Ein Roman, der Demut lehrt

In „Über tausend Hügel wandere ich mit dir“ erzählt Hanna Jansen die Geschichte des ruandischen Volkes und eines einzigartigen Mädchens

Von Laura KonertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Konert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 6. April 1994 wird das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Habyarimana auf dem Rückflug von Friedensverhandlungen in Tansania abgeschossen. Einen Tag später beginnt der grausame Völkermord in Ruanda, durch den fast eine Millionen Tutsi ihr Leben auf bestialische Art und Weise verlieren. Die achtjährige Jeanne wird Zeugin dieses Völkermordes, bei dem auch ihre Familie umgebracht wird.

Zusammengepfercht in einem Lager der Stadt, werden die in der Gemeinde lebenden Tutsi unter dem Vorwand einer Versammlung in das Gemeindehaus getrieben. Doch hier erwartet sie nicht der Bürgermeister, sondern der Tod: Sie werden eingekreist, ins Haus getrieben und anschließend erschossen, erschlagen oder durch Handgranaten getötet. Jeanne gelingt die Flucht, doch wird sie Zeugin der brutalen Ermordung ihrer Mutter: „Florence lag nur wenige Meter entfernt zu Füßen einiger Soldaten und Interahamwe, die auf sie einhieben. Keulen und Macheten sausten auf ihren Körper nieder. Füße traten nach ihr. Immer und immer wieder. […] Zurückschauend, in einem letzten, atemlosen Moment, nahm sie noch wahr, wie Florence den Kopf hob, als wollte sie aufstehen. Die Keulenschläge folgten der Bewegung und verfehlten nicht ihr Ziel.“ Während ihrer Flucht wird Jeanne als Zeugin der Ermordung ihres geliebten Bruders traumatisiert: „Ohnmächtig musste sie zusehen, wie Jando unter unaufhörlichen Schlägen und Tritten zum Vorplatz der Gemeinde gestoßen wurde, wo sich noch andere Mordwillige und ein paar Soldaten und Polizisten versammelt hatten. […] Doch bevor sie ihn erreichen konnte, sah sie einen Bauern, der quer über den Platz lief. Scheinbar ohne Ziel. Als er die Gruppe mit Jando im Vorbeilaufen passierte, hob er seine langstielige Feldhacke und hieb ihre Spitze in Jandos Hinterkopf. Jando sackte zusammen. Blieb liegen und bewegte sich nicht mehr. Noch immer prasselten Schläge auf ihn herab.“

Als Leser*in möchte man sich entsetzt abwenden von diesen verstörenden Bildern, sie beiseiteschieben und sich an den eigenen Alltag klammern. Doch genau hierin sieht die Autorin die Notwendigkeit der Veränderung. Der Umgang mit solchen Bildern ermögliche es eben nicht mehr „zu verdrängen oder zu vergessen“. Hierdurch rücken unweigerlich die Fragen nach der kollektiven Verantwortung und dem kollektiven Gedächtnis in den Fokus. Und so gehört zur Verarbeitung solcher Verbrechen nicht nur die individuelle Aufarbeitung durch die Überlebenden, sondern umso mehr die „angemessene Reaktion“ der Öffentlichkeit, die niemals aus Verdrängung oder gar Abwehr bestehen sollte. Dies wird auch in der Frage nach Jansens Schreibmotivation für diesen Roman deutlich: Antrieb gebe ihr die Empörung über das Unwissen der Öffentlichkeit über solche Verbrechen sowie deren – zu häufig ausbleibende – Beachtung.

In Über tausend Hügel wandere ich mit dir erzählt Hanna Jansen Jeannes Geschichte, beginnend mit der zunehmenden politischen Anspannung in Ruanda einige Monate vor dem Genozid und der um sich greifenden Angst der Tutsi. Den grausamen Höhepunkt der Handlung stellt der Genozid selbst dar; wir erfahren darüber hinaus jedoch auch, wie Jeanne die Flucht gelingt, wie sie sich in höchster Gefahr durchschlägt, bis sie bei den Rebellen angelangt ist und schließlich über eine Tante nach Deutschland kommt. Letzteres kann gleichwohl als ein sehr abruptes Ende des Romans empfunden werden. Es ist die Geschichte eines mutigen Mädchens, das trotz seiner Traumata überleben und sich erinnern will. Wenngleich der Blick in die Vergangenheit unüberwindbar verbunden ist mit diesem unmenschlichen Schrecken, umfasst er für Jeanne auch die Erinnerung an ihre Kindheit in Ruanda, an ihre Familie, an die Schule und die Heimatstadt. Die Erinnerung an die ruandische Vergangenheit bedeutet für dieses Mädchen ein tiefes Trauma und eine glückliche Kindheit zugleich. Nur durch die bewusste Erinnerungsarbeit, die wiederholt thematisiert wird, kann sie ihre Familie imaginär wieder zum Leben erwecken. Man möchte sich voller Ehrfurcht vor diesem Mädchen verneigen.

