Erinnerung an die Hautevolaute

Michael Rutschky hat „Die Sensationen des Gewöhnlichen“ in der Tat mitgeschrieben

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da haben wir sie alle auf einen Haufen, genauer alle in einem Buch, die Großen der Literatur der frühen 1980er-Jahre. Diejenigen, die die Kultur jener alten Bundesrepublik ausmachten, in der Helmut Schmidt durch Helmut Kohl ersetzt wurde. Hans Magnus Enzensberger, Karl Markus Michel, Kurt Scheel, Karl Heinz Bohrer, Gaston Salvatore, Dieter Wellershoff, ja auch ein gewisser Thomas Anz tritt auf, wenn auch nicht in personam, sondern vertreten durch eine seiner Seminarteilnehmerinnen, die angeblich allen Dichtern in Klagenfurt 1983 schöne Augen gemacht habe.

Sie alle und noch ein paar mehr bekannte, weniger bekannte und unbekannte Personen finden sich in einem mehr als 400 Seiten umfassenden Band mit Tagebuchnotizen (mag man‘s glauben?)  aus den Jahren 1981 bis 1984, die Michael Rutschky nun nach einer Ewigkeit vorlegt.

Über 30 Jahre ist das alles her, mit später RAF und dem Schlussjahrzehnt der DDR, mit einem hübschen Projekt wie „Transatlantik“, das trotz Enzensberger als Aushängeschild grandios in die Hose ging, mit einer Band wie Style Council und nach der Neuen Deutschen Welle. „Sozialistische Spätantike“ nennt der Klappentext diese Zeit, auch wenn die DDR hier gar keine, fast gar keine Rolle spielt. Wer erinnert sich noch an ein Jahrzehnt, in dem wattierte Schultern, der Nato-Doppelbeschluss und die Grünen Geschichte schrieben?

Bevorzugter Schauplatz des privaten Lebens Michael und Katharina Rutschkys, die selber zur literarischen Prominenz der 1980er-Jahre gehörten, ist München, und eben nicht das niedergehende Berlin, das sich gerade in den Hausbesetzerunruhen aufrieb. Die hauptsächliche Aufmerksamkeit gehört jedoch nicht irgendeinem Schauplatz oder irgendwem, es sei denn, er hieße R., wie sich Rutschky gewissenhaft und methodisch sicher nennt. Und dieser R. ist und bleibt die Hauptsache, bis zum Schluss und in den Herzinfarkt hinein, der ihn schließlich – nicht ganz unerwartet – ereilt.

Es sind Sensationen, die die Seiten dieses Buches füllen, immer häppchenweise und kurzgefasst, einer Technik folgend, die Rutschky im Londoner Zentrum für Psychoanalyse bei Anna Freud aufgeschnappt zu haben meint: Die Hospitanten sollten jeden Tag eine Karte über ein Ereignis oder eine Person schreiben, die ihnen aufgefallen waren. Macht man das vier Jahre lang und vielleicht nicht nur einmal täglich, kommen eine Menge Seiten und Auffälligkeiten zusammen. Und wenn man dann auch noch – psychoanalytisch angefixt, wie sich das für einen guten Germanisten gehört, der in den 1970er-Jahren an der FU Berlin sozialisiert worden ist – den unauffälligen und kleinen Ereignissen des Alltags besondere Aufmerksamkeit widmet, kommt eine bemerkenswerte Sammlung von Gewöhnlichkeiten zusammen. Insofern sind diese Notizen die konsequente Fortsetzung und Variation der Zeitschrift „Alltag“, der sich Rutschky anschließend verschrieben hatte, und die sich diesem Projekt schon einmal über Jahre hinweg (zwischen 1985 und 1997) widmete.

Was dabei herauskommt? Nichts. Aber muss etwas dabei herauskommen? Jener R. schaut den Nackten an der Isar zu (heute verboten), führt seinen Hund Gassi und macht Ausflüge mit der Kathrin genannten Katharina. Er hockt zu Beginn in der Redaktion von „Transatlantik“ herum, nimmt aber bald seinen Abschied, um sich als freier Autor durchzuschlagen. R. reist, er scheißt, duscht, hat schlechten Sex (vom guten wird nicht berichtet) und viel Angst, fährt hundsmiserabel Auto, trinkt zu viel, trifft Leute, isst und spricht mit ihnen, nimmt sie in Augenschein, liest und schreibt.

Das Schreiben aber verliert im Laufe dieser Notizen stetig an Bedeutung. In ihrer Abfolge häufen sich die Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung – gelegentlich begleitet von einem gewissen Rainald Goetz, der damals seine Karriere begann und anscheinend so etwas zwischen Ziehsohn und Schoßhund der Rutschkys in München war (und heute bekommt er den Büchner-Preis, das hat sich gelohnt).

Mit diesen Ausflügen steigert sich die Banalität jenes Alltags, der so voller Sensationen gewesen sein soll. Eher eine Rentnerehepaarexistenz mit Cocker Spaniel, das sich das schöne Deutschland mit Kirchen und guter Aussicht anschaut, um zumeist schlecht auswärts essen zu gehen.

Freilich, das Buch lässt sich auch anders anpacken: Rutschky folgt hier einer konsequenten Methodik, mit der sich nicht die Banalität des Alltags entlarven lässt (wo hätte der das nötig?), sondern sich in der Existenz in ihrer ganzen Banalität vorstellt. Damit entwirft er ein Gegenprogramm zur Unterhaltungs- und Sensationsgesellschaft, die er auf ihre Basis zurückwirft, das Subjekt und seinen sehr privaten Zugriff.

Gleich zu Beginn gesteht der Autor ein, dass der Versuch, das Große Ganze, ja, die Weltgeschichte zu erfassen, nicht mehr (?) gelingen könne, nie habe gelingen können. Selbst die Interessen, die seine damalige Zeitungsausschnittsammlung geleitet hätten, erkenne er heute nicht mehr wieder, geschweige denn, dass ein Universalsortiment allen möglichen Wissens möglich gewesen wäre.

Aber jenen R. erkennen wir. Nicht, dass jemand das wollen wird. Die Romane, die sich nach dem Klappentext in diesen Notizen verbergen mögen, erzählen viel, erklären nichts, haben keinen Spannungsbogen und verlieren sich. Ihr Protagonist ist ein Mann um die 40, dessen Frau ihm Bermudas verpasst und ihn mit einem Sakko mit großem Karomuster bedroht. Seine Ansichten sind nicht bemerkenswert und sympathisch, auch nicht die seiner Frau. Außer dass sie entschieden vermerkt, dass ihr Peter Sloterdijk nicht mehr ins Haus komme – Chapeau! Nebenbei: Soviel Empfindsamkeit hätte man Goetz gar nicht zugetraut, dass er es noch zwei Jahre später vermeidet, vor Kathrin eine weiße Hose anzuziehen, weil sie sie an Sloterdijk so affig fand.

Gerade dies aber ist offensichtlich Programm und der Effekt einer gezielten literarischen Strategie: Banalisierung als Stilisierung? Der Alltag ist das Gegenteil und die Basis der Sensation (was auch immer das nun wieder sein soll). Hier muss jeder antichambrieren, ohne dass die Aussicht besteht, dass das alles je zu Sinn und Verstand gerät, was ja sonst als autobiographisches Projekt apostrophiert wird. Ein Schelm also, der Herr Rutschky. Was könnte man besseres über ihn sagen.

Titelbild

Michael Rutschky: Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen.
Berenberg Verlag, Berlin 2015.
428 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834825

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