Der Preis des Überlebens

Der berührende Erinnerungsbrief „Und du bist nicht zurückgekommen“ der KZ-Überlebenden Marceline Loridan-Ivens an ihren Vater

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnerungen am Ende eines langen Lebens, Erinnerungen einer der letzten KZ-Überlebenden: Die französische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Marceline Loridan-Ivens (geb. 1928) hat sie in einem langen Brief an ihren in Auschwitz ermordeten Vater niedergeschrieben: „Und du bist nicht zurückgekommen“ („Et tu nʼes pas revenu“) ist der deutsche Titel dieses berührenden, 100 Seiten schmalen Bändchens, das in diesem Sommer im Insel Verlag erschienen ist. Der Brief legt Zeugnis ab von den ein Leben lang andauernden Traumata und Qualen einer KZ-Überlebenden. Zudem ist er die schmerzlich-intensive Auseinandersetzung einer Tochter mit dem niemals verwundenen Verlust des Vaters.

Marceline war 15, als sie und ihr Vater 1943 von den Nationalsozialisten deportiert wurden. 1919 war die jüdische Familie aus Polen nach Frankreich eingewandert. Marceline kommt nach Birkenau, der Vater nach Auschwitz. Insgesamt wurden fast 80.000 Juden aus Frankreich nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Marcelines Mutter und ihre Geschwister konnten sich rechtzeitig verstecken und blieben in der südfranzösischen Kleinstadt Bollène, wo die Familie ein Schloss bewohnte, zurück.

Bei der Ankunft in den Lagern wurden Vater und Tochter getrennt, doch gelang es dem Vater, noch einmal Kontakt aufzunehmen. Unter Todesgefahr hat er Marceline einen kleinen Zettel zukommen lassen: „ein Stück Papier, nicht glatt, an einer Seite eingerissen, eher rechteckig“. Das sollte die letzte Nachricht des Vaters an seine Tochter seine. Diese muss sie unzählige Male gelesen haben, doch ihren Inhalt hat sie vergessen: „Deine Worte sind abgeglitten, haben sich verflüchtigt […]. Sie sprachen mir von einer Welt, die nicht mehr die meine war. Ich hatte jeden Bezugspunkt verloren. Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.“ Umso präziser, bis ins letzte Detail, sind die Erinnerungen an die Jahre im Konzentrationslager im Gedächtnis verankert. Die nahezu unerträgliche Genauigkeit der Beschreibungen aus dem Lager kann niemanden unberührt lassen.

Marceline Loridan-Ivens hat das KZ überlebt – so, wie es ihr der Vater bei der Deportation vorausgesagt hat. Aber was bedeutete das für sie? Der Preis dieses Überlebens ist das Trauma, die Unmöglichkeit, die Erinnerungen jemals abschütteln zu können. Zudem quälen die junge Frau Schuld und Trauer, als sie statt des Vaters, den die Familie in ihren Augen viel mehr gebraucht hätte, zurückkehrt. Aber was heißt schon zurückkehren?

Der Brief erzählt auch von der Unmöglichkeit einer Heimkehr, von der unüberwindbaren Isoliert- und Verlorenheit der Lager-Überlebenden in der vermeintlichen Normalität der Nachkriegsjahre. Marcelines zurückgebliebene Familie, die Mutter, die Geschwister, Nachbarn, Bekannte sie wollen nichts hören. Der Blick sollte allein in die Zukunft gerichtet sein in „jener an Gedächtnisschwund leidenden, antisemitischen Nachkriegszeit, die sich ein heldenhaftes Frankreich erzählte und jeder meiner Erinnerungen mit Verleugnung begegnete“. Diesen Vorwurf richtet Loridan-Ivens nicht etwa nur an die Franzosen, sondern ebenso an die Juden in Frankreich.

Doch wie konnte und sollte sie weiterleben? „Warum war ich in die Welt zurückgekehrt, unfähig zu leben? […] Der beendete Krieg zerfraß uns alle von innen her.“ Und er zerfraß auch die, die nicht in den Lagern waren. Loridan-Ivens berichtet, dass zwei ihrer Geschwister sich das Leben nahmen: „Sie hatten die Lagerkrankheit, ohne je dort gewesen zu sein“.

Für die Autorin sind die Erinnerungen bis ins hohe Alter nicht verblasst. Noch heute zittere sie in Bahnhofshallen und lehne in Hotels jedes Badezimmer mit Dusche ab – ein Leben lang spüre man, „dass man zurückgekommen ist“. Schließlich aber sei es der feste Glaube an die Möglichkeit einer besseren Welt, erklärt Loridans-Ivens, der sie weiterleben ließ und zeitlebens antrieb.

Mit ihrem Mann, dem politischen Dokumentarfilmer Joris Ivens hat sie Filme und Reportagen in Krisen- und Kriegsgebieten, vor allem in Vietnam und China, gedreht. Auch nach dem Tod ihres Ehemanns 1989 setzte sie die Filmarbeit fort. 2002 erschien mit dem Spielfilm „Birkenau und Rosenfeld“ („La petite prairie aux bouleaux“) ihre erste komplett eigenständige Regiearbeit. Die größtenteils autobiografische Geschichte wurde teilweise auf dem ehemaligen Lagergelände von Auschwitz-Birkenau gedreht. 2003 wurde der Film mit dem „Friedenspreis des Deutschen Films – Die Brücke“ ausgezeichnet.

Und heute? 70 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager sieht sich die 87Jährige wieder von Antisemitismus bedroht – in ihrer Heimat Frankreich, aber auch in anderen Gesellschaften überall auf der Welt. Aus den letzten Seiten dieses Briefes spricht die traurige Resignation einer müde gewordenen Kämpferin. Mit Blick auf ihre Gegenwart resümiert sie: „Ich weiß jetzt, dass der Antisemitismus eine feste Größe ist, dass er mit den Stürmen der Welt, den Worten, den Ungeheuern und den Mitteln jeder Epoche in Wellen heranrollt. […] Er wird nie verschwinden, zu tief ist er in den Gesellschaften verankert.“ Wer kann ihr da in Anbetracht aktueller Debatten – nicht nur mit Blick auf die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten – mit aller Überzeugung widersprechen?

Titelbild

Marceline Loridan-Ivens / Judith Perrignon: Und du bist nicht zurückgekommen.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Insel Verlag, Berlin 2015.
110 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458176602

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