Jeannes Adoptivmutter ergreift zu Beginn einiger Kapitel selbst das Wort. Diese zumeist kurzen Sequenzen sind durch einen starken Sprung in Ort und Zeit gekennzeichnet, wobei die in Ruanda spielende Handlung der Vergangenheit zugeordnet und die Gegenwart in Deutschland verortet wird. In diesen Abschnitten wird deutlich, dass der Figur der Adoptivmutter über die liebevolle Fürsorge hinaus eine zentrale Rolle zukommt: Sie ist gleichzeitig Erzählerin (aus der Ich-Perspektive). Eine spannende Erzählstruktur, denn zuweilen ist man der kleinen Jeanne so nah, dass man meinen könnte, es würde aus ihrer Perspektive erzählt. An dieser Erzählweise lässt sich die enge emotionale Verbindung der beiden Figuren ablesen, die es der Erzählerin ermöglicht, so detailliert über die Erinnerungen der Tochter zu berichten. In diesen zwischengeschalteten Sequenzen, die sich zumeist auf das Leben Jeannes in ihrer Pflegefamilie beziehen, entsteht unweigerlich das Bild einer Einheit zwischen Adoptivmutter und Tochter, in der voller Wärme und Mitgefühl Momente des Alltags geteilt werden, und die zugleich (Schutz)Raum für Jeannes Erinnerung bietet. „Dabei habe ich mich selbst sehr tief auf Jeannes Erleben eingelassen, habe mit ihr gelitten und geweint.“ An Jeanne gewandt, schreibt die Erzählerin „Du tanzt durch die Küche. Der Adoptionsbeschluss ist da. […]. Du platzt vor Freude und erzählst es jedem, der nach Hause kommt. Es tut gut dich so zu sehen. Angesteckt von deinem Übermut, packe ich dich, wirbele dich herum, und wir tanzen beide durch die Küche.“ Jansens Sprachverwendung beweist große Sensibilität und ein ausgeprägtes Gespür für den richtigen Ton. Als Leser*in fühlt man sich bisweilen verfolgt von der Unerbittlichkeit ihrer Sprache. Schonungslos und unverblümt schildert sie die blutigen Bilder des Genozids, gleichsam angemessen findet sie die Worte, wenn andere sprachlos bleiben. Sehr gelungen ist überdies auch die Anknüpfung an den Romantitel, der in den unterschiedlichsten Lesarten wiederholt auftaucht. Wie schonungslos die Sprache dieses Romans sein kann, lässt sich auch am Beispiel des Bürgermeisters verdeutlichen, der sich von der versammelten Gruppe abwendet, zum Verräter wird und somit den Weg frei gibt für die Massenermordung; er trägt den Namen Innocent – Unschuld. Hervorzuheben ist außerdem die präzise und ausdrucksvolle Beschreibung des Charakters der Protagonistin: „Es fiel Jeanne nicht leicht, so zu sein, wie man es von einem Mädchen ihres Alters erwartete. Sanft und nachgiebig war sie nicht. […] In ihr lebte der Widerspruch, eine kleine, ständig flackernde Flamme, die plötzlich hell auflodern und in hitzigen Worten aus ihr hervorzischen konnte. Worte, die besser ungesagt geblieben wären.“ An anderer Stelle wird deutlich, dass es Jeanne aufgrund ihrer Erkrankung an Kinderlähmung im Kleinkindalter strengstens untersagt ist zu rennen. Doch „Jeanne war damit nicht einverstanden.“ In dieser kurzen Äußerung kulminieren ihr Eigensinn und ihre Sturheit und werden regelrecht greifbar.

Erst im abschließenden „Rückblick“ überschreitet Jansen die Grenzen der Fiktionalität. Aus diesem Kapitel geht hervor, dass es sich bei der Protagonistin um Jansens Adoptivtochter und deren Geschichte handelt. Hierdurch treten die Figuren aus der Fiktion in die Realität. So erscheint es der Autorin sinnvoll, erst im Anschluss an die Lektüre den fiktionalen Roman in einen biographischen zu verwandeln, um „durch eine fiktionale Erzählweise emotionale Nähe hervorzurufen, so dass […] es anschließend nicht mehr möglich sein würde, zu verdrängen oder zu vergessen.“ Doch dieser Sprung in die Realität wirft gleich mehrere Fragen auf: Wenn sich doch durch die Fiktion mehr emotionale Nähe schaffen ließe, warum dann der abrupte Sprung in die Realität zum Ende des Romans? Und ruft nicht gerade der Bezug zur Realität Bestürzung hervor? Wäre das Verweilen in der Fiktion möglicherweise das bessere Mittel gewesen, der geschilderten medialen Verfremdung nach der Erstveröffentlichung in einem Jugendbuchverlag entgegenzutreten? Wenngleich die Fiktion Jeanne schützen soll, und die Realität ihrer Geschichte mehr Authentizität verleiht, so wirkt dieser Wechsel der Ebenen doch ein wenig unentschlossen. Allem Zweifel zum Trotz macht dieses Kapitel einen selten anzutreffenden und kostbaren Teil aus, denn er appelliert an ein Bewusstsein, das die mediale Inszenierung von Literatur kritisch reflektiert.

Über tausend Hügel wandere ich mit dir ist zweifellos ein Roman, der aufrüttelt, der auf schwer erträgliche Art und Weise den Genozid beschreibt und zur Reflexion zwingt. So fragen wir uns als Leser*in unweigerlich, was wir denn eigentlich über den Völkermord in Ruanda wissen, wie viel Verantwortung wir angesichts solcher Grausamkeit selbst übernehmen, und sehen uns nicht selten mit der verantwortungsvollen Auseinandersetzung solcher Verbrechen konfrontiert, die in der heutigen westlichen Welt bevorzugt weggeschoben wird. Ein Roman, der die Welt verändert, wenn wir uns als Leser*in trauen, die großen Themen dieses Romans zu reflektieren: Es geht um Verrat, Hass, Mord und Krieg, aber auch um Loyalität, Respekt und Liebe. Ein großartiges Buch, das bewegt und wachrüttelt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hanna Jansen: Über tausend Hügel wandere ich mit dir. Roman.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2015.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783779505174

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