Die Lesbarkeit der Strukturen

In seinem brillanten Essay „Der Eiffelturm“ zerlegt der vor hundert Jahren geborene Roland Barthes das französische Wahrzeichen und setzt eine Theorie des Turms zusammen

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer Ausgabe vom 28. März 2015 publizierte die britische Wochenzeitschrift The Economist unter dem Titel „Towers of Babel“ einen Artikel, der sich mit dem von Andrew Lawrence im Jahr 1999 veröffentlichten „Wolkenkratzer-Index“ – im Text ist etwas dramatisch vom „Wolkenkratzerfluch“ (skyscraper curse) die Rede – kritisch auseinandersetzt. Jener ‚Fluch‘ besagt das Folgende: „Mr Lawrence noticed a curious correlation between the construction of the world’s tallest buildings and economic crises.“ In der unter dem Artikel abgedruckten Grafik fehlt allerdings das bis zur Eröffnung des New Yorker Chrysler Building im Jahr 1930 höchste Bauwerk der Welt: der Eiffelturm. Diese Missachtung liegt einerseits an der schlichten Tatsache, dass die Statistik erst im Jahr 1900 – also elf Jahre nach Fertigstellung des Pariser Wahrzeichens – einsetzt; andererseits würde man den Eiffelturm nicht unter Begriffe wie ‚Wolkenkratzer‘, ‚Hochhaus‘ oder ‚Gebäude‘ fassen. Doch was ist der Eiffelturm dann?

Dieser Frage geht der französische Intellektuelle Roland Barthes (1915-1980), der Essayist, Kunstkritiker, Semiologe, Kulturkritiker, Literaturwissenschaftler, Gesellschaftskritiker, Narratologe, Theaterkritiker, Literaturtheoretiker, Filmkritiker, Romancier und Philosoph war (die Appositionen stammen von Ottmar Ette), in seinem Essay Der Eiffelturm assoziativ und sehr subtil nach. Barthes, der am 12. November einhundert Jahre alt geworden wäre, entwickelt in seinem kurzen, doch äußerst substantiellen Text keine Beziehung zwischen Türmen und Finanzkrisen; ‚sein‘ Eiffelturm geht mit Wahrnehmungs- und Bedeutungskrisen einher. So trifft der Leser bereits auf den ersten Seiten auf eine Antwort zur Frage nach dem Wesen des Eiffelturms: „Über seine spezifische Paris-Aussage hinaus berührt er die allgemeine Vorstellungskraft der Menschen, seine einfache, als Matrize wirkende Form verleiht ihm die Fähigkeit zur unendlichen Chiffre: nacheinander, je nach den Appellen unserer Vorstellungskraft, Symbol für Paris, für die Modernität, für Kommunikation, für Wissenschaft oder für das 19. Jahrhundert, Rakete, Stengel, Bohrturm, Phallus, Blitzableiter oder Insekt, ist er auf den großen Wegen des Traumes das unvermeidliche Zeichen.“

Zuerst erschien La Tour Eiffel mit Fotografien André Martins im Verlag Delpire im Jahr 1964, auf Deutsch sechs Jahre später bei Rogner & Bernhard. Zu Beginn des 1985 postum erschienenen Das semiologische Abenteuer (L’Aventure sémiologique) ist ein in Italien gehaltener und am 7. Juni 1974 in Le Monde abgedruckter Vortrag gleichen Titels veröffentlicht, in dem Barthes sein Denken in drei Phasen einteilt. Der Eiffelturm wäre demnach dem Ausklang des zweiten Entwicklungsabschnitts zuzuordnen, den Barthes als einen „der Wissenschaft, oder zumindest der Wissenschaftlichkeit“ bezeichnet und den er zeitlich zwischen 1957 und 1963 verordnet, Jahre, in denen er intensiv an der Sprache der Mode (Système de la mode) gearbeitet hat, einhergehend mit der „Lust, eine Systematik zu erproben“. Nach dem Tod des Autors Barthes wurde 1989 die französische Neuausgabe des Eiffelturms mit aktuelleren Arbeiten des Fotografen Martin veröffentlicht. Die jetzt erschienene Suhrkamp-Ausgabe weist allerdings nur die schon im Original und in der deutschen Erstveröffentlichung enthaltenen 13 historischen Aufnahmen auf, die allesamt der Zeitschrift L’Exposition de Paris (1889) entnommen sind; sie befinden sich in einem separaten, dem Essay angehängten Abbildungsteil und stellen die nicht nummerierten Seiten 66-79 des schmalen Bandes dar. Auf die Fotografien, die mit Barthes’ Text in einen Dialog treten, wurde leider verzichtet.

Dem Essay vorangestellt ist ein „Auszug aus der ‚Protesterklärung der Künstler‘“ gegen den Eiffelturm, die in der einflussreichen Tageszeitung Le Temps am 14. Februar 1887 veröffentlicht worden ist – also nur gut drei Wochen nach Baubeginn „diese[r] Scheußlichkeit“. Einer der Unterzeichner war der Schriftsteller Guy de Maupassant (1850-1893). Auf eben jenen geht eine Anekdote zurück, die Barthes als Einstieg in seinen Essay wählt, und Suhrkamp tat gut daran, diese kurze Passage auf dem Rückdeckel abzudrucken, da es sich hierbei um den Kern des Textes, um Barthes’ ‚Hauptaugenmerk‘ handelt: „Maupassant aß häufig im Restaurant des Eiffelturmes zu Mittag, obwohl er den Turm nicht mochte: ‚Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe‘, pflegte er zu sagen.“ Barthes fährt fort: „Zu welcher Jahreszeit es auch sei […], an welchem Punkt man sich auch befindet […], der Eiffelturm ist da“. Diese Sichtbarkeit, diese Omnipräsenz wirkt beinahe bedrohlich, ja verletzend: „Kaum ein Pariser, dessen Blick zu irgendeinem Zeitpunkt des Tages nicht von ihm getroffen wird.“„Ich wünsche mir eine Geschichte des Blicks“, heißt es in Barthes’ letzter Veröffentlichung Die helle Kammer (La chambre claire) aus dem Jahr 1980. Der Eiffelturm kann als Prolegomenon einer solchen Histoire des Regards gelesen werden, als Finger- oder vielmehr als Augen- und Aufmerksamkeitsübung, die der Erzähler dieses verdichteten Essays vorführt: Barthes sieht den Eiffelturm als Transgressor, als Objekt, das Sehen und Gesehen-werden verbindet, das „beide Geschlechter des Blickes hat“. Der Autor scheint mit diesem seltsam anmutenden Ausdruck auf eine Formulierung des französischen Historikers Jules Michelet (1798-1874) anzuspielen, den Barthes seiner 1954 erschienenen Studie Michelet par lui-même (die deutsche Ausgabe erschien 1980 bei der Europäischen Verlagsanstalt unter dem schlichten Titel Michelet) als Motto voranstellt: „Ich bin ein vollständiger Mensch, der die beiden Geschlechter des Geistes besitzt.“ Diese Bisexualität ist allerdings nicht allein im Blick (oder Geist) angelegt; Barthes schreibt dem Eiffelturm selbst Hybridität zu, sei er doch zugleich phallisch durch seine aufrechte Form als auch vulvisch durch seine löchrige Struktur. „Alles am Eiffelturm bestimmte ihn zu diesem Subversionssymbol: die Neuheit des Materials, das Nicht-Ästhetizistische seiner Form, die Unmotiviertheit seiner Funktion.“ Und so sieht der Erzähler des Essays eine reichhaltige Symbolik am Werk: Der Eiffelturm sei ein „Symbol für Paris gegen Paris“, ein „Symbol der Modernität“, ein „Symbol des schöpferischen Wagemuts“, „ein leeres Zeichen für die Zeit“, ein „Symbol für den Aufstieg“ sowie ein „Symbol der Leichtigkeit“.

Jörg Gleiter schreibt in seinem Beitrag „Die Präsenz der Zeichen: Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Architektursemiotik“ für die Zeitschrift für Semiotik (Bd. 36, 2014, Heft 1-2): „Eine der Schwierigkeiten ist, dass das, was aus der Ferne ein eindeutiges architektonisches Zeichen ist, wie zum Beispiel Brücken oder Türme, sich mit der Annäherung in vielfältige einzelne Elemente, Zeichenverweise und Interpretationsmöglichkeiten auflöst.“ Diese Erfahrung macht auch der Erzähler in Barthes’ Essay, wenn er sich die Frage nach der (Möglichkeit der) Besichtigung des Eiffelturms stellt, da – aus der Nähe betrachtet – kein Innen existiere, wie es etwa bei anderen Monumenten, bei Kirchen, Museen oder Schlössern der Fall sei. Hinzu kommt, dass der Eiffelturm ein „paradoxe[s] Monument“ verkörpere, das viele schräge Elemente aufweise, die aus der Ferne perfekte Vertikalität vorgaukelten, ja mehr noch: Aufgrund der „Durchbrochenheit seines Materials“ sei er ein „leere[s] Monument ohne Tiefe, von dem man sagen könnte, daß es ausschließlich aus einer äußeren Materie gemacht worden ist“. Daher dringe der Besucher in den Turm nicht ein; „er gleitet vielmehr am Rand seiner Leere entlang, er streift ihn, ohne jemals in ihm eingeschlossen zu sein.“ Diese Innenlosigkeit, dieses leere Zentrum macht den Eiffelturm zu einem Signum der Moderne par excellence.

