Destination Heimat

Zu Erzählungen von Franz Tumler und Joseph Zoderer

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Sie haben in ihren Prosa-Arbeiten zuzeiten die Begrenzungen aller ethnozentrischen Perspektiven aufgesprengt und weit hinter sich gelassen. Dennoch gelten Franz Tumler und Joseph Zoderer noch immer als ausgewiesene Experten, wo Themen wie Heimat, Grenze, Fremde und damit eng verknüpft Identitätskonzepte verhandelt werden: Tumler und Zoderer scheinen schon aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Biographie prädestiniert, diesen Themen ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Sie tun das schließlich mitunter auch, und damit steuern sie die Rezeption ihrer Erzählungen und Romane. Doch die unverwechselbare Handschrift ihrer Schreib-Projekte wird im diskursiven Forum der Debatten um die diversen Transformationen der Heimatliteratur gern übersehen; und so haben die keineswegs unberechtigten Zuschreibungen, die den Büchern von Tumler und Zoderer wiederholt zuteil geworden sind, ihrer Positionierung im literarischen Feld insgesamt weit eher mehr geschadet als genützt.

Als hätten sie Literatur nur produziert, um ideologisch grundierte Haltungen und Lebensführungen zu veranschaulichen oder auch zu dekonstruieren. Beide versuchen jedoch stattdessen, im Akt des Schreibens erst einmal zu erkunden, wie die Bilder zustande kommen, die der ihnen jeweils vorgegebene Blick zeigt oder verstellt, und in diesem Zusammenhang vor allem dann die eigenen, neu-gewonnenen Perspektiven kritisch zu prüfen. Von daher verdienen auch ihre Prosatexte, insbesondere deren ästhetische Komponenten eine Neubewertung.

Plädoyers für eine derartige Relektüre dürfen (anders als noch vor etwa zehn oder fünfzehn Jahren) inzwischen davon ausgehen, dass früher einmal maßgebende Koordinaten für die Einschätzung der Arbeiten Tumlers und Zoderers ihre Bedeutung weitgehend verloren haben. Das gilt zum einen für die Zuordnung zum Konstrukt Heimatliteratur – Anti-Heimatliteratur wie zum andern für die Eingliederung der beiden Schriftsteller in den Bereich der Südtiroler Literaturlandschaft.

Letzteres ist zunächst einmal keineswegs falsch gewesen. Beide sind in Südtirol geboren, Tumler (1912-1998) in Gries bei Bozen, Zoderer (geb. 1935) in Meran. Beide haben Werke verfasst, die im Kanon der Südtiroler Literaturgeschichte längst Spitzenplätze besetzen; Tumlers Aufschreibung aus Trient (1965) und Zoderers Roman Die Walsche (1982), um hier nur zwei zu nennen, sind aus dem Erinnerungsdiskurs der Region nicht mehr auszublenden, alle älteren und jüngeren Texte zur Zeitgeschichte Südtirols werden an diesen beiden Titeln unweigerlich gemessen. – Doch in beiden Romanen wird auch ganz anderes verhandelt als die Konfrontation verschiedener Kulturen, in beiden steht nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Thema, d. h. der Blickwinkel, aus dem das Thema betrachtet wird, selbst im Brennpunkt. Sobald diese Romane lediglich mit der Frage konfrontiert werden, wie sie es denn halten mit dem Thema der Grenze, werden sie nicht nur genau darauf reduziert, sondern zugleich so stark beschnitten, dass ihr poetisches Potential unterzugehen droht.

