Reflexion von Zeitlichkeit

Robert Schindels „Hymnen an die Nacht“ in seinem Gedichtband „Scharlachnatter“

Von Iris HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Salome das Haupt Jochanaans auf einem Silbertablett empfängt, kommt ihr seine Zunge vor wie eine scharlachrote Natter: „Und deine Zunge, sie spricht kein Wort, Jochanaan, diese Scharlachnatter, die ihren Geifer gegen mich spie. Es ist seltsam, nicht? Wie kommt es, dass diese rote Natter sich nicht mehr rührt?“

Aus Oscar Wildes Einakter Salome stammt das Bild, das nicht nur Robert Schindels neuem Gedichtband den Namen gibt. Der Band enthält auch ein Gedicht, das den Titel „Scharlachnatter“ trägt. Dieses Gedicht nimmt im Vergleich zu Oscar Wildes Salome eine bedeutende Inversion vor: Bei Schindel hat das kollektive Wir des Gedichtes die Scharlachnatter im „Maul“, das Wir, das an die Position Salomes tritt, verdammt vom Prophetenwort Jochanaans. Ihm, der Verdammnis predigt, wolle man die Natter erst zwischen die Lippen stecken: „Wir / Mit der Scharlachnatter im Maul wollen / Dir den Kopf abhauen und die / Natter dir zwischen die Lippen stecken / Um hernach deine Botschaften /  Nachzureden Jochanaan.“

Was ist hier geschehen? Das Gedicht Schindels suspendiert die Begehrensgeschichte der Salome, sie kommt in ihm nicht vor. Jochanaan wird nicht begehrt, alles konzentriert sich auf seine verdammende Rede. Aus der Salomegeschichte bleibt nur dieses eine Element zurück: die Rede, der Mund, die Lippen, die Zunge, die die Laute formt.

Unter diesem Bild der Scharlachnatter versammelt Robert Schindel seine neuesten Gedichte. Es verweist zumindest auf zwei Bereiche: 1.) Auf den sinnlichen Urgrund der Poesie, auf die Formung der Laute im Mund, auf die gefährlich aussehende Schlange, die jedoch, wenn man es biologisch sieht, völlig harmlos ist. 2.) Im Opernkontext ist die Rede Jochanaans eine Warnung, das Leben zu ändern, vorgetragen mit einem Eifer, den das Gedicht diskutiert. Dadurch, dass Jochanaan die Scharlachnatter des Wir erst sterbend erhielte, ist das Wir verbunden mit ihm, seine Botschaften werden vom Wir, das sich zunächst vom „grauenhaften Menschen“ distanziert hatte, aufgenommen. In dieser Hinsicht ist die Rede von einer Umkehr, der Eiferer rettet das Wir vor sich selbst. Diese Perspektive kommt im Gedicht zur Darstellung: „Schauerlich dieser Eifer rettest uns / Vor uns die wir dich hinschreiten.“

So wie in diesem Gedicht verhält es sich auch in vielen anderen Gedichten des neuen Bandes: Die Inversion ist eine ihrer Grundstrukturen. Das Gesagte kann sich unerwartet ins Gegenteil verkehren, oder zumindest in ein grundsätzliches Bedenken dessen, was in einem Vers geäußert wird und im nächsten schon wieder zur Disposition steht. Die Gedichte haben eine Beweglichkeit, die von den Lesenden eine große Aufmerksamkeit verlangt. Sie bleiben nicht bei dem ersten Eindruck, den sie vermitteln, stehen, sie drehen und wenden sich und scheinen darauf zu vertrauen, dass das Lesen diese schnellen Schlangenbewegungen mitmacht.

Wie die anderen Gedichtbände Robert Schindels ordnet sich auch dieser in einzelne Kapitel: „Bleibt einer jäh stehen“, „Zwischen Stundenglas und Nu-Mühle“, „Bitter in meiner Lebenslust“, „Klappe den Laptop zu“, „Sich darin gütlich tun“, „Als da der Mond aufzieht“ heißen sie und zeigen, worum es in diesem Gedichtband „geht“. Die Reflexion von Zeitlichkeit spielt eine große Rolle, zudem nehmen – wie immer bei Schindel – die selbstreflexiven, das heißt auf das Dichten selbst bezogenen Gedichte einen bedeutenden Raum ein. Nicht zuletzt jedoch geht es um das Schillernde und Facettenreiche der Sinnlichkeit und des Lebens. Gerade hier sind die Inversionen der Scharlachnatter sichtbar, hörbar auch. Unsichtbar hingegen sind die Verbindungen der Gedichte in den einzelnen Kapiteln untereinander: Sie sind nicht in einzelne Blöcke getrennt, sondern korrespondieren miteinander, diffundieren ineinander. Am deutlichsten wird das dort, wo die Nacht den Imaginationsraum bildet. Vielleicht hat nach Novalis niemand mehr die Nacht so gefeiert wie dieser Dichter. Schon das erste Gedicht ist dafür ein gutes Beispiel:

Anzählung 2
(Befund)

Die allgegenwärtigen Schnarchnasen
Durchsäbeln die Stille
Dass sie auffliegt
Und einwolkt

Unter ihr im milden Wind
Gehen wir ohne
Schellen an den Mützen ohne
Karos am Gewand

Herab wirbelt das Gekrächz und Gezirp
Besteppt den Boden

Ein mooriger Nachtwind
Räumt den Himmel auf
Sukzessive schläft das Geschnarche ein

Einen Moment Ruhe
Und doch ein Gegurgel
Hebt nunmehr an

Wird dringlicher
Durchsäbelt
Fliegt auf
Bildet

Die Geräusche der Nacht werden abgelauscht in ihrer Vielfalt, in ihrer Lautstärke verhandelt, bis aus einem „Moment Ruhe“ eine neue Bewegung hervorschnellt: „Fliegt auf“. Das Anfangsgedicht passt gut zu denen, die noch folgen, es bereitet auf sie vor. Genau werden Hörbares, Sichtbares, generell sinnlich Erfahrbares wahrgenommen und „besilbt“, sie werden „Sprachspatzen“, und letztlich wird resümiert: „Zum Entlegenen will ich / mein Wort schicken“.

Die Themen der Gedichte sind Tod und Liebe. Sie handeln von den Dingen, die enden, die gelingen und sprechen von denen, die nicht gelingen. Sie widmen sich dem Schmerz, der Lust – und dem Leid, das Lust kennt: „Bitter in meiner Lebenslust“. In diesem Geviert sind die heftigsten Inversionen zu bemerken. Verhandelt wird dabei, wie Sprache angemessen von der Liebe sprechen kann und wie monströs beispielsweise ein „Ichliebedich“ ist: „Jenes Satzmonster an Böschungen aufprallt / Sich überschlagend und schließlich / Im Talgrund verscheppert.“

Vergleicht man den neuen Gedichtband mit den anderen, zumindest aber mit den beiden vorangegangen, der Wundwurzel und dem Mausklickenden Saeculum, so lässt sich eine leise Veränderung dort ausmachen, wo die Gedichte auf die Toten, die Ermordeten im Holocaust, zurückschauen:

Beim Besilben

Da meine Toten versintern
Merk ich dass die Wunden veralten
Auch wenn die Schmerzen überwintern
Kann ich Narben verwalten

Der Fluchtsprung ins Leid
Mag nicht mehr gelingen
Der Schrei jener Zeit
Hallt bloß in den Dingen

So entspringen die Worte
Die vom Schmerze künden
Wie aus der Retorte

Meine Toten verschwinden
Doch mag ich noch finden
Beim Besilben die Borke.

Die Wundwurzel liegt nicht mehr frei, die Narbe ist jedoch noch sichtbar, der Schmerz ist auch nicht verschwunden, aber seine Ursache liegt viele Jahre zurück. Das Gedicht erstaunt, denn gerade die Wundwurzel und auch das Mausklickende Saeculum haben die Erinnerung an die Toten beschworen. Auch hier wird die Erinnerung nicht geschmälert, jedoch wird darauf verwiesen, dass die Toten schon lange nicht mehr da sind. Aber: Das Gedicht schließt mit der noch vorhandenen Borke, die normalerweise die darunterliegenden Schichten des Baumes schützt. Hier ist sie noch vorhanden, die Bäume, zu denen sie gehört, sind verschwunden. Das „Besilben“ hingegen lässt die Borke finden, vielleicht nutzt es sie als Schreibmaterial. Deutlich wird dann in einem anderen Gedicht, Gedenkkerze, entstanden im Umfeld eines Symposiums in Bamberg zum Thema europäisch-jüdische Literatur, dass das Gedenken nicht aufhören wird, solange es „Gedenkkerzen“ gibt und mit ihnen ein Hineinleuchten in die Labyrinthe der Vernichtung. 

Eine Perspektive auf einen „Zukurzgekommenen“ zeigt uns das Gedicht Vorbeimarsch. (Monolog des Zukurzgekommnen) Der Vorbeimarsch demonstriert einen Weg der Gewalt, imaginiert aus der Sicht des Täters. Es ist nicht der Versuch, einen solchen „Stracholder“ zu verstehen, aber es richtet den Blick auf die Innenperspektive desjenigen, der nicht anerkennen will, dass eine moderne Gesellschaft sehr verschiedene Mitglieder integrieren kann.

Die eindrucksvollsten Gedichte sind die, die Selbstgesprächen ähneln und in der Mitte der Nacht ein schlafloses Ich sinnieren lassen. Schlaflosigkeit ist der Zustand, der aus seiner Mittelstellung zwischen Wachsein und Schlafen eine besondere Aufmerksamkeit bedeutet. In ihm verbinden sich Wort, Traum und kommender Schlaf zu einer Möglichkeit des Dichtens, des Wortefindens und das heißt bei Schindel vor allem auch Bilderfindens. Sie sind originell, sie werden österreichischer, ichbezogener und eröffnen gerade dadurch neue Horizonte für die Lesenden. Wem es ums Entschlüsseln geht, kommt nicht immer weit. Aber wenn man langsam liest, Beziehungen der Verse zueinander aufspürt, Wortveränderungen nachspürt, vor Inversionen nicht zurückschreckt und an klugen Neologismen seine Freude hat, wird reich beschenkt. Ganz erfreulich ist, dass die Gedichte eigentlich nicht so melancholisch sind, wie man schon in einigen Besprechungen lesen konnte. Auch dort, wo der Tod ins Visier gerät, schaut die Lebenslust um die Ecke. Und letztendlich bekommt das Lieben starke Formulierungen – Worte, die sich auch vom Tod nicht schrecken lassen: „Die Wörter pendeln / Trocknen nicht aus.“

Titelbild

Robert Schindel: Scharlachnatter. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
105 Seiten, 20,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424865

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch