Tohuwabohu im Gerichtssaal

In seiner kleinen Fingerübung „Das Monster von Neuhausen“ denkt Ernst Augustin überzeugend über die Ehre und die Ärzte nach

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Folglich werde ich mit meinen Ausführungen beginnen, handelt es sich doch um Schuld und Reue – es handelt sich um die Schuldfähigkeit meines Mandanten. Die hier ganz ausgeprägt erscheint. Drei Todsünden soll er also im Lauf seines Lebens begangen haben, von denen er zwei bekennen möchte  – – wir wissen, es gehört überhaupt nicht hierher, keineswegs zur Sache, könnte trotzdem signifikant sein. […] Da habe er also einst in seiner Jugend einen Käfer zertreten. […] Kein Mensch weiß, warum sich unser Tobias entsetzte, jedenfalls trat er gegen den Käfer, so heftig, dass er gegen die Seitenwand platzte“. Und an dieser Stelle bricht der erste Tumult los, der sich nach den nächsten Worten wiederholt. Dann wurden auf den hinteren Bänken Lehnen abmontiert. Es nützt nichts, dass der Verteidiger, der hier so verdreht redet, das Hohe Gericht anruft: Die Zuschauer wollen randalieren, und sie randalieren auch. Schließlich geht es um ein Monster, das „Monster von Neuhausen“.

Ein Tohuwabohu bricht im Gerichtssaal los, ein „Tohuwabohu ersten Ranges, wie ich es noch niemals erlebt habe. Bezeichnenderweise.“ Es ist ein Prozess, der die Geschichte des Schreibwarenhändlers Tobias Knopp unter die Lupe nehmen will. Knopp musste sich einer Hirnoperation unterziehen, weil ihm ein gutartiger Tumor entfernt werden sollte, doch leider ist die Operation missglückt: Aus Versehen hat der Chirurg den Sehnerv durchtrennt. Aber der ausführende Arzt, die Kapazität Prof. Dr. Dr. Simmering, „in allen Fachblättern und Fachorganen, in der Fachliteratur generell für seine hochpräzise Diagnostik gerühmt“, streitet natürlich alles ab, meint sogar, dass Knopp ein Simulant und Hypochonder sei, gar nicht blind, sondern nur auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus. Er führt ihn seinen Studenten vor und demütigt ihn öffentlich. Worauf Knopp Rache nimmt und den Professor mit der Axt erschlägt.

Aber das schlimmste ist: Knopps Verteidiger dreht durch, verheddert sich in seinen mäandernden Ausführungen, spielt sich gar zum Verteidiger seiner selbst und dieses „Verbrechers aus verlorener Ehre“ im Schillerʼschen Sinn auf: „Die Ehre, meine Damen und Herren, ist ein Relikt aus einer Zeit, da der Mensch sich noch besinnen konnte. Wie soll er denn heute, vollgeschüttet, vollgedröhnt, ersäuft und ersoffen in einer Flut von immerwährenden Medien, wie soll er sich da besinnen?“

Mit grandiosen Bildern und einer Wortflut, die man so von ihm gewohnt ist, beschreibt der 87-jährige Psychiater und Schriftsteller Ernst Augustin den seltsamen Fall. Über den Kopf von Knopp schreibt er: „Da wird über der Stirn ein Portal geöffnet, eine Knochenplatte wird gesägt, ein breites Knochentor geöffnet, eine feine weiße Hirnhaut, ein hochverletztliches, bläulichzartes Hirn erblickt das Licht des Tages, blank und bloß, steht plötzlich frierend im Freien.“ Aus dem ernsten Fall, der dem Autor sogar selbst passiert ist, macht er ein Gerichtsprotokoll, das schnell zur Groteske gerät. Augustin gibt den Verteidiger, der sich in mehreren Ansätzen und Reden an das Hohe Gericht, der Lächerlichkeit preisgibt. Er schraubt sein Pathos als Rollenprosa in eine Höhe, aus der sie auf jeder Seite mindestens einmal in den Abgrund stürzt.

Sein Buch ist gleichermaßen eine hochironische Abrechnung mit dem hierarchischen Ärztesystem, die wie eine „riesige weiße Wolke hereinflatterte, mit wehenden Ärztemänteln, Ärztehosen, Schuhen, Hemden und weißen Ärztekitteln“. Aber auch mit den Juristen und den Medien, die Knopp, unter Missachtung aller Fakten und der normalen Journalistenethik zum „Monster von Neuhausen“ machen.

Das schmale Buch in großer Schrifttype ist ein kurzes, amüsantes „Protokoll“, wie es im Untertitel heißt. Ein Protokoll nicht nur des Falls eines modernen Michael Kohlhaas, der sich an seinem Peiniger rächt, sondern auch der Kunst eines großen Schriftstellers, dem hier eine kleine Fingerübung selbst kunstvoll und absichtsvoll aus dem Ruder geraten ist. Augustin zeigt, welcher Einfälle, welcher Volten und Hakenschlagerei, welcher Bilder er, selbst fast blind, immer noch fähig ist. Der Augustin-Kenner wird viele seiner Drehungen und Wendungen wiedererkennen: das ständige Sichunterbrechen und ironische Hinterfragen, die hinter der „Realität“ lauernden anderen Realitäten, die nicht weniger wahr sind.

Titelbild

Ernst Augustin: Das Monster von Neuhausen. Ein Protokoll.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
117 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406674846

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