Von Omasprache und Vatersprache

Im Roman „Die Farbe des Granatapfels“ geht Anna Baar ihren kulturellen Wurzeln nach

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Anna Baar setzt sich nach Ana Tajder („Titoland“, 2012) und Alida Bremer („Olivas Garten“, 2013) abermals eine in der deutschen Sprache heimische Autorin kroatischer Herkunft mit ihren Befindlichkeiten zwischen zwei Sprachen und Kulturen auseinander. Gemeinsam sind Tajder und Baar der Geburtsort Zagreb und das Zielland Österreich, zudem trennt die beiden Autorinnen nur ein Lebensjahr voneinander und sie schreiben aus der kindlichen Perspektive. Bremers Alter Ego hingegen ist erwachsen und in Deutschland verwurzelt, die Erbschaft des Olivenhains der Großmutter wird zum Anlass, die Geschichte Kroatiens über sechs Generationen sehr persönlich und lebendig zu erzählen. Auch Baars Debütroman „Die Farbe des Granatapfels“ handelt von der Beziehung einer österreichisch-kroatischen Enkelin zu ihrer kroatischen Großmutter.

Jeden Sommer verbringt das Mädchen Ana ohne ihre Eltern bei der kauzigen, rechthaberischen, besitzergreifenden, stets qualmenden Oma Nada in Kroatien am Meer. Die Oma, die sich einst vom kochlöffeldünnen Mädchen zur Diva der Flaniermeile ihrer Heimatstadt mauserte, spricht, denkt und handelt kroatisch. Sie sieht es als ihre Pflicht an, Anas „von der anderen Sprache zugerichtete Zunge“ jeden Sommer aufs Neue zu lösen und die Enkelin zu beschützen, zu belehren, zu erziehen und zu bemuttern. Das über die langen Ferien verwilderte Kind ist hin- und hergerissen, schließlich liebt und schätzt es auch das sommerlose Land in dem es lebt, und aus dem der Vater kommt. Aber gegen Omas schreckliche Kriegserinnerungen, ihre Vorurteile und Ressentiments gegenüber dem verhassten Fremdland „Esterraich“ kommt Ana mit Worten nicht an.

Einfühlsam beschreibt Ana Baar das Dilemma, zwischen zwei Sprachen und Kulturen aufzuwachsen. Die alleinige Taktgeberin ist dabei Nada, der Vater oder die Mutter werden namentlich nie erwähnt und handeln im Roman nicht aktiv. Die intensiven Gespräche an den langen Ferientagen bei der patriarchalisch geprägten Oma und ihr starker Einfluss durch das Umsorgen verorten die Gedanken, die Entwicklung und das Erwachsenwerden in Kroatien. Dass Ana vieles „Oma zuliebe und Vater zuleide“ tat, daran lässt das erzählende Ich keinen Zweifel. Als sie sprachlich und gesellschaftlich in die Rolle des schwachen Geschlechts gedrängt werden soll, begehrt sie dagegen auf.

Erst mit zunehmendem Alter geht sie bewusster ihren eigenen, wenn auch nach wie vor beschwerlichen Weg, genießt heimlich jedes Wort der Österreichisch sprechenden Touristen und studiert in Wien Slawistik, um endlich auch in Kroatien dazuzugehören. Das Oszillieren  zwischen den Sprachen wird von ihr erlebt als „eine rätselhafte Metamorphose, ein neues Lied, das man anstimmte, um den Gesetzen eines anderen Denkens und Fühlens zu folgen“. Als der Krieg in den 1990er-Jahren eine neue Sprache, einen neuen Pass und eine neue Währung bringt und an der Universität Wien ihr Studienfach in Serbisch und Kroatisch getrennt wird, verweigert Ana sich dieser Entwicklung. Schließlich wurde sie in Jugoslawien und nicht in Kroatien geboren.

Die Sprache der Autorin illustriert eindrucksvoll die kulturellen Unterschiede. Sie lässt den Leser mit typisch kindlichen Formulierungen an den Fremdheitserfahrungen teilhaben. Nicht nur zwischen der von dem „Nichtvordenkindern“, dem „Dassagtmannicht“ und dem „Dastutmannicht“ geprägten „hohen Sprache“ des Vaterlands und der Omasprache, die durchaus zu fluchen verstand, besteht ein eklatanter Gegensatz. Während Österreich zum Land der Verbote, der Nazitaten, aber auch der „echten Weihnachten“ und nützlichen Medikamente wird, bleibt Kroatien als Land der Feigen, Oliven und Zikaden, des Fledermaushimmels, des Meeres und der Bora, der billigen Zigaretten, des Reigentanzes Kolo, der Märchenhexe Baba Roga, des Säuglingssterbens und der harten Schokolade im Gedächtnis. „Da wie dort lautete der Auftrag“, wie es an einer Stelle heißt, „nur ja nicht nach den anderen zu geraten, obwohl man da wie dort stets anders blieb“.

Durch die Schilderung amüsanter Begebenheiten und die lebendige Konfrontation zweier Generationen macht dieser weise Roman von Anna Baar die Bedeutung von Fremdheit, Sprache, Heimat(en) und omnipotenten Familienmitgliedern für die Identitätsentwicklung von Kindern in interkulturellen Familien erfahrbar. Zu Recht sorgte er beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 für positive Resonanz.

Titelbild

Anna Baar: Die Farbe des Granatapfels. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317659

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