Viel Stoff für Bookaholics

In „Lesen als Medizin“ geht Andrea Gerk der wundersamen Wirkung der Literatur nach

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist sehr viel schöner von allem eine Sache zu wissen als von einer Sache alles zu wissen“ – so umschreibt Blaise Pascal in einem berühmten Diktum das Ideal der französischen Salonkultur und ihren Konversationsstil. Genau diesem Ideal scheint Andrea Gerk nacheifern zu wollen, indem sie „Lesen als Medizin“ anpreist. Ihr Thema besteht aus einer Myriade von Subthemen, von denen jedes angerissen, jedoch so gut wie nie vertieft wird. Wenn man auf den Gedanken kommt, die Publikation als Beitrag zu einem Teilbereich der Bibliotherapie einzustufen, rechnet man mit einem gut strukturierten Text inklusive genauer Verortung des Themas. Zwar gelingt Gerk mit Marcel Reich-Ranickis „Lebenserinnerungen“ und der dort geschilderten Episode mit Kästners „Lyrische[r] Hausapotheke“ ein guter Einstieg, doch eine definitorische Pointierung fehlt. Die Autorin folgt einem strikt phänomenologischen Ansatz, der immer Gefahr läuft, sich in der nicht immer konsequent geordneten Vielfalt der Erscheinungen zu verlieren.

Diese Problematik manifestiert sich bereits in einer Makrogliederung, die ihren LeserInnen einiges abverlangt. Die Titel der Hauptteile („Krise, Krankheit, Krieg – Lesen hilft!“, „Gehirn, Geist, Gesundheit – Lesen belebt!“, „Kriminelle, Klosterschwestern, Künstler – Lesen befreit!“) bestechen durch Alliterationen und der, so könnte man sagen, klimaktischen Anordnung dessen, was Lesen zu leisten vermag. Auf der Strecke bleibt allerdings eine Einleitung, die auch Aufschluss über die Gattung der Publikation geben könnte. Dieselbe Fehlanzeige gilt für einen synthetisierenden Schluss. Von Anfang an entfaltet sich ein eklektizistisches Panorama an Büchern, die wahlweise ihren LeserInnen gut tun oder aber illustrieren, wie Literatur ihren fiktionalen Gestalten selbst hilft. Dies aber nicht nur auf der Grundlage des Lesens, sondern auch im Hinblick auf das Schreiben eigener Texte. Es geht also nicht nur um „Lesen als Medizin“, sondern sehr allgemein um „Literatur als Medizin“. Gespickt ist das Ganze mit ein bisschen Theorie und mit persönlichen Erfahrungen der Autorin, die gänzlich unverbrämt in den Text einfließen. So ergibt sich ein streckenweise unsystematisches und unhistorisches Procedere, das eher dem Ausbeuten eines Zettelkastens als wissenschaftlichem Arbeiten ähnelt. Daraus resultiert ein kurioses Hybrid zwischen Wissenschaftlichkeit und Popularisierung. Zu begrüßen ist bei dieser Multiperspektivität das Register am Ende des Buches, das Buchtitel, Autoren und fiktionale Gestalten gleichermaßen versammelt. Nicht mehr als eine gute Idee, da nicht immer ganz schlüssig und niemals vollständig ausgearbeitet, sind die Listen der „literarischen Patienten“ am Ende jedes Hauptteils.

Dass der Gegenstand nicht selten in eine Anekdotensammlung hinein mündet und damit dem Vorschub geleistet wird, was Gerk – bezogen auf den Inhalt vieler Werke, die man liest – als „Biblioamnesie“ bezeichnet (denn es ist einfach zu viel auf einmal), verdeutlichen die einzelnen Kapitel. In „Theorien und tolle Typen“ in Teil 1 führt die Autorin eine Reihe von Namen (William James, Robert Musil, Sigmund Freud, Erich Kästner und Miguel de Cervantes) auf, die in den Kontext „Literatur und Gefühlswelt der Leser“ einzuordnen sind. Im selben Atemzug schildert sie ihre eigenen Erfahrungen mit der fiktionalen Welt von Hanns-Josef Ortheil. Wen stört es, dass sie ihn nicht mehr ertragen kann? Welche Relevanz hat dies für ihre Publikation zum Thema „Lesen als Medizin“?

Es folgt ein Streifzug in die Antike, hin zu Aristoteles, zum Begriff der Katharsis und schließlich hin zur Vier-Säfte-Lehre, die kaum über das Stadium des Namedropping hinauskommt, obgleich sie für das Thema von entscheidender Bedeutung wäre. „Fingernägel, Essgewohnheiten, Sex“ ist danach einer der Abschnitte, in denen sich die Stärken der Publikation zeigen: Immer dann, wenn Gerk von Begegnungen erzählt, hier etwa von jener mit der Medizinerin Rita Charron, Initiatorin des Graduierten-Programms „Narrative Medicine“, gewinnen die Darstellungen an Tiefendimension und verlieren den Charakter des „Hüpfenden“.

„Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Verstand“ – so der Titel des nächsten Kapitels, das unter anderem die therapeutische Wirkung des Tagebuchschreibens in den Mittelpunkt stellt. Dabei lässt Gerk den Leser zu lange im Unklaren darüber, was Fiktion und was Realität ist, und es fehlen sowohl Fußnote als auch bibliografische Angabe zu David Foster Wallace. „Lesen Sie, um zu leben!“ – das sehr bezeichnende Kapitel kreist um „die produktive und heilsame Anwendung der Selbstreflexion“, die Michel de Montaigne „in die Welt gesetzt“ habe. Genauer müsste man sagen, dass er das Verfahren als erster systematisch angewandt hat. Danach zitiert Gerk Gustave Flaubert aus „zweiter Hand“ (ohne dies zu vermerken) und äußert kurz danach, dass „fast zweihundert Jahre später“ Jean-Jacques Rousseau „an diese neue Form autobiographischer Literatur“ anknüpfe. Das ist missverständlich. Nach Rousseau streut Gerk die Namen Saint-Simon (älter als Rousseau), Casanova, Karl August Varnhagen von Ense, Helmut Krausser und Rainald Goetz, kehrt dann zu Rousseau zurück, huscht zu Elias Canetti, von dort aus zu ihrer „nächsten Umgebung“, in der sich „eigentlich alle durch Lesen therapieren“, dann zu Jean-Paul Sartre, Hector Malot, wieder zu Rousseau, schließlich zu J. P. Salinger, im Nebensatz zu Jane Austen und daraufhin nur wenig ausführlicher zu Simone de Beauvoir. Nachdem der Begriff der „Biblio-Kirche“ gefallen ist, beendet Gerk mit einem einerseits ausführlicheren Blick auf „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz ihr Kapitel, bleibt aber andererseits bei diesem bahnbrechenden Roman unentschuldbar lakonisch.

Der „Besuch bei Dr. Buch“ beschließt den ersten Teil der Ausführungen. Vermutlich interessiert es niemanden, dass Gerk beim Besuch von Siri Hustvedt realisiert, wie „dürftig“ ihre Englischkenntnisse geworden sind. Darüber hinaus jedoch schreibt sie hier endlich zum Thema, definiert sogar Bibliotherapie sowie Poesietherapie und stellt mit nur geringer Sprunghaftigkeit Lehrende dieser Disziplin vor. Sie skizziert des Weiteren ihre Erfahrungen mit einer Fortbildung und diskutiert Auszüge aus „Die Romantherapie“ von Ella Berthoud und Susan Elderkin. Die Frage „Wie kann es sein, dass Ideen, Vorstellungen, Wörter tatsächlich eine physiologische Veränderung bewirken?“ leitet gut zum zweiten Teil über. In diesem kommt Gerke zunächst ohne historische Perspektivierungen aus. Dabei verdichtet sich ihr Text, leidet aber nach wie vor am Enumerativen und daran, dass kursorische Etikettierungen Differenzen verschleiern. Typisches Beispiel: „Antonio Damasio, Stanislas Dehaene oder Gerald Hüther haben Bücher veröffentlicht, die in Anbetracht ihres komplizierten Gegenstandes sehr gut lesbar und auf starkes Interesse gestoßen sind“.

