Reden ist Silber, Zeigen ist Gold

Wieder hervorgeholt: Hüseyin Tabaks „Deine Schönheit ist nichts wert…“

Von Josefine PfützeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josefine Pfütze

Aktueller denn je ist Hüseyin Tabaks Langfilmdebüt Deine Schönheit ist nichts wert… aus dem Jahr 2012 vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Mit großem Fingerspitzengefühl inszenierte er den Alltag einer türkisch-kurdischen Flüchtlingsfamilie und gewann zurecht zahlreiche Preise, unter anderem den Österreichischen Filmpreis 2014 in vier Kategorien und den Studio Hamburg Nachwuchspreis 2013 für das beste Drehbuch. Auch in der Türkei blieb der Film nicht unbeachtet: Er gewann auf dem International Antalya Film Festival, dem wichtigsten des Landes, sechs Preise und wurde unter anderem zum besten türkischen Film des Jahres 2012 gekürt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn obwohl die Handlung der österreichischen Produktion ausschließlich in Wien spielt, drehte der Regisseur und Drehbuchautor den Film fast komplett in türkischer Sprache. Wenig nachvollziehbar erscheinen dagegen die Reaktionen türkischer Kulturfunktionäre: Politiker und Mitglieder der Branche diskutierten heiß, ob es sich überhaupt um einen türkischen Film handle, sagte Tabak der Welt. Am Ende wurde ihm der Preis aberkannt, er sogar als Betrüger dargestellt – ein Schock für den Filmemacher, der lediglich auf das Schicksal seiner Landsleute aufmerksam machen will. Der 1981 in Bad Salzuflen (NRW) geborene und heute in Wien lebende Tabak stammt selbst aus einer türkischen Einwandererfamilie mit kurdischen Wurzeln; seit 1995 besitzt er die doppelte Staatsbürgerschaft. 

Wenn Veysel (Abdulkadir Tunker) mit Kopfhörern auf den Ohren seinen Tagträumen nachhängt, scheint er ein ganz normaler Junge zu sein. Die wenigen Momente, in denen er zu türkischen Liebesliedern von seiner Klassenkameradin Ana träumt, sind die einzigen unbeschwerten im Leben des Zwölfjährigen. Die Zukunft von Veysels Familie in Österreich ist völlig ungewiss. Erst seit einem halben Jahr lebt sie in Wien, bestehend aus Veysel, seinem nahezu erwachsenen Bruder Mazlum (Yüşa Durak) und den Eltern (Nazmi Kιrιk und Lale Yavaş). Die Atmosphäre ist bedrückend: Neben den Sorgen um ihren Asylantrag brodeln die Konflikte zwischen Mazlum und dem Vater. Der Vater ist nicht mehr der Alte, seitdem er aus dem Unabhängigkeitskrieg der Kurden und einem sich anschließenden Gefängnisaufenthalt zurückgekehrt ist. Tabak stellt hier gekonnt das ganze Drama des türkisch-kurdischen Konflikts im Kleinen dar: Ein Vater, der sich in den Dienst eines höheren Zieles stellt, für die Identität seines Volkes und damit auch diejenige seiner Söhne kämpft, zerstört – mehr oder weniger unverschuldet – deren Leben und Zukunft in der Heimat. Für Mazlum ist er ein „kurdischer Terrorist“, denn der Sohn sieht sich selbst ganz als Türke: Das Symbol der türkischen Flagge (Mondstern) prangt auf seiner Brust; Atatürks Satz „Glücklich ist derjenige, der sich Türke nennt“ ist sein Leitspruch. Es kommt zum Bruch zwischen den beiden Männern. Frustriert über die Perspektivlosigkeit und die Veränderung des Vaters, in dem neben seinem Kriegstrauma wenig Platz für die alltäglichen Probleme seiner Familie zu sein scheint, sucht sich der älteste Sohn neue ‚Freunde‘. Mazlum gerät auf die schiefe Bahn. Die Mutter versucht zu vermitteln und ist damit völlig überfordert.

Die ganze Geschichte wird aus Veysels Perspektive erzählt, der die Mutter unterstützt, so gut er es mit seinen zwölf Jahren vermag, aber eigentlich mit ganz alltäglichen Teenager-Problemen zu kämpfen hat. Die Kamera wird stets ganz dicht an ihn herangeführt, lässt den Zuschauer durch die variable Tiefenschärfe seinen Blickwinkel einnehmen. Abdulkadir Tunker erscheint in seiner ersten Rolle überwältigend ruhig und ernsthaft, wenn er als Veysel schweigend fast alles über sich ergehen lässt – seien es die Hänseleien in der Schule oder die Vorwürfe seines Vaters wegen der schlechten schulischen Leistungen. Tunkers Blicke reichen völlig als Antworten auf Fragen, die andere ihm stellen.

Zuweilen steht Veysels Sprachlosigkeit wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und den anderen Figuren. Oft scheint er kurz davor zu sein, sie einzureißen, wirkt jedoch, insbesondere gegenüber Deutschsprechenden wie seiner Klassenlehrerin (Susi Stach), regelrecht gehemmt, wenn er mit leicht geöffneten Lippen da steht, sein Gegenüber ansieht und nicht einmal den Versuch unternimmt, sich verständlich zu machen. Ihn bei den Schultern zu packen und die Worte geradezu aus ihm herauszuschütteln, kann dem Zuschauer in diesen Situationen durchaus in den Sinn kommen.

Abhilfe schaffen in solchen Momenten Judith Vargas Kompositionen: Die Musik der ungarischen Komponistin sorgen für einen mühelosen Szenenwechsel zwischen Veysels Tagträumen, in die er sich immer wieder flüchtet, und der Realität. Wenn er in der ersten Szene mit einer roten Rose hinter dem Rücken vor der Tür der elterlichen Wohnung Anas steht, tritt die Musik und damit seine Gefühlswelt in den Vordergrund; die Ermahnungen von Anas Vater bleiben sowohl für ihn als auch das Auditorium unverständlich, dringen nur in Fetzen durch. Warmes Licht untermalt die Schönheit des Tagtraums, der im Verlauf des Films immer wieder täuschend echt vor aller Augen erscheint. Der Wechsel zu kaltem Weiß reißt das Publikum hinein in Veysels traurige Wirklichkeit.

Insgesamt geht Tabak, der im Übrigen auch das Drehbuch schrieb, sparsam mit wörtlicher Rede um. Er lässt sein Ensemble spielen, ersetzt Worte durch Blicke und Gesten. Dennoch sind Tabaks Figuren in entscheidenden Situationen nicht auf den Mund gefallen. Veysels Sprachlosigkeit bedeutet nicht, dass er ohnmächtig wäre, zumindest nicht in seiner Muttersprache. So bezieht er gegenüber seinem Bruder eine klare Position, als dieser ihn dazu zwingen will, Geld zu stehlen.

Veysel muss bald erkennen, dass die Flucht in Träumereien die Probleme in der Schule und zu Hause nicht lösen kann. Er packt die schier unüberwindbar erscheinende Hausaufgabe, ein deutsches Gedicht auswendig zu lernen, auf seine Weise an: Um seinem Schwarm Ana näher zu kommen, wagt er sich an das Liebesgedicht Deine Schönheit ist nichts wert… seines Lieblingssängers Âşik Veysel. Welch hohen Stellenwert die Musik des türkischen Bağlama-Spielers, Sängers und Dichters einnimmt, wird an der Namensdoppelung deutlich: Veysel wurde von seinem Vater nach ihm benannt, der Name des Gedichts ist für den Film zugleich titelgebend. Generationsübergreifend steht sie für das Erbe der Heimat, die einen begleitet, egal wohin es einen verschlägt. Die Rückbesinnung auf ihre Wurzeln öffnet hier Türen: Zunächst beim Nachbarn Cem, einem türkischstämmigen Wiener. Nach anfänglichem Widerstreben hilft er Veysel bei der deutschen Übersetzung des Gedichts und freundet sich mit ihm rasch an. Diesem Arbeitslosen, der die Wut auf seine Freundin gerne mal an öffentlichen Papierkörben auslässt, traut man so viel Gefühl und Einfühlungsvermögen gar nicht zu: Wie sehr der erste Eindruck täuschen kann, beweist Cem, gespielt von Orhan Yıldırım, der mit seinem durchtrainierten Körper, den halblangen, wellig-gegelten Haaren, in Jogginghose und weißem Feinrippunterhemd wie der größte Macho weit und breit daher kommt. Auch beim Vater, der nach seinen Kriegserfahrungen emotional stark distanziert ist, erwirkt Âşik Veysels Musik eine erneute Annäherung zu seinem Jüngsten. Wenn zur letzten Einstellung der Gesang des türkischen Sängers ertönt, scheint es beinahe zweitrangig, ob Veysels Bemühungen in der Schule im Hinblick auf die absurde Asylpolitik Früchte tragen werden – der Zuschauer erfährt etwa, dass in Österreich die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung der Asylsuchenden von der schulischen Leistung ihrer Kinder abhängig ist – oder welche überraschende Wendung der Film am Ende nehmen wird. Er entlässt das Publikum mit dem tief sitzenden Gefühl, dass alles irgendwie gut wird.

Ob nun Deine Schönheit ist nichts wert… als ,türkischer‘ Film einzustufen ist oder nicht: Tabak hat eine berührende Geschichte inszeniert, die den Blick mit Poesie – ohne primär auf Mitleid aus zu sein – auf ganz alltägliche Probleme des Migrantendaseins zwischen Ursprungsland und neuer Heimat lenkt.

Hüseyin Tabak (Regie & Drehbuch): Deine Schönheit ist nichts wert… (Österreich 2012).
Darsteller (u. a.): Abdulkadir Tunker, Nazmi Kιrιk, Lale Yavaş, Orhan Yιldιrιm, Yüşa Durak, Milica Paucic, Susi Stach.
Laufzeit: 82 Minuten.
Verleih in Deutschland: barnsteiner-film.
Deutscher Filmstart: 3. April 2014.
DVD-Preis (Edition Filmladen): 9,95 EUR.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Weitere Filmrezensionen hier