Der Kessel als Strategie und Metapher

Norman Ächtler untersucht Romane über den Zweiten Weltkrieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zweite Weltkrieg wurde in der deutschsprachigen Literatur sehr schnell zum Thema. In einer großen Zahl erfolgreicher Romane wurde verbreitet, was Norman Ächtler als „Soldatisches Opfernarrativ“ bezeichnet: Der einfache Landser, im Untergang von rücksichtslosen Nazis und ebenso feigen wie inkompetenten Etappenoffizieren verheizt. Vor sich hat er den Feind, hinter sich die Feldjäger und den SD. Der Kessel ist, so Ächtler, nicht nur dort Thema, wo wie in Theodor Pliviers „Stalingrad“ tatsächlich eine Kesselschlacht geschildert wird. Vielmehr sieht er den Kessel als „Chronotopos“ im Sinne Michail Bachtins, der als „hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum“ das „Zentrum der gestalterischen Konkretisierung“ bilde.

Ächtler untersucht Kriegsromane, die vor der Gründung der beiden deutschen Staaten und dann in der Bundesrepublik bis 1960 entstanden sind. Die zeitliche Grenzziehung ist sinnvoll, da mit den Prozessen gegen Adolf Eichmann und gegen einige der Täter von Auschwitz der Völkermord an den europäischen Juden um 1960 stärker ins Bewusstsein der westdeutschen Öffentlichkeit rückte, und sich die Rahmenbedingungen der Diskussion zu wandeln begannen. Auch wenn der Autor im Untertitel angibt, über den „westdeutschen Kriegsroman“ zu schreiben, geht seine Betrachtung erheblich darüber hinaus. Schließlich ist mit Theodor Pliviers „Stalingrad“ der Roman, auf den sich Ächtler immer wieder als Schlüsseltext bezieht, in der sowjetischen Besatzungszone erschienen. Konsequent berücksichtigt er auch weitere ostdeutsche Texte wie Erich Loests „Jungen die übrigblieben“.

In allen vorgestellten Romanen findet Ächtler Abwandlungen dessen, was er als „Narrativ“ bezeichnet. Es handelt sich, in Kürze zusammengefasst, um eine gesellschaftlich dominante Struktur der Sinnstiftung, die mit einem festgelegten Arsenal an Typen, Orten, Handlungsmustern und Plots operiert und dabei innerhalb dieses Rahmens variable Umsetzungen erfahren kann. Die Texte bringen gemeinsam das Narrativ hervor, das die Plausibilität des einzelnen Texts unterstützt.

Gemeinsam ist fast allen der Kriegsromane ein expliziter oder doch wenigstens impliziter Bezug auf die Tragödie. So sehen sich die Soldaten gezwungen, für eine Sache zu kämpfen, die sie als falsch erkannt haben; oder ihr Konflikt besteht darin, dass sie, wenn sie fahnenflüchtig werden und so den ohnehin verlorenen Krieg verkürzen, gleichzeitig ihre Kameraden gefährden. Die Tragik ist zumeist existentialistisch begründet, wie sich leicht an Alfred Anderschs „Kirschen der Freiheit“ zeigen lässt. Ächtler arbeitet indessen unterschiedliche Traditionslinien heraus, die zum einen auf den christlichen Existentialismus Søren Kierkegaards zurückgehen, zum anderen auf die atheistische französische Variante eines Albert Camus oder Jean-Paul Sartre.

Dem Thesenroman, der umfangreiche Reflexionen enthält, stellt Ächtler Texte entgegen, in denen Praktiker des Krieges das Personal dominieren. Das Frontschwein, das bei aller Desillusionierung doch noch effektiv kämpft, ist eine ebenso häufige Figur wie der erfahrene Truppenoffizier, der Seite an Seite mit dem einfachen Landser vorgeht, und für seine Männer auch in schwierigsten Situationen zu sorgen versucht. Auf der anderen Seite gibt es die verblendeten Ideologen; die Generalstäbler, die keine Ahnung von den wirklichen Verhältnissen an der Front haben; die Feiglinge, die ihre Männer auf hoffnungslose Himmelfahrtskommandos schicken, um selbst einen Orden abzugreifen. Das ist ein Figurenensemble, das offenkundig der Lebenserfahrung jener jungen Autoren mit Fronterfahrung, die das Narrativ vor allem fortschreiben, ebenso entsprach, wie der ihrer Leser.

Auf diese Weise lässt sich zwar kritisieren, wie der Krieg geführt wurde, und allenfalls, dass er noch geführt wurde, als er schon lange verloren war. Dass er überhaupt begonnen wurde, und mit welchen Interessen, das ist mit dem Kesselroman nur schwer zu erklären. Dies kann auch den Romanen der „harten Schreibweise“ nicht gelingen, die Ächtler zuletzt vorstellt und deren Autoren mit einer Fülle schrecklicher Details und sinnloser Begebenheiten gegen den Krieg anschreiben. In ihnen wird allenfalls die Wahrnehmung im Krieg nachvollziehbar, was aber die Ereignisse nicht durchschaubarer macht.

Der strategische Wert des Narrativs liegt auf der Hand. Es spricht die große Mehrheit der Soldaten von Schuld frei. Sie erscheinen, wenn schon nicht als die Hauptopfer der Nazis, so doch als eine Opfergruppe unter anderen. Ächtler verweist auf eine Parallelführung in Heinrich Bölls „Wo warst du, Adam?“, wo Juden in einen grünen Wagen gesperrt zur Ermordung gefahren werden, während die Feldgendarmarie die kampfmüden Soldaten in einem ebenfalls verschlossenen roten Wagen als Kanonenfutter an die Front karrt. Dabei ist dies einer der wenigen Romane, in denen die Shoah überhaupt genannt wird, und immerhin schreibt Böll insofern gegen die Legende von der sauber gebliebenen Armee an, als Wehrmachtssoldaten und nicht SSler die Juden transportieren. Das ändert aber wenig an der hauptsächlichen Wirkung einer solchen Parallele. Ächtler hebt auch hervor, dass fast alle Romane die zweite Kriegshälfte zum Stoff haben, die Deutschen damit als Verteidiger auftreten.

Der Wert der Begrifflichkeit „Narrativ“ für das Buch ist schwieriger zu ermessen. Auf der Gewinnseite steht, dass die Wirkmacht einer Anschauung im literarischen Feld relativ genau bestimmt wird. Die sich gegenseitig verstärkende Überzeugungskraft von Texten arbeitet Ächtler nachvollziehbar heraus; auch die zentrale Funktion eines ganz anderen Genres, nämlich der Tagebuchveröffentlichungen Ernst Jüngers, für den Zusammenhang wird auf diese Weise deutlich. Dem steht als Problem eine gut 160-seitige Einleitung gegenüber, die ein beeindruckendes Wissen über Erzähltheorie, über den Begriff des Narrativs in unterschiedlichen Fächern, über Anschauungen zur Tragödie und über einiges andere ausbreitet. Vieles davon ist klug, manches soll wohl vor allem die Belesenheit des Autors nachweisen, doch nur weniges wird wirklich zum methodischen Besteck des Hauptteils.

Die Arbeit, die dieser Teil gekostet hat, wäre wohl besser auf Fragen verwendet worden, die offenbleiben. Zwar stimmt, dass die Generation der Kriegsteilnehmer mit dem Opfernarrativ schnell und erfolgreich Positionen in Literaturbetrieb und außerliterarischer Öffentlichkeit besetzen konnte. Nur erfährt man nichts darüber, ob es konkurrierende Deutungsangebote gab. Interessant wäre auch, mit welcher publizistischen und vor allem – unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – logistischen Unterstützung in den verschiedenen Besatzungszonen die Werke und Aufsätze Verbreitung fanden. So wurden von Pliviers „Stalingrad“, trotz Papiermangels, bereits im Jahr der deutschen Erstveröffentlichung 1946 mindestens 120.000 gebundene Exemplare gedruckt; so etwas war ohne politische Interessenten nicht möglich.

Ebenso sind zwar geistesgeschichtliche Traditionslinien klar herausgearbeitet, die Rolle der Trivialliteratur wird jedoch nur punktuell thematisiert, und in welcher Weise die literarische Verarbeitung auf die in den nach 1950 erschienenen und massenhaft verbreiteten Erinnerungen von Nazi-Generalen reagierte, kommt gar nicht vor. Das Narrativ bleibt gattungsspezifisch isoliert.

Doch kann man von einem Buch nicht alle wünschenswerten Antworten erwarten. Hier bleibt Raum für weiterführende Studien. Schwerwiegender ist der Einwand, dass zumindest die Interpretation des Ausgangstextes, Pliviers „Stalingrad“, etwas zu sehr den Hauptzügen des Narrativs angepasst ist. Es stimmt zwar, dass der Roman mit der sowjetischen Angriffsoperation beginnt, die zur Einkesselung der 6. Armee führt, und dass er mit dem Marsch in die Kriegsgefangenschaft nach der Teilkapitulation am 31. Januar 1943 endet. Dennoch handelt es sich nicht ausschließlich um einen Kesselroman. Ein Handlungsstrang blendet nach Berlin über, zudem schildert Plivier, wie die Nachrichten von außen im Kessel aufgenommen werden. Vor allem aber gibt der Autor vielen der Soldaten, die er beschreibt, Vorgeschichten, und verdeutlicht so, dass nicht alle der Kämpfer hilflose Opfer waren. So tritt der Bauer auf, der bei seiner erhofften Ostsiedlung auf kolonialistische Weise einheimische Sklaven ausnutzen will. Die durchgehende, insgesamt positiv gezeichnete Figur Gnotke hat dennoch eine Vergangenheit als SA-Schläger. Der Offizier Vilshofen ist tatsächlich ein Vorbild für viele spätere fronterfahrene, mutige Troupiers, die gegen feige Etappenhengste für ihre Soldaten sorgen. Doch anders als die späteren Figuren erkennt Pliviers Oberst, dass gerade seine Qualitäten den größtmöglichen Schaden angerichtet haben:

„Vilshofen mußte sich sagen lassen, daß er als guter Offizier, der selbst mit vorn im Dreck gelegen und der Zigaretten und Brot und manches mit den andern geteilt hatte, verhängnisvoller als der schlechte Offizier gewesen wäre, und nicht der Unkameradschaftliche und nicht der Ausflieger und nicht der, der nur an die Rettung der eigenen Haut gedacht hatte und dem niemand Glauben schenkte, sondern er, der das Vertrauen besessen hat, hätte die Truppe in den Untergang geführt.“

Es ist schon viel von Ächtlers Narrativ in Pliviers Roman, doch finden sich auch widerstrebende Elemente. Immerhin erlaubt der Kessel, mitsamt seiner Rück- und Ausblicke, ein umfassendes Bild der Gesellschaft. Bei einem anderen – übrigens österreichischen – Roman, den Ächtler in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt, ist das Narrativ dann voll ausgeprägt: Herbert Zands „Letzte Ausfahrt“ von 1953 stellt die Lage im Restreich kurz vor der Niederlage metaphorisch im fiktiven Kessel von Mindenburg dar. Hier gibt es kein Außen und kaum eine Vergangenheit; in einer gespreizten Sprache, die an Ernst Jüngers Prätentionen von Vornehmheit erinnert, entwirft Zand eine Modellsituation.

Ächtler zeigt eine im Untersuchungszeitraum und darüber hinaus verbreitete Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg. Seine Ergebnisse bestätigen diejenigen früherer, von ihm eher geringschätzig abgetaner ideologiekritischer Arbeiten. Doch ist das Schreiben der Romanautoren über einen kaum vergangenen Stoff mit Widerständen belastet und dürfte zumeist auch die Reaktion auf zeitgenössische Kontroversen eine Rolle spielen: Von der unterschiedlichen Entschlossenheit der verschiedenen Besatzer, mit den Nazis aufzuräumen, über die entschlossene Restauration der frühen Adenauer-Zeit bis hin zu Anzeichen um 1960, dass diese Position nicht zu halten ist, gibt es in den 15 Jahren, die zur Diskussion stehen, etliche Umschwünge. Quer dazu steht noch die Debatte um die westdeutsche Remilitarisierung. Auch fügen sich Romane zunächst nicht einer Gruppe, sondern sie werden als Reaktion zwar auf Erlebtes, aber auch auf andere Romane und auf die Reaktion über andere Romane geschrieben. Kurz: Wahrscheinlich hätten durch ein chronologisches Vorgehen, und nicht nach Romantyp, Entstehung, Funktion und Schwächung des Narrativs deutlicher herausgearbeitet werden können. Doch kommt Ächtler ungeachtet dessen das Verdienst zu, eine langfristig wirksame, auch über Literatur vermittelte Sicht auf den Krieg klar aufgezeigt zu haben.

Titelbild

Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
455 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312777

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