Verdichtete Geschichte

Charles Haldemans literarisches Diptychon „Der Sonnenwächter“ ist eine beeindruckende Neuentdeckung

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sich von diesem Buch in jedem Fall sagen lässt, ist, dass es ungewöhnlich ist, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst handelt es sich nämlich nur in der deutschen Übersetzung um eine Neuerscheinung. Die amerikanische Originalausgabe des Romans von Charles Haldeman erschien bereits im Jahr 1963 unter dem Titel „The Sun‘s Attendant“, und da der Deutschamerikaner darin in erster Linie deutsche Zustände verhandelt, scheint es doch bemerkenswert, dass dieses Buch dem deutschen Lesepublikum über mehr als fünf Jahrzehnte weitgehend vorenthalten blieb. Andererseits wird man nicht sagen können, dass der Autor heute ein im angloamerikanischen Raum bekannter Name wäre, sodass dem Verlag und seinen Übersetzern hier eine wichtige literarische Neuentdeckung gelungen ist.

Zum Zweiten handelt es sich bei „Der Sonnenwächter“ um ein literarisch ambitioniertes und höchst anspruchsvolles Werk. Der Erstling des 1931 in South Carolina geborenen Haldeman – später schrieb er zwei weitere Romane – tritt im originellen Gewand eines literarischen Diptychons als Rahmen für geradezu avantgardistische Formexperimente auf. Abgesehen von seinem Sujet wirkt das Buch daher trotz der seit seinem ersten Erscheinen vergangenen 50 Jahre kaum gealtert, ja beinahe zeitlos. Drittens schließlich – aber darauf wird noch zurückzukommen sein – entwirft der Roman in seinem zweiten Teil ein Portrait der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, wie man es in der deutschen Literatur kaum je gelesen hat, von der amerikanischen ganz zu schweigen. Der Autor, der als Sohn eines aus Deutschland ausgewanderten jüdischen Vaters in den 1950er-Jahren selbst in Heidelberg studierte, verarbeitet hier einen Teil seiner im Übrigen etwas dunkel bleibenden Biografie – dunkel vor allem im Kontrast zu der seiner Hauptfigur. Ab 1957 lebte Haldeman bis zu seinem Tod Anfang des Jahres 1983 in Griechenland.

Der „Sonnenwächter“ gliedert sich als Diptychon in zwei sogenannte Paneele, die wiederum durch „Scharniere“ zusammengehalten und jeweils entsprechend dem Sonnenlauf in Kapitel untergliedert werden – von der Sommersonnenwende bis zum Herbstäquinoktium, von der Wintersonnenwende bis zum Frühlingsäquinoktium. Diese hochgradig symbolisch aufgeladene Struktur verweist ebenso wie der Titel des Romans auf das Reich der Legenden und Erzählungen des fahrenden Volks. Stefan Brückmann nämlich, Haldemans Protagonist und Alter ego, ist der 1929 geborene Sohn eines Roms und einer Deutschen. Der erste Teil des Romans, das „linke Paneel“, widmet sich den mannigfachen Zufällen und Verstrickungen der ersten beiden Lebensjahrzehnte ebendieses Stefan Brückmann. Nach dem Unfalltod seiner leiblichen Eltern kommt er in eine Berliner Pflegefamilie, schließlich aber – und das eher versehentlich – nach Auschwitz, wo er aufgrund seiner deutschen Herkunft jedoch überlebt. Nach Kriegsende als Displaced Person durch Deutschland irrend, wird er von einem amerikanischen Soldaten, Jesse Byrne, der wegen seines runden Gesichts nur Moon genannt wird, aufgelesen und adoptiert und gelangt so für einige Jahre nach Nordamerika.

Erst nach dem Selbstmord seines Adoptivvaters – bedingt durch dessen Verstrickung in einen auf den Rassismus der Südstaaten und die scheiternde Vater-Sohn-Beziehung zu Stefan verweisenden Schuldkomplex –, kehrt Brückmann in den 1950er-Jahren zurück nach Europa. In Paris trifft er auf Immanuel de Bris, einen französischen Intellektuellen, der sich seiner literarischen Entwicklung annimmt. Der Leser befindet sich an diesem Punkt bereits in den Scharnieren des Diptychons und erkennt nachträglich in den weit gespannten Aufzeichnungen der Brückmann‘schen Lebensgeschichte des linken Paneels Einträge in einem Notizbuch, welches de Bris ihm überlassen hat. Dieser vermittelt Stefan Brückmann auch die Bekanntschaft mit Barbara Speer. Die Liebesbeziehung zu ihr, der Witwe des jung verstorbenen Autors Paul Speer, steht im Zentrum des zweiten Teils des Romans, des „rechten Paneels“.

Hier finden wir Brückmann als Studenten und Schriftsteller in der Universitätsstadt Heidelberg. Die Schilderungen dieser Umgebung, des akademischen Nachkriegsmilieus der Neckarstadt, bilden neben den Eindrücken aus dem Konzentrationslager den eindrucksvollsten Teil des Buches, das sich in diesem Punkt auch als Schlüsselroman lesen lässt. Das kenntnisreiche Nachwort des Hallenser Amerikanisten Martin Meyer weist darauf hin. Hier haben unter anderem Karl Löwith und die Witwe von Georg Groddeck Auftritte, vor allem aber in Erinnerungsfragmenten von Barbara deren verstorbener Ehemann Paul Speer. Hinter diesem verbirgt sich niemand anderer als Rainer Maria Gerhardt, der beinahe legendär zu nennende, leider allerdings auch fast vergessene Schriftsteller und Herausgeber der Literaturzeitschrift „fragmente“, der für die Vermittlung angloamerikanischer Literatur von Ezra Pound bis Robert Creeley im Nachkriegsdeutschland große Bedeutung hatte. Erst vor wenigen Jahren hat Uwe Pörksen beim Wallstein Verlag eine verdienstvolle Gesamtausgabe des 1954 im Alter von 27 Jahren durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Gerhardt herausgegeben. In Brückmanns Beziehung zu Paul Speers Witwe Barbara verbirgt sich in literarischer Verschlüsselung jedoch wiederum Haldemans eigenes Liebesverhältnis zu Gerhardts Witwe Renate – ihr ist sein „Sonnenwächter“ auch gewidmet.

Was aus diesem äußerst knappen Abriss des in der Übersetzung wenig über 300 Seiten starken Romans deutlich werden dürfte, ist dessen hoher Verdichtungsgrad. Einerseits werden alle nur vorstellbaren Themen inhaltlich verhandelt: gesellschaftliche Diskriminierung und Antiziganismus, Nationalsozialismus und Konzentrationslager, Homosexualität und Rassismus, die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft mit ihrem Nebeneinander von alten Nazis und deren Opfern beziehungsweise den zurückgekehrten Emigranten, schließlich die intellektuelle und auch Literaturgeschichte der jungen Bundesrepublik. Andererseits treten im formalen Rahmen des Diptychons alle denkbaren Textsorten auf – Erzählprosa, Gedichte, Briefe, Dramenfragmente, Traumsequenzen et cetera –, die in ihrer Kollage eine formale Offenheit bedingen, welche wiederum der vielfachen Bewusstseins- und Perspektivenbrechung des Romans, seiner inhaltlichen Unaufgelöstheit und Unvollendetheit entspricht. Hinzu kommen ferner der Aspekt des Schlüsselromans und sein bereits erwähnter symbolischer Anspielungsreichtum. Brückmanns Suche nach der eigenen Identität findet insofern konsequenterweise kein Ende, sondern führt ihn zurück in das Reich der Erzählungen und Geschichten der Roma.

Dies alles erklärt, warum dieser im Übrigen in der deutschen Übersetzung leider nur mäßig gut Korrektur gelesene Roman auf große Begeisterung in Literaturkritik und Feuilleton stieß, dokumentiert unter anderem durch den zweiten Platz auf der SWR-Bestenliste im Sommer dieses Jahres. In der Tat wurden die Originalität und die Begabung des Autors einst bereits in der englischen Presse und jetzt nun auch in der deutschen Aufnahme des Buches gefeiert. Nur stellt sich die Frage, ob diese Begeisterung nicht gewissermaßen nur die halbe Wahrheit über Haldemans Roman widerspiegelt: Denn gefeiert wird hier womöglich mehr das, was man gern in ihm sähe, was der Roman vielleicht sein könnte, als das, was er wirklich ist. Der formale Avantgardismus und die Weite und Offenheit seines Programms bedingen nämlich einen Mangel an Konzentration, der nicht nur den Leser verwirren muss, sondern der auch die Person des Stefan Brückmann und die je einzelnen verhandelten Elemente seiner Biografie hinter der Vielfalt des Materials und seiner literarischen Verarbeitung verdeckt. Die Vielzahl formaler und inhaltlicher Aspekte belastet das Buch in einem Maße, dass entschieden daran zu zweifeln ist, ob es unter dieser Last bestehen kann. Alle Wege und Abwege eines Vierteljahrhunderts verdichtet in der Geschichte einer Person – womöglich entspricht das der Realität einer Zeit, auf die Haldeman Anfang der 1960er-Jahre als unmittelbare Vergangenheit zurückblicken kann. Doch erscheint sein Roman kaum als geeignetes Medium, um diese Auseinandersetzung befriedigend auszutragen, und lässt daher allzu viele Fragen offen. Umso mehr fällt es dadurch aber schwer, diese Auseinandersetzung in einer um Jahrzehnte verzögerten Rezeption nun nachzuvollziehen. Daran, dass es sich um ein bemerkenswertes Buch und eine verdienstvolle Übersetzung handelt, ist deshalb allerdings nicht zu zweifeln.

Titelbild

Charles Haldeman: Der Sonnenwächter. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Egbert Hörmann und Uta Gordis.
Metrolit Verlag, Berlin 2015.
334 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783849300999

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