Heimat, Grenze, Fremde: Die Südtiroler Schriftsteller seien „besessen“ von diesem Thema, behauptet sogar Claudio Magris, nichts beschäftige sie mehr als die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten, die Grenze zu überschreiten, die Stellung der jeweils anderen Seite einzunehmen; könnten sie sich damit doch, nicht anders als die Triestiner, „gierig dem Gefühl hingeben, von den Hütern der Heimatkultur auch brutal attackiert zu werden, um mit nachdrücklicher Gewissheit sagen zu können, dass sie nicht zu sagen vermögen, welcher Welt sie sich zugehörig fühlten.“ Auch wenn das keineswegs abschätzig gemeint, vielleicht sogar als Hinweis darauf gedacht ist, dass die Literatur in bzw. aus Südtirol den Aufstieg aus der Regionalliga geschafft hat und hin und wieder keinen Vergleich mehr zu scheuen braucht, wird doch mit solchen Festlegungen in jedem Fall eine Zuordnung getroffen: Sie können leben, wo sie wollen, sie können schreiben, was sie wollen, Südtiroler Schriftsteller bleiben Südtiroler Schriftsteller. Mögen sie sich noch so wehren gegen derartige Klassifizierungen, gegen jede Vereinnahmung, von welcher Seite auch immer, und überdies gegen jede Deutung, die in erster Linie die autobiographischen Bezüge unter die Lupe nimmt: Die Autorinnen und Autoren aus Südtirol, in erster Linie auch Tumler und Zoderer, müssen permanent damit rechnen, dass in ihren Arbeiten der Themenkomplex Heimat und Fremde gesucht und in der Regel gefunden wird. In dieser Interpretationsmühle aber werden, wie Zoderer im Anschluss an einen Vortrag von Hans-Georg Grüning (am 10. November 2005 an der Universität Innsbruck) ziemlich aufgebracht angemerkt hat, auch vielschichtige literarische Werke auf den Status von Erfahrungsberichten herabgestuft; er hingegen schreibe doch, so argumentiert der Autor der Walschen, inzwischen schon seit Jahrzehnten, keine Erfahrungsberichte und Reportagen über die Südtirol-Frage, sondern aus der Autobiographie heraus in die Fiktion hinein, Literatur eben: Texte, die ein weites Feld von Beobachtungsmöglichkeiten aufschließen und sich gegen jede Festlegung sträuben, die sie rigoros einzuengen, zum Beispiel zurückzubinden versucht an den Raum ihrer Herkunft.

Mit der Anbindung an das Oppositionspaar Heimatliteratur – Anti-Heimatliteratur verhält es sich ähnlich. Die vor allem in Darstellungen der österreichischen Literaturgeschichte häufig anzutreffende dichotomische Konstruktion, die in den 1960er Jahren über die so genannte Heimatliteratur (Peter Rosegger, Joseph Georg Oberkofler, Karl Heinrich Waggerl u. a.) den Stab gebrochen und mit guten Gründen unter einem für die Kanonisierung von Werken plädiert hat, die den schöngefärbten Zeichnungen der Altvorderen nicht nur düstere Orte und verstörte Figuren, vielmehr vor allen Dingen auch moderne Erzählstrategien entgegenhalten (Hans Lebert: Die Wolfshaut, 1960; Thomas Bernhard: Frost, 1963; Gerhard Fritsch: Fasching, 1967;  Gert Jonke, Geometrischer Heimatroman, 1969 u. a.), diese Konstruktion verführt (ehe man sich’s versieht) zu Kategorienbildungen, die nichts anderes befördern als Schwarz-Weiß-Stereotypisierung. Tumler wäre demnach der Heimatliteratur, Zoderer hingegen der Anti-Heimatliteratur zuzurechnen? Es ist höchste Zeit, dass derartige Oppositionen suspendiert werden; allein schon einige Stichworte zu Tumler und Zoderer dürften dies illustrieren: Tumler, dem mit seiner ersten Erzählung Das Tal von Lausa und Duron 1935 bereits der literarische Durchbruch gelingt, steht damit zunächst einmal im Ausstrahlungsbereich der Heimatkunst-Bewegung. Die Erzählung wird, ebenso unverdient wie wenig später der Roman Der Ausführende (1937), in dem allerdings ebenfalls die Grenze (nach dem Süden) eine zentrale Rolle spielt, von den Nationalsozialisten vereinnahmt, der Autor somit in die NS-Kulturpolitik (um hier ein Wort von Martin Walser aufzunehmen) „hineinverwirkt“. Mit Büchern wie Der Soldateneid (1939) und Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches (1940) verneigt sich Tumler hingegen ganz offen vor dem NS-Regime, eine Zeitlang gilt er als der erfolgreichste Autor der (seit 1938) so genannten Ostmark, ehe er sich von dieser Front dann doch wieder allmählich zurückzieht und 1941 freiwillig zum Kriegsdienst meldet.

In dem schmalen Bändchen Ländliche Erzählungen, das 1944 in der von Waggerl herausgegebenen Reihe der „Salzburger Hefte“ veröffentlicht wird, sind die Spuren der Blut-und-Boden-Dichtung schon beseitigt: Der Ich-Erzähler, als Alter Ego des Autors charakterisiert, er studiert in Linz, beobachtet die Schleppdampfer auf der Donau, registriert ganz versonnen „fremde Namen fremder Heimaten“ und meditiert, was vor seinen Augen sich abzeichne, sei „eine buntere Welt, die der Strom aus dem Osten hereintrüge“; und er erinnert sich, dass seine Großmutter noch in dieser Welt, „in der ganzen Monarchie zu Hause gewesen wäre“, dass ihr die Namen der Landschaften, die „kroatischen und ungarischen Namen“ noch ganz vertraut gewesen wären, kurz: „die Vorstellung, als ob das alles noch so zusammengehörte, wie es einmal gewesen“, verlässt ihn nicht mehr. Nach der Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft, die er in seinem Roman Heimfahrt (1950)aufarbeitet, lebt Tumler, ein amtlich „belasteter“ NS-Autor auf der Suche nach Auswegen, zunächst in Hagenberg (Oberösterreich), ehe er schließlich, noch in den 1950er Jahren, nach Berlin und damit aus der Welt des Konjunktivs und der Donaumonarchie in eine Metropole übersiedelt, in der er ganz entschieden abrückt von jenen politischen und poetologischen Positionen, die ihn seit 1938 gefesselt haben. Seine Bücher erscheinen bei Hanser und Suhrkamp, er wird Mitglied der Berliner Akademie der Künste und endlich 1967/68 sogar Direktor der Literatur-Abteilung dieser Institution.

Ein Repräsentant der längst abgehalfterten Heimatliteratur? Für den Triestiner Schriftsteller und Literaturkritiker Roberto Bazlen ist Tumlers Erzählung Der Mantel (1959) „der einzige passable nouveau roman nicht nur aus Deutschland“, und für Zoderer zu guter letzt, der zur italienischen Übersetzung der Aufschreibung aus TrientIncidente a Trento – das Vorwort geschrieben hat, ist Tumler zu einer Vaterfigur geworden, ein Vorbild, „ein Autor, der unter die Haut geht, ein moderner experimenteller Erzähler“.

À propos Heimat. In einem Essay, den Zoderer unter diesen Titel gestellt hat, dreht und wendet er den Begriff, als könnte er lediglich auf diese Weise fertig werden mit der Irritation, die das Wort ‚Heimat‘ in ihm auslöst; nur Komposita, die er sich selbst zurechtlegt, kann er allenfalls akzeptieren, Kopfheimat oder Atemheimat, aber Heimat ist ihm zugleich „die Höhle oder die Hölle des Gewohnten, oder die makellos graue Wand, auf die wir solange starren, bis unser Blick ein Loch gebohrt hat, durch das wir fliehen können in unsere Träume.“ Es mag sein, dass manche seiner Leser/innen (die darüber Bescheid wissen, dass der Autor in jungen Jahren mit seiner Familie im Zuge der Option 1940 zunächst aus Südtirol nach Graz ausgewandert ist und später, 1948 bis 1952, vier Schuljahre in Widnau, im Kanton St. Gallen, ein weiteres Mal also in einer „fremden Heimat“ zugebracht hat) Die Walsche als ein Zeugnis der Anti-Heimatliteratur verstanden haben; die sensiblere Kritik, im übrigen auch die italienische Literaturkritik (der Roman ist schon 1985, von Umberto Gandini übersetzt, bei Mondadori herausgekommen, unter dem Titel L’italiana) hat sich dessen ungeachtet nie in dieser Sackgasse verrannt.

Feuer am Dach von Schloss Bergheim

In den 1950er Jahren setzt sich Tumler weit, ja geradezu radikal vom Dunstkreis der Heimatkunst-Bewegung ab. In dem Roman Aufschreibung aus Trient (1965 bei Suhrkamp erschienen) ist schließlich der Höhepunkt dieses Auf-Distanz-Gehens erreicht: Ein Zufall, ein Unfall nämlich, zwingt die (mit dem Autor offensichtlich verwandte) Ich-Figur zu einem längeren Aufenthalt in Trento/Trient und dort dazu, sich endlich, nach Jahren hartnäckiger Weigerung, umsichtig auseinanderzusetzen mit der Welt des Vaters, mit der Geschichte dieser Welt und (im Kontrast dazu) mit dem eigenen Werdegang. Mit aller Macht taucht der schon fast verdrängte ‚Heimat‘-Komplex im Akt des Erzählens wieder auf; aber er wird nicht nur anders beleuchtet als z. B. in den offiziösen, von der Provinz Bozen redigierten Darstellungen des seit 1918/19 virulenten Südtirol-Problems, er wird auch abgebogen in ein Erzählkonzept, das auf die grundsätzliche Infragestellung „von Wahrnehmung und Erkenntnis der Wirklichkeit“ zusteuert und „damit implizit die Frage nach der ethischen Dimension des Ästhetischen“ (Sieglinde Klettenhammer) ins Zentrum der Reflexionen rückt. – Da ist keine Ahnung mehr, wie sie in der traditionellen Heimat- oder Regionalliteratur evoziert wird, allenfalls sogar noch durch deren Negation hindurch, keine Ahnung weiterhin von Stabilität, sei es auch einer längst zerstörten.

Die Entwicklung hin zu diesem Erzählkonzept zeichnet sich indessen schon viel früher ab, nämlich in einem Roman, der erstmals 1953 erscheint und zunächst eine überwiegend positive Resonanz erfährt, ehe die Kritik sich auf ihn einschießt, vornehmlich mit dem Argument, er hätte die dunkelste Phase der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts „in ein mildes Licht getaucht“. Die Rede ist von dem Roman Ein Schloß in Österreich, dessen Haupthandlungsstrang sich über die Jahre 1939 bis 1949 hinzieht. Dieses literarische Werk, das es längst verdient, wieder gelesen zu werden, eröffnet einerseits eine bemerkenswerte Reihe von Romanen, die das Schloss als Symbol einer altehrwürdigen, aber nicht mehr länger zu gewährleistenden Ordnung applizieren (zu nennen wären u. a. Gerhard Fritsch: Moos auf den Steinen, 1956; Herbert Zand: Erben des Feuers, 1961; Albert Paris Gütersloh: Sonne und Mond, 1962), andererseits (und eben das soll hier herausgestrichen werden) sträubt er sich nichtsdestotrotz vehement gegen jede Indienstnahme durch welche Partei auch immer.

Der Schauplatz: Schloss Bergheim (Modell: Hagenberg). Die Handlung beginnt im Juli 1939. Schon bald deutet alles darauf hin, dass vor dem Hintergrund der Weltgeschichte eine nicht sonderlich spektakuläre Dreiecksgeschichte verhandelt wird. Der Erzähler allerdings warnt von allem Anfang an: „Es sieht nach Roman aus, aber für Romane ist es zu spät geworden in diesem Jahrhundert“. Dennoch, zunächst einmal entwickelt sich so etwas wie eine Romanhandlung: Werner Uhlig sucht eine Wohnung für sich, seine Frau Elise und das Kind Christiane. Was er schlussendlich findet, ist ein verfallenes Gebäude, ein „Steinhaufen“, die Herrschaft Bergheim. Der neue Besitzer dieser Herrschaft, Joachim von Plümeke, der aus der Magdeburger Börde ins Mühlviertel gekommen ist und sich gerade anschickt, die Ruine wieder einigermaßen zu renovieren, stellt der jungen Familie eine kleine Wohnung zur Verfügung; mit bescheidenen Mitteln wird gemeinsam ein Wiederaufbau in Angriff genommen.

Wenig später, mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939, fallen alle Pläne der Figuren auf Bergheim freilich schon ins Wasser. Auch wenn sie versuchen, jeder Kollision der privaten mit der großen Geschichte auszuweichen (wie Elise, die keinen Kalender führt), werden sie von den Kriegsereignissen doch eingeholt und darüber hinaus permanent mit den Vorkehrungen der nationalsozialistischen Machthaber konfrontiert. Werner Uhlig, zuerst getrieben von Geschäften, eines Tages aber dann auch von der Vorstellung, es wäre doch eine Sache der „Ehre“, ein Gesuch zu schreiben und an die Front zu wechseln, kommt deshalb nur sporadisch „nach Hause“. Plümeke ist ebenfalls viel unterwegs. So muss Elise mehr und mehr sich allein um die Verwaltung des gesamten Gutshofs und das Personal dort kümmern, und es bleibt in der Folge auch nicht aus, dass zwischen ihr und Joachim von Plümeke sich eine Affäre entwickelt, die alle älteren Beziehungen zu zerbrechen droht.

Sicherheit ist nirgends mehr zu gewinnen: nicht in den Irrungen und Wirrungen der intimsten Beziehungen, nicht auf Schloss Bergheim, das den Rang einer Heimstatt vielleicht nie verdient, aber jedenfalls längst verloren hat, auch nicht – im Roman.

Die Irrungen und Wirrungen der Beziehungen äußern sich gewöhnlich in dem, was die Figuren unschlüssig oder ängstlich für sich behalten, weit mehr als in allem, was sie einander mitteilen oder anvertrauen. In einer Schlüsselszene erzählt Elise Plümeke von einer Tür, durch die man früher jeden Mittag den Armen zu essen gegeben hätte, ehe sie dann später zugemauert worden sei; Elise wäre dafür, diese Tür wieder aufzubrechen, Bergheim umzugestalten zu einem Haus der offenen Tür. Plümeke, er ist es „gewohnt, laut zu denken“, zeigt daraufhin Wirkung, zieht sich aber kopfüber wieder zurück in seinen Bunker. „Ich verstehe, Sie meinen damit auch mich. Aber ich kann ja nun nicht eine Tür aufmachen und Ausspeisung veranstalten. Gut, Sie meinen: symbolisch. Ich soll wohl symbolisch eine Tür – aber wie soll ich das? […] Vermauert ist nun einmal vermauert. Daran kranken wir alle.“ Elise erlebt hinterher eine schlechte Nacht, das Gespräch mit Plümeke geht ihr nach „wie etwas Verstiegenes und Verbotenes“, verbietet ihr doch ihre Sozialisation, in dieser Konstellation der neuen Sehnsucht nach Vertraulichkeit nachzugeben. Beklommenheit, Unsicherheit, Unbehaustheit – sie wird diese Empfindungen nie mehr los. Am Ende, Elise wird Bergheim gemeinsam mit ihrem Mann verlassen, sehen sie, ohne sich noch einmal umzublicken, „die ganze Landschaft wie ein gestrandetes, ausgeweidetes Schiff“, eine „ausgeplünderte Landschaft“, und sie sehen „sich zu Tode erschrocken selber“, als „Figuren einer von einem Traum gefressenen Welt“. Wie weit die historischen Umwälzungen, wie weit sie selbst dieses Desaster herbeigeführt haben, das bleibt offen.

Bergheim, so wird einmal eine Zwischenbilanz gezogen, von Elise oder vom Erzähler – eher wohl von beiden gemeinsam, Schloss Bergheim „war eine Heimat, ein Schlachtfeld des Gefühls“. Das Oxymoron vermittelt nur eine unter vielen Irritationen, die allen gefestigten ‚Heimat‘-Vorstellungen zugemutet werden. Heimat, der Ort, wo man Freunde haben sollte, wie Elise eines Tages ihrem Mann gegenüber anmerkt, um gleich darüber zu erschrecken, weil er doch mit niemandem befreundet ist auf Bergheim, ‚Heimat‘, was immer sonst noch unter diesem Begriff zu subsumieren wäre, wird nie mehr so wahrgenommen, betrachtet, beurteilt wie früher üblich; nur der Forstmeister Gruß, Franz Gruß, der den Anschluss Österreichs ordentlich gefeiert hat und überhaupt gerne trinkt, kann’s nicht lassen, hin und wieder von „Bodenständigkeit und Heimatzorn“ zu schwadronieren, „starke Worte“ zu gebrauchen wie „Hausrecht und einmal Dreinfahren“. Ein Mitläufer, ein Vorläufer des Herrn Karl (mit dem der Kabarettist Helmut Qualtinger 1961 seinen Durchbruch im deutschen Sprachraum schaffen sollte), Herr Gruß diskreditiert sich selbst. Aber auch ein wesentlich sympathischerer Zeitgenosse, Professor Paul von Plümeke, einer der wenigen Besucher, die für eine Zeitlang Quartier nehmen in Bergheim, ist nicht als Identifikationsfigur gekennzeichnet, wenn er doziert: „1914, was war das für eine Welt! Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Und seither sind die Völker Europas darauf aus, sich allerlei wegzuamputieren: ihre Dynastien, ihren Adel, ihre festen Menschenheimaten“. Die Umkehrung aller Werte: Ob diese Definition das Merkmal der Epoche trifft? Alle Äußerungen zu diesem Thema, sofern sie nicht eine Parteinahme für den Nationalsozialismus bekunden, bleiben unkommentiert neben- und gegeneinander stehen; so wie später, nach dem Kriegsende, die diversen Reden über den „Zusammenbruch“, angesichts der Treckzüge, die Bergheim erreichen, der Plünderungen, die auch auf dem Gutshof für Ruhelosigkeit und Schrecken sorgen, und der russischen Truppen, die den Meierhof besetzen. Immerhin, die zugemauerte Tür in der ehemals gräfllichen Küche wird jetzt doch aufgebrochen. Uhlig sieht es, erzählt es seiner Frau und wundert sich, dass sie darüber in Tränen ausbricht. Während er selbst zu der Einsicht gekommen ist (und sich damit abgefunden hat), dass man unterm Hakenkreuz kein Gesetz beachtet und „sich wie in einem Rausch hinausgeworfen hatte über jede Schranke“, begreift Elise, dass so manche Schranke doch auch wegzuräumen gewesen wäre; in Worte fassen kann sie’s nicht. Auch weil sie wahrnimmt, dass die großen Wörter (die in der Regel alles andere als doppelsinnig sind) ausgedient haben, endlich.

„Es sieht nach Roman aus, aber für Romane ist es zu spät geworden in diesem Jahrhundert.“ Tumler nimmt in den 1950er Jahren vielfach Anregungen auf, die er aus Gesprächen mit Joachim Moras (dem Herausgeber des Merkur und André Gide-Übersetzer) und Gottfried Benn, aber auch aus der Lektüre neuer Vorbilder bezogen hat: James Joyce und William Faulkner sind hier zunächst zu nennen, auch Samuel Beckett und ganz besonders Le Voyeur von Alain Robbe-Grillet. Diesem Roman, dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel Der Augenzeuge erschienen ist, widmet Tumler 1958 eine ausführliche Besprechung, in der er die Unterschiede zwischen dem Roman der Altvorderen und dem Nouveau Roman hervorhebt, sich von dem in diesen Jahren im deutschsprachigen Raum noch durchaus gängigen Erwartungshorizont des Publikums absetzt und schließlich eine Lanze bricht für die strikte Verknüpfung von Erzählen und Reflektieren: „Der Roman althergebrachter Art greift nach den Ereignissen und bringt sie in eine Sphäre voraussetzungsvoller Zuhörerschaft, innerhalb deren man sich etwas mitzuteilen und zu deuten wünscht; er setzt sie diesem Bedürfnis entsprechend zu Geschichten oder Lebenszusammenhängen um. Der moderne Roman will nicht diese Umsetzung des Gegenstandes, sondern ihn selbst.“ Ein Schloß in Österreich markiert den Wendepunkt: Tumlers Abkehr vom „Roman althergebrachter Art“ und zugleich sein Bemühen um den modernen Roman, der allen eindeutigen Auskünften misstraut.

Der Himmel über Meran

Der Begriff ‚Heimat‘, schreibt Lutz Seiler, sei „beinahe zwangsläufig in Felder politischer Kämpfe und ideologischer Projektionen“ gerutscht und mit den daraus resultierenden Konnotationen „zurecht untergegangen“; aber er habe sich dann doch abermals etabliert und sei seither „erneut schwer beladen“: „Der weitfahrende Gedanke von der Globalisierung unseres Daseins sucht sein behausendes Korrelat und findet es in einem neuen Regionalismus der vielen, kleinen Heimaten.“ (In: Heimaten. Göttinger Sudelblätter. Göttingen: Wallstein 2001) Seilers Befund trifft auch die Literatur; Autorinnen und Autoren werden nämlich weit öfter als ihnen lieb ist der Landschaft, aus der sie kommen, zugeordnet und restriktiv unter diesem Blickwinkel rezipiert. Joseph Zoderer, wie eingangs schon angedeutet, ist geradezu massiv mit dieser Problematik konfrontiert, obgleich er im Roman Die Walsche die Vorstellung von Heimat als einem Zufluchtsort gehörig untergraben hat. Sein Erzählband Der Himmel über Meran (2005) kann allerdings zunächst einmal sehr wohl dazu verleiten, über die Schwierigkeiten eines interkulturellen Lebens oder über hybride Alltagspraktiken nachzudenken. Er bietet jedoch noch ganz andere Lektüremöglichkeiten. 

Dieser Erzählband versammelt eine Reihe von Geschichten, die als Geschichten aus der Geschichte Südtirols gelesen werden könnten. Zoderers Texte allerdings sind auch Geschichten, die ganz grundsätzlich vom Alleinsein reden und vom Durst nach Zugehörigkeit. Weil in diesen Texten sehr anschaulich erzählt, geradezu akribisch festgehalten wird, was der Erzähler sieht und sehen möchte, empfindet und empfinden möchte, weiß oder auch nicht ganz sicher weiß und doch gern wissen würde, weil diese Texte zudem über weite Strecken wie Passagen aus einer größer angelegten Autobiographie wirken, ist die Geschichte Südtirols, von der Zeit der Option bis zur Gegenwart, hier freilich fast permanent als Folie präsent. Trotzdem, in diesen Texten wird keineswegs bloß subjektiv Erlebtes und Erfahrenes, in diesen Texten wird weit mehr verhandelt.

In diesen Texten ist nämlich aufgezeichnet, was für den Erzähler und für die Menschen in seiner Umgebung einmal die Welt gewesen ist, was ihnen verloren gegangen und was ihnen geblieben ist. In diesen Texten ist, manchmal wehmütig, manchmal nüchtern, nicht selten mit einer Gelassenheit, die ihresgleichen sucht, die Rede vom Gehen über ein vertrautes Gelände, das plötzlich wegbricht. In diesen Texten ist schließlich nichts erfunden, in diesen Texten wird nichts erläutert, es gibt keine Klage und keine Anklage, keine Auflösung zwiespältiger Phänomene, keine eindeutigen Auskünfte, kein Täuschungsmanöver; die Titelgeschichte des Bandes beginnt, symptomatisch lakonisch, mit dem Satz: „Den Himmel über Meran kenne ich nicht.“

Mit Begriffen wie ‚Heim‘ und ‚Heimat‘ tut sich der Erzähler nicht nur deshalb schwer, weil er die „Heim ins Reich“-Parole noch im Ohr hat; von dieser Parole und ihren Folgen berichtet die Erzählung Wir gingen (die zum ersten Mal 1989 in einem von Reinhold Messner herausgegebenen Sammelband über „Die Option“ und später noch einmal gesondert, in zwei Fassungen, deutsch und italienisch, 2004 in der Edition Raetia erschienen ist). Er tut sich damit auch ziemlich schwer, weil er nach wie vor das „Gekeife der Mussolini-Erben“ auf der einen Seite und das „Dröhnen“ der Südtiroler „Stammtischbrüder“ auf der anderen Seite hört.

Weit wichtiger freilich ist, dass er das Fremdheitsgefühl längst schätzen gelernt hat, dass er es braucht. Nicht zuletzt deshalb greift Zoderer zentrale Begriffe der politischen Auseinandersetzungen in Südtirol wie ‚bleiben‘ und ‚gehen‘ (aus der Optionszeit) auf, um gerade diese Schlüsselbegriffe durcheinanderzuwerfen.

Da hieß es nicht: Wenn du deutsch bleiben willst, ein Tiroler, mußt du gehen, und wenn du italienisch wählst, kannst du daheim bleiben.

Es hieß nicht: Die Heimat bewahren und deshalb für Italien wählen, auf dessen Staatsgebiet die Heimat nun gerade lag. Es hieß nicht: daheim bleiben in Italien oder die Heimat verraten, sie verlassen, und also fürs deutsche Großreich wählen.

Es hieß nicht, wie es hätte heißen sollen: Die Heimat behalten und deshalb italienisch optieren mit einem weißen Zettel, oder die Heimat verlassen, sie verraten und deutsch optieren mit einem orangenen Zettel.

Nein, es hieß: Deutsch bleiben oder Italiener werden.

Aber Zoderer gibt sich keineswegs damit zufrieden, die über den diversen Strategien der Verschleierung liegende Decke zu lüften. Aus der Erzählung, die wie eine autobiographische Skizze eröffnet wird, erhebt sich vielmehr ein Reflexionsterrain, in dem eine ganze Reihe von Themen aufgeworfen wird. Die Option bzw. die Grenze ist nur eines dieser Themen, das Fremdheitsgefühl ein zweites, ein drittes das Problem der Rekonstruktion bzw. Konstruktion in der Historiographie und in der Erzählung. Wir gingen kann deshalb nicht nur im Zusammenhang der Südtiroler Literatur gesehen, sondern z. B. durchaus auch gelesen werden im Kontext der Erzählung Wunschloses Unglück von Peter Handke.