In der dynamischen Triade Blick – Objekt – Symbol bzw. Metapher ist der Turm ein unendlicher Bedeutungsgenerator und Traumkristallisator. Es wird deutlich, dass Barthes’ Blick auf den und das Betrachten der Stadt vom Eiffelturm kein einfaches Schauen oder Wahrnehmen ist; es ist ein Entziffern, ein Sammeln unterschiedlichster Informationen und Eindrücke, ein Zusammenführen und Sichtbarmachen von Wissen – kurz: es ist Lektüre. Zu Beginn des sechsten Kapitels von Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt findet sich die folgende Passage: „Schon auf den Byzantiner Sokrates Scholastikus, der im 5. Jahrhundert die Kirchengeschichte des Eusebius fortgesetzt hatte, geht die Anekdote von dem heiligen Eremiten Antonius zurück, der einem Philosophen auf die Frage, wie er es in der Einsamkeit ohne Buch aushalten könne, geantwortet habe, die Welt sei sein Buch und er könne von dieser Lektüre nicht genug bekommen.“ Auch Roland Barthes hat große Lust am Welttext; er ist ein Lesender des Weltbuches, genauer: er liest im Buch Paris das Kapitel „Eiffelturm“ und berichtet über diese intensive Lektüre in seinem Essay. Explizit bedient er sich der Metapher der Lesbarkeit, wenn er schreibt: „Die Vogelperspektive, die jeder Besucher des Eiffelturms für einige Augenblicke gewinnt, bietet die Welt zum Lesen und nicht nur zum Wahrnehmen dar.“

Lesen und Wahrnehmen werden somit als graduell divergierende Begriffe gegenübergestellt: bei jenem handelt es sich um intensive Geistesarbeit, bei diesem um einen oberflächlichen, rein physiologischen Vorgang. Barthes behandelt noch weitere Oppositionspaare in seinem Text, etwa das bereits erwähnte Sehen versus Gesehen-werden, außerdem das Eigene versus das Fremde, das Nahe versus das Ferne, das Vertikale versus das Horizontale, Stein- versus Eisenarchitektur, Natur versus Kultur oder das Vergangene versus das Moderne. Hier tritt der Strukturalist Barthes ganz deutlich hervor, am deutlichsten vielleicht wenn er den Eiffelturm als „gleichzeitig aktives und passives Verb“ bezeichnet: Sprachwissenschaftliche Begriffe für grammatische Funktionen werden auf Außersprachliches, auf Objekte und deren Interaktion mit den sie betrachtenden oder von ihnen hinabblickenden Subjekten angewendet. Barthes sieht und liest „die Dinge in ihrer Struktur“. Doch er ist nicht der Einzige, denn „jeder Besucher des Eiffelturms“ betreibt „Strukturalismus“: „Er trennt und ordnet.“ Beim Blick des Betrachters auf Paris entziffert dessen Geist das Panorama, ein Panorama, das laut Barthes schon fünfzig Jahre vor dem (Blick vom) Eiffelturm in zwei literarischen Werken vorgeführt worden sei, und zwar in Victor Hugos Notre-Dame de Paris sowie in Michelets Tableau de France. So inaugurierten Hugo, Michelet und der Eiffelturm eine „neue Kategorie, die der konkreten Abstraktion“. Das sei „im übrigen die Bedeutung, die man heute dem Wort Struktur geben kann: ein Körper aus verständlichen Formen.“

Barthes’ Essay ist ein faszinierendes Kompendium mythologischer, symbolischer und historischer Zeichendechiffrierung, ein Addendum zu den 1957 veröffentlichten Mythologies (Mythen des Alltags, 1964). Der Eiffelturm ist ein Text über das Sehen, das Erkennen, das Lesen und letztlich auch über das Schreiben: Der Erzähler schaut aus der Ferne von seinem Schreibtisch auf den Eiffelturm; der Blick ist „zerschnitten von meinem Fenster“. In unmittelbarer Nähe des Monuments kann man „träumen, essen, beobachten, begreifen, staunen, Einkäufe machen wie auf einem Schiff (ein anderes mythisches Objekt, das Kinder zum Träumen bringt), man kann sich dort von der Welt abgeschnitten und doch zugleich als Besitzer der Welt fühlen.“ Schreibtisch und Eiffelturm sind Heterotopien im Sinne Michel Foucaults, magische ‚Nicht-Orte‘, Transitzonen voller Ambivalenz und Andersartigkeit. Und während man am Eiffelturm Simulationen des Wahrzeichens in Form von „Kerzenhalter[n], Stifte[n], Papiermesser[n], Briefbeschwerer[n] usw.“ kaufen kann, erzeugt Barthes durch sein Schreiben, durch seinen Text ein weiteres Souvenir, eine neue Art der Turmreduktion, ein schriftgewordenes Strukturmodell dieses „totale[n] Denkmal[s]“.

Roland Barthes macht den Eiffelturm und mit ihm den Blick auf ihn und von ihm lesbar; er zeigt, was da steht, und zwar in seiner ganzen stummen Polyphonie. Ob seine Überlegungen, ob seine strukturalistisch-poetische Methode auch auf andere Türme angewandt und somit zu einer Turmtheorie oder Turmästhetik zusammengefasst werden können, sei dahingestellt. Fest steht, dass jeder Paris-Reisende nach der Lektüre dieses Essays, nach diesem „Abenteuer des Blicks und der Intelligenz“, den 1000 Fuß hohen Touristen-Magneten im 7. Arrondissement der französischen Hauptstadt mit anderen Augen sehen und – lesen wird.

Titelbild

Roland Barthes: Der Eiffelturm.
Übersetzt aus dem Französischen von Helmut Scheffel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
64 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783518466322

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch