Der Robin Hood von Tokio

Fuminori Nakamuras Roman „Der Dieb“ erzählt eine doppelbödige Geschichte über Schicksal und Einsamkeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er bestiehlt nur die Wohlhabenden. Wenn Nishimura unterwegs ist auf den Straßen und Plätzen Tokios, in Einkaufstempeln und überfüllten U-Bahnen Ausschau hält nach potenziellen Opfern, dann sucht er sich gewöhnlich die aus, deren Outfit auf eine gut gefüllte Börse schließen lässt. Männer in Designeranzügen, mit protzigen Uhren am Handgelenk und teuren Ringen am Finger. Ihnen nähert er sich mit der ganzen Erfahrung eines Diebes, der sein Metier beherrscht. Und ehe sich die Auserwählten versehen, sind sie ihre Brieftaschen und Portemonnaies los und haben dabei nicht mehr gespürt als einen leichten Windhauch.

Nishimura ist allein. Und relativ bedürfnislos. Die ausgeweideten Geldbörsen steckt er mit den privaten Dingen ihrer Besitzer, die er nicht braucht, in den nächsten Briefkasten. Die Post wird sie den Bestohlenen zurückbringen. Früher hat er mit anderen zusammengearbeitet, in der Regel zu dritt: Einer hat das Opfer abgelenkt, ein Zweiter es gegen neugierige Blicke anderer Passanten abgeschirmt, der Dritte schließlich den Diebstahl begangen. Oft denkt Nishimura an Ishikawa. Von ihm hat er all die Tricks gelernt, die das Handwerk fast zu einer Kunst machen. Doch Ishikawa ist tot, ermordet im Auftrag einer Unterweltgröße nach dem letzten gemeinsamen Auftrag, für den der Mafioso sie angeheuert hatte. Nichts als Kanonenfutter sollten sie sein, falls die Sache schiefgehen würde. Und als sie nicht schiefging, waren die kleinen Diebe plötzlich zu großen Risiken geworden.

Fuminori Nakamura, 1977 geboren und mit einem Dutzend Romanen seit 2003 regelmäßig in den Bestsellerlisten seines Heimatlandes vertreten, hat mit „Der Dieb“ auch international auf sich aufmerksam gemacht. Die gelungene deutsche Übersetzung erscheint sechs Jahre nach der japanischen Originalausgabe. Sie entführt uns in den Großstadtdschungel Tokios und in die Gedankenwelt eines einsamen Menschen. Nakamuras Held hat bei seinem Vorbild Ishikawa gelernt, dass Besitz Diebstahl ist – „Solange auch nur ein einziges Kind auf dieser Welt Hunger leiden muss, ist jeder Besitz Diebstahl.“ – und Diebstahl eine Möglichkeit, die grundsätzlich verkehrten Verhältnisse in der Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen: „Wenn du jemandem mit einer Milliarde hunderttausend klaust, ist das ein Klacks.“ Mit dem erbeuteten Geld wusste der heimlich Bewunderte oft nichts Besseres anzufangen, als es einfach weiterzuverschenken oder es Non-profit-Organisationen zu spenden: „Meistens verschleuderte er es noch am gleichen Tag.“

Doch die Zeiten, in denen Ishikawa und Nishimura gemeinsam oder mit ihrem dritten Mann, Tachibana, unterwegs waren, sind vorbei. Immer noch muss sich der Taschendieb vorsehen, nicht in die Hände des skrupellosen Kizaki zu fallen, jenes Mannes, der schon Ishikawa töten ließ. Eigentlich sollte er sogar Tokio verlassen, um das Schicksal nicht herauszufordern. Doch plötzlich ist da jemand, der zu ihm aufschaut und seine Hilfe braucht. In einem Lebensmittelgeschäft beobachtet er einen kleinen Jungen beim Stehlen. Das Kind ist geschickt, aber Nishimura sieht auf den ersten Blick, dass der Ladendetektiv den Jungen schon im Visier hat.

Indem er ihm hilft und mit ihm und seiner sich prostituierenden Mutter, auf deren Anweisungen hin das Kind stiehlt, bekannt wird, verhält er sich menschlich. Je enger die Beziehung zu den beiden allerdings wird, umso verletzlicher wird Nishimura auch. Damit besitzt der Mafioso Kizaki ein Druckmittel, als er eines Tages wieder in Nishimuras Leben auftaucht. Drei Aufgaben muss der für den Gangster übernehmen – und falls er versagt, soll das dem Jungen und seiner Mutter das Leben kosten.

„Der Dieb“ ist ein Roman, der von Anfang an auf ein tragisches Ende hinausläuft. Aus der Ich-Perspektive von Nishimura erzählt, erinnert er stark an japanische Samuraigeschichten und die von diesen vermittelten klassischen Wertvorstellungen. Vom modernen Japan zeichnet er ein durchaus dunkles Bild. Die Millionenstadt Tokio erscheint als Sündenbabel und Labyrinth, in dem die einen ihren Reichtum schamlos ausstellen, während die anderen von Armut und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft ihnen gegenüber immer weiter nach unten gedrückt werden. In diesem Zusammenhang kommt den Erwartungen des Yakuza-Bosses Kizaki von einer Zeit, in der alles auf den Kopf gestellt werden wird, was heute noch Gültigkeit besitzt, fast ein revolutionäres Potenzial zu. Nishimura allerdings hilft das wenig. Am Ende stirbt er so einsam und allein, wie er vorher lange Zeit gelebt hat. Nur die Sehnsucht nach Liebe und Gemeinschaft lässt ihn für eine kurze Weile die Welt heller sehen. Doch muss er letztendlich erkennen, dass sich an ihm ein Schicksal erfüllt, dem gegenüber er keine Macht besitzt.

Titelbild

Fuminori Nakamura: Der Dieb. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
211 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069457

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