T.E. Lawrences Essay „Die Wüste wächst“ wurde nun erstmals ins Deutsche übersetzt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Spur und Nachfolge Friedrich Nietzsches – er trägt den Zarathustra als eines seiner drei „titanischen“ Bücher stets bei sich im Gepäck – bricht 1909 ein junger Engländer namens Thomas Edward Lawrence, Historiker und Archäologe aus Oxford, in die Wüste auf, um über die Festungsarchitektur der Kreuzritter im Heiligen Land zu arbeiten und von 1911 bis 1914 die Hethiter-Stadt Karkemis auszugraben. Drei Jahre später wird er unter dem Namen Lawrence von Arabien als Organisator, Logistiker und Theoretiker des arabischen Aufstandes gegen das osmanische Reich in die Abenteuerbücher der Welt eingehen.

Und Lawrence wird der arabischen Wüste ein großes und ein kleines Denkmal setzen. Ein großes: das berühmte ‚Pfadfinderbuch‘ mit dem alttestamentarischen Titel: „Die Sieben Säulen der Weisheit“, geschrieben 1919, verloren auf dem Londoner Bahnhof Paddington 1919, rekonstruiert und überarbeitet von 1919 bis 1926. Und ein kleines Denkmal: eine militärtheoretische Denkschrift namens „The Evolution of a Revolt“ / „Die Wüste wächst“, publiziert in der ersten Nummer der Zeitschrift „The Army Quartely“ im Oktober 1920. Auf wenigen Seiten bietet der Essay die Essenz des monumentalen Großbuches, dessen berühmtes 33. Kapitel er vorwegnimmt: ein hitziger Hybrid zwischen militärhistorischer Abhandlung und Abenteuer-Erzählung, zwischen Carl von Clausewitz‘ ›Vom Kriege‹ und Gustave Flauberts ›Salambo‹.

Tatsächlich ist der erst jetzt unter dem Titel „Wüsten-Guerilla“ in deutscher Übersetzung vorliegende Text, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Reiner Niehoff, viel mehr als nur die Chronik des Aufstandes, die Lawrence sich zu schulden meinte; er ist die erste Theorie der Guerilla im 20. Jahrhundert, und er ist eine in den Sand geschriebene Antwort auf die Fragen: Gibt es eine spezifische Erfahrung der Wüste? Gibt es ein spezifisches Wüsten-Subjekt? Gibt es auch eine spezifische Wüsten-Enttäuschung? Gibt es gar eine eigene Wüsten-Strategie? Und was soll uns, den wohltemperierten und moderat klimatisierten Mitteleuropäern, diese Wüsten-Strategie, wenn es sie denn gibt?

Das Nachbeben dieser Wüstenschrift ist beträchtlich; es reicht von Hans Erich Nossack, Wolfgang Koeppen und Denis de Rougemont bis zur nomadischen Philosophie von Gilles Deleuze und Felix Guattari. „Wir wollen“, schrieb Wolfgang Koeppen bereits 1955 euphorisch, „Lawrence aufnehmen in die Bruderschaft der gestürzten Engel, der Frühgestorbenen, der Frühvollendeten, der Frühermatteten, er gehört in die Reihe der Hölderlin, Shelley, Rimbaud, Trakl, Radiguet. Er war von ihrem Geist,er war aus ihrem Blut … «

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Titelbild

Thomas Edward Lawrence: Wüsten-Guerilla. Zweisprachige Ausgabe. Mit zahlreichen Originalfotografien von T.E. Lawrence.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Reiner Niehoff.
Übersetzt aus dem Englischen von Florian Tremba.
Blauwerke Verlag, Berlin 2015.
100 Seiten, 2,00 EUR.
ISBN-13: 9783945002056

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