Das Ende des Kapitels „Wie Worte wirklich werden“ ist an Lapidarität kaum zu überbieten: sicher ist die Arbeitsweise des Gehirns trotz vieler bahnbrechender Forschungen kaum zu verstehen, dennoch hätten präzisere neurowissenschaftliche Ergebnisse angeführt werden können. „Erfundene Gefühle“ ist das beste Kapitel im zweiten Teil, obgleich Gerk auch hier einen großen Bogen schlägt – von der „These der verkörperten Kognitionen“ über das „Spiegelzellensystem“ und das „limbische System“ hin zu „Flow-Erlebnissen“. Gelungene Kurzrezensionen zu „Parallelweltausflügen“ veranschaulichen diese. In einem würdigen Abschluss des zweiten Teils, „Seepferdchen, Korsakow und Fräulein O.“, widmet sich die Autorin zum einen Märchen, zum anderen Pathographien, beispielsweise der berühmten Geschichte des Phineas Gage, die sie jedoch erzählt, ohne die Vielzahl an Quellen zu diesem Fall zu erwähnen.

Im letzten Teil steht die im wörtlichen und übertragenen Sinne befreiende Wirkung von Literatur im Zentrum. Gerks Streifzug beginnt hier mit den „Jailhouse Books“. Sie berichtet vom Besuch der Bibliothek der JVA Münster und den Bücherbäumen des Theologen und Bibliothekars Gerhard Peschers. Von dort kommt sie auf den Psychiater Viktor Frankl zu sprechen, der eine Lesegruppe im Staatsgefängnis Florida leitete. Auf einige Digressionen, unter anderem zu Denis Diderots „Die Nonne“, folgt ein Kapitel, das man als Highlight des Buches bezeichnen könnte: „Geschichten statt Gewalt“ führt zur Jugendgerichtshilfe Dresden, die als Alternative zu Sozialdiensten Bücher und deren Besprechung verordnen kann. Ausgehend davon verdeutlicht Gerk, wie Bücher auch in anderen Fällen ihre Leser von eigener und fremder Gewalt befreien konnten. In der Abtei Kloster Engelthal, „Wo Gottes Wort Arznei ist“, macht die Autorin Bekanntschaft mit Bibliolog und lectio divina. Abschließend unternimmt sie auf der Grundlage des Bildbandes „Im Schreiben zu Haus“ von Herlinde Koelbl einen Fantasie-Ausflug zu den „Klausen“ einiger SchriftstellerInnen, die sich in ihrem „beglückenden Schreibgefängnis“ selbst aus einer inneren Gefangenschaft retten. Sie setzt einen knappen Schlussakkord mit Peter Handke, dessen Ausspruch „Nur im Schreiben fühl’ ich mich zu Haus“ sich auf das Lesen beziehen lässt und ein Bild vom Text als Haus, dessen Türen immer offen stehen, generiert. Am Ende eines Buches beginne das nächste, „Das Lesen höret nimmer auf“ – dies dürfte der Leitspruch aller bekennenden Bookaholics sein.

Zwar zeigt Gerk an vielen Stellen durchaus schlüssig, welche heilsame Wirkung Literatur entfalten kann, und bewegt sich dabei über das alleinige Lesen hinaus, was an sich nicht verkehrt wäre, wenn das ganze Unterfangen auf einer klaren Standortbestimmung basierte. Diese bleibt indessen mehr als vage, erstickt in Ansätzen, die in der Vielfalt zerfleddern. Deutlich hervor tritt jedoch allemal, dass Literatur als Medizin eingesetzt werden kann, dass Texte kathartische Wirkung entfalten können, dass sie Trost zu spenden vermögen, dass sie aufheitern, mitunter traurig machen und ihre LeserInnen fast immer mit entrückenden Flow-Erlebnissen beschenken. Gerk liefert, ganz im Sinne der postmodernen Theorie Lyotards, eine Art torpediertes, zersplittertes „Metanarrativ“, eine vorläufige Erzählung über Erzählungen und deren Wirkungen.

So avanciert „Lesen als Medizin“ in letzter Konsequenz zu einer beeindruckenden Material- und Anekdotensammlung, deren Einzelteile oft jedoch einer weiteren Prüfung unterzogen werden müssen, weil der Anmerkungsapparat nicht stringent ausgearbeitet ist. Was bleibt, ist ein Füllhorn an Geschichten über Geschichten, sehr viel Stoff also für Bookaholics, deren unstillbare Lust auf das Lesen angefeuert wird durch ein Buch, in dem diese Lust paradoxerweise von Anfang bis Ende zu spüren ist, das jedoch nach der Lektüre seiner ersten Seiten nicht unbedingt die Lust weckt, gelesen zu werden.

Titelbild

Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur.
Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2015.
352 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783954030842

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