Ein neues medienwissenschaftliches Forschungsfeld

Marcus Burkhardts Medientheorie der digitalen Datenbanken

Von Yun-Chu ChoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yun-Chu Cho

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Digitale Datenbanken ist der Titel von Markus Burkhardts Dissertation, die an der Universität Gießen unter dem Titel Medium-Computer-Database. Ansätze einer medientheoretischen Grundlegung eingereicht wurde und nun im transcript Verlag verlegt wurde. Burckhardts Untersuchung liefert eine Übersicht der Geschichte der Datenbanken in Bezug zur Mediengeschichte und zu relevanten Diskursen. In ihr werden  die „Chancen und Herausforderungen der computertechnischen Informationsverarbeitung sowie der Genese digitaler Technologien“ in acht Kapiteln umfangreich analysiert.

Traditionelle Theorien beschäftigen sich mit dem Medien-Begriff, der ‚Medium‘ als ein Gerät, ein Werkzeug oder ähnliches definiert. Auch beschreiben sie die Medientheorie anhand der Technikgeschichte. Hierbei ist die Frage nach dem „Archiv“ als Speichermedium für das Wissen der Menschheit von besonderer Bedeutung. Erst Michel Foucaults „Archiv“-Begriff, den man als „Sammlung und Organisation diskursiver Ereignisse“ betrachten kann, löste den Medienwissenschaften zufolge die „konkreten Prozeduren der Ablagerung in Bibliotheken und Katalogen“ ab. Dabei ist zu bedenken, dass Foucaults Diskursanalyse oder Archéologie du savoir ebenfalls nur ermöglicht wird durch die Bedingungen von Selektionsprozessen, etwa mithilfe „neuzeitliche[r] Gedächtnistechnologien“ wie die „Verschriftlichung, Speicherung und Anordnung des Wissens“. Hierauf bezieht sich auch Burkhardt in seinem Buch, denn am Ende der medientheoretischen Betrachtungen auf unser digitales Zeitalter steht stets die Frage nach der Archivierung des Wissens. 

Die theoretischen sowie methodischen Herangehensweisen und vor allem die technischen Bedingungen kreisen noch immer um das zentrale Problem der Archive, beziehungsweise um die heutigen digitalen Datenbanken, die die klassischen Informationsarchive ablösen.

Im Juli dieses Jahres fand beispielsweise die gemeinsame Summer School des thematischen Netzwerks „Literatur – Wissen – Medien“ und des PhD-Nets „Das Wissen der Literatur“ (unter anderem der HU Berlin, Princeton, Harvard und