vergebens, denn es wird ihn höchstwahrscheinlich auch nie geben. Wird doch das Genre des Wenderomans gerade dadurch definiert, dass es sich in einer Zusammensetzung vieler heterogener Post-DDR-Werke präsentiert. Diese weisen thematisch mitunter große Unterschiede auf, zeigen jedoch ästhetische Konvergenzen wie zum Beispiel bestimmte Stilmittel und Topoi. Als ein weiteres Charakteristikum kann auch das Schweigen als zentrales Thema genannt werden.

So versucht die Post-DDR-Literatur noch heute den Wind of Change einzufangen. Gespannt ist der Blick auf die literarischen Auseinandersetzungen gerichtet, die bisher in ihrer Gesamtheit als eine Art Rhizom den Korpus des Wenderomans ausmachen. Voraussichtlich wird es noch zahlreiche Auseinandersetzungen mit der deutsch-deutschen Vergangenheit und deren Aufarbeitung geben, konstatierte doch Thomas Brussig bereits im Jahr 2008: „Die DDR ist ein Geschenk, das uns die Geschichte gemacht hat.“ Subsummierend lässt sich sagen: Das größte Ereignis der jüngeren deutschen Zeitgeschichte wird auch noch zukünftige Generationen beschäftigen. Die Deutsche Einheit als literarischer Stoff wird weiterhin viele Werke beeinflussen und den Korpus des Wenderomans wachsen lassen.

Die Suche nach „dem einen großen Wenderoman“ als ein einzelnes Werk in geschlossener Form kann man beenden: Denn der Wenderoman wird (noch) geschrieben – und zwar in den Myriaden von großen und kleinen Post-DDR-Geschichten. Alle Facetten der literarischen Aufarbeitung in Romangestaltung formen somit den Post-DDR-Roman. Es ist kein einzelnes Werk, so wie wir es kennen, sondern ein Geflecht aus vielen Geschichten, die ineinander verwoben sind und die das Wenderoman-Rhizom ausmachen.

Literaturhinweise

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1997.

Deleuze, Gilles und Felix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977.

Erll, Astrid und Ansgar Nünning: A companion to cultural memory studies. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2010.

Gansel, Carsten und Elisabeth Herrmann (Hrsg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013.

Handro, Saskia und Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichts-kulturellen Diskurs. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2011.

Markus Joch: Geschmacksterrorismen. Eine Möglichkeit deutsche Pop-Literatur zu beschreiben. In: Frank Thomas Grub: Wende und Einheit im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, 2003.

Grub, Frank Thomas: Wende und Einheit im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, 2003.

Internationale Konferenz „Kulturen und Sprachen der Erinnerung“, 25.-26.09.2015, Universität Warschau, Polen: http://www.germanistyka.uw.edu.pl/pliki/konf-kijp-de.pdf

Liermann, Susanne: Die Vermehrung des Schweigens. Leipzig, London: Plöttner 2012.

Meyen, Michael: Wir haben freier gelebt. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld: transcript 2013.

Miyazaki, Asako: Brüche in der Geschichtserzählung. Erinnerung an die DDR in der Post-DDR-Literatur. Würzburg: Königshausen und Neumann 2013.

Schenk, Ralf: „Kintopp oder Wahrheit?“ in: Berliner Zeitung vom 23.01.2008. URL: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/ueber-das–ddr-bild-als-historische-fiktion–wurde-im-harvard-center-diskutiert-kintopp-oder-wahrheit-,10810590,10533754.html [Zuletzt aufgerufen am 05.10.2015].

Stephan, Inge und Alexandra Tacke: NachBilder der Wende.  Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008.

Wehdeking, Volker (Hrsg.): Mentalitätswandel in der Literatur zur deutschen Einheit (1990-2000), Berlin: Erich Schmidt 2000.