In der schönsten Erzählung dieser Sammlung, in der Erzählung Die Nähe ihrer Füße, die nicht in Südtirol, sondern in einer mediterranen Landschaft, in einer „Stadt am Meer“ spielt, steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, ein Liebespaar, das dabei ist, wie es scheint, sich für immer zu trennen. Der Erzähler allerdings weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Er bricht die Geschichte stattdessen ab, und zwar just an einem Punkt, an dem sie ganz neu beginnen könnte.

Sie beugte sich zu ihm, nannte einige Male seinen Namen, es war das Trauergebet für alles, er blieb sitzen, während sie auf die Straße hinaustrat. Er sah, wie sie die Fahrbahn überquerte, kaum ein Auto kam in seinen Blick, er schaute durch das Heckfenster, während das Taxi wieder anrollte, der Schal hing mit einem langen Ende von ihrer rechten Schulter, sie hatte einen stolzen, ruhigen Schritt, die Schalschleife fiel ihr bis über die Hüfte, eine Handbreit oberhalb des Knies endete auch ihr Minirock.

So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss. Der Erzähler sagt nicht, er will nicht sagen … mehr noch, er weiß nicht, er will auch, genau so wie Tumlers Erzähler im Roman Ein Schloß in Österreich, gar nicht wissen, wie die Geschichte weiter, wie sie ausgeht. – Derartige Oszillation ist kein Merkmal der Heimatliteratur, auch kein Merkmal der Anti-Heimatliteratur, sondern vielmehr: ein Signum der Poetizität.

Zitierte und weiterführende Literatur (Auswahl):

Franz Tumler: Ländliche Erzählungen. Graz: Leykam-Verlag 1944 (=Salzburger Hefte, H.6).

Franz Tumler: Ein Schloß in Österreich [1953]. 2. Aufl. München-Zürich: Piper 1975.

Franz Tumler: Versuch einer Bewältigung der Zeit. Zu Alain Robbe-Grillet: „Der Augenzeuge“. In: Der Monat 10, H.115 (1958), S.66-69.

Franz Tumler: Aufschreibung aus Trient. Roman. Mit einem Nachwort von Sieglinde Klettenhammer. Innsbruck-Wien: Haymon 2012.

Joseph Zoderer: À propos Heimat. In: Literatur in Südtirol. Hrsg. von Johann Holzner. Innsbruck-Wien: StudienVerlag 1997.

Joseph Zoderer: Der Himmel über Meran. Erzählungen. München-Wien: Hanser 2005.

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Brigitte Foppa: Schreiben über Bleiben oder Gehen. Die Option in der Südtiroler Literatur 1945-2000. Trento: Ed. Univ. degli Studi di Trento 2003.

Barbara Hoiß: Ich erfinde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat und Sprache bei Franz Tumler. Innsbruck: Diss. 2006.

Johann Holzner / Barbara Hoiß (Hrsg.): Franz Tumler. Beobachter – Parteigänger – Erzähler. Innsbruck: StudienVerlag 2010 (=Edition Brenner-Forum, Band 6).

Jürgen Joachimsthaler: Kultur-Innenraum und Kultur-Innenzeit. Eine kurze Reise durch Regionen, Narrative, Behälter-Räume, Semiosphären und andere Konzepte. In: Raum – Region – Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Hrsg. von Marjan Cescutti, Johann Holzner und Roger Vorderegger. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2013 (=Schlern-Schriften 360), S.107-133.

Bernhard Arnold Kruse: Wider den Nationalismus – oder von den Schwierigkeiten eines interkulturellen Lebens. Zu den Südtirolromanen von Joseph Zoderer. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2012.

Andrea Kunne: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991 (=Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Band 95).

Joseph Zoderer. Hrsg. von Günther A. Höfler und Sigurd Paul Scheichl. Graz: Literaturverlag Droschl 2010 (=Dossier Band 29).

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem gekürzten Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser auf der internationalen Tagung “RAUM – GEFÜHL – HEIMAT. Literarische Repräsentationen nach 1945“ an der Universität des Baskenlandes in Vitoria-Gasteiz gehalten hat. Die Tagung fand am 23. bis 25.9.2015 statt und wurde organisiert von Dr. Garbiñe Iztueta, Prof. Dr. Mario Saalbach, Dr. Carme Bescansa und cand. phil. Iraide Talavera. Eine Dokumentation der Tagung erscheint 2016 als Buch im Verlag LiteraturWissenschaft.de.