Warum es sich lohnt, von einem alten Kotzbrocken zu lesen

Ein Tagebuchroman mit Anhang von Tanizaki Jun’ichirō

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, sympathisch ist er nicht, der alte Mann, den die LeserInnen im Roman „Tagebuch eines alten Narren“ von Tanizaki Jun’ichirō kennenlernen werden. Utsugi Tokusuke, so der Name des Protagonisten, denkt nicht daran, die Rolle eines verantwortungsbewussten Familienvorstandes und liebevollen Großvaters auszufüllen. Stattdessen widmet er sich mit allem, was ihm noch übriggeblieben ist – also vor allem Geld –, der Realisierung seiner erotischen Phantasien. Zum Ziel der Begierde wird dabei seine Schwiegertochter Satsuko, eine ehemalige Tänzerin, die offenbar mit Billigung ihres Mannes ein Verhältnis hat. Es sind insbesondere ihre Füße, die einen unwiderstehlichen Reiz auf den Alten ausüben. Langsam baut sich eine Art sadomasochistische Beziehung zwischen den beiden auf.

Tokusuke wendet dabei diverse Listen an, um der Geliebten näher zu kommen und mit ihr allein zu sein. Ein drei Millionen Yen teures Tigerauge entlockt Satsuko erotische Zugeständnisse, die jedoch über die Erlaubnis, sie an verschiedenen Körperstellen zu küssen, nicht hinausgehen. Die Bitten seiner eigenen Tochter um Unterstützung lehnt er mit einiger Härte ab. Bei einer Reise nach Kyōto entwickelt er schließlich den Plan, die Fußabdrücke Satsukos als Buddhas Fußspuren in seinen Grabstein einarbeiten zu lassen, um auch noch nach seinem Tod von der Geliebten gewissermaßen „getreten“ zu werden. Als er tatsächlich Satsuko dazu bringt, ihn ihre Abdrücke anfertigen zu lassen, verlässt sie am nächsten Tag Kyōto, um heimlich nach Tōkyō zurückzukehren. Nach seiner Rückkehr entschuldigt sie sich bei ihm: „Du bist jetzt sicher sehr müde, ojiisan.“ Die ganze Familie kehrt ins Haus zurück. An dieser Stelle endet das Tagebuch.

Der folgende Nachtrag, der aus Arztberichten und einem Auszug aus dem Tagebuch der Tochter besteht, ist vor allem eines: die schlagende Erinnerung, dass es niemals günstig ist, einem Erzähler voll und ganz zu vertrauen.

Das „Tagebuch eines alten Narren“ erschien 1962 in Japan als aktuelles, zeitgenössisches Buch, sind die darin geschilderten Ereignisse doch in den zwei Vorjahren angesiedelt. Mittlerweile befriedigt es aber auch die historische Neugierde. Obwohl das Tagebuch den Blick auf das Private richtet, spielen am Rande auch politische Ereignisse wie beispielsweise die Studentenproteste um 1960 mit hinein. Die Lebensarten einer vermögenden japanischen Familie am Beginn der 1960er-Jahre sind angesiedelt zwischen amerikanischem Kultureinfluss und fortlebenden japanischen Traditionen. Schon der erste Eintrag, in dem sich Tokusuke Gedanken über das Theater macht, benötigt 15 Fußnoten. Damit wird deutlich, wie wenig bei einem deutschsprachigen Publikum (und eingestandenermaßen auch beim Rezensenten) vorausgesetzt werden kann.

Insofern muss das Nachwort von Eduard Klopfenstein besonders gelobt werden, liefert es doch wertvolle zusätzliche Informationen, ohne die die LeserInnen vielleicht nach der Lektüre das Buch etwas ratlos zugeklappt hätten. Neben Hinweisen auf unübertragbare Formelemente wie den verschiedenen Teilen des Buches zugewiesene unterschiedliche Schriftarten mit jeweils eigener Wirkung, berichtet Klopfenstein auch von der Rezeption der ersten deutschsprachigen Ausgabe Mitte der 1960er-Jahre, einer Zeit, als Tanizakis Verbindung von Alter und Sexualität in dieser Deutlichkeit noch jenseits des Sagbaren lag. Der Verlag fügte damals dem Buch einen Zettel bei, mit dem die LeserInnen ihre Volljährigkeit bestätigen sollten, ein skurriler Versuch, sich rechtlich abzusichern.

Schockierend ist das „Tagebuch eines alten Narren“ heute sicher nicht mehr. Dass es sich dennoch lohnt, sich für eine Zeit lang in die Welt dieses – pardon – alten Kotzbrockens zu begeben, liegt vor allem an einem Element des Romans, das eigentlich erst nach seinem Ende zu Tage tritt und auf das Klopfenstein erstmals hinweist: Es ist die „verständnisvolle Gelassenheit“, mit der die Familie dem Alten begegnet – und zugleich seine rücksichtslose Ehrlichkeit gegenüber sich selbst.

Titelbild

Tanizaki Jun'ichiro: Tagebuch eines alten Narren. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Oscar Benl.
Manesse Verlag, Zürich 2015.
244 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783717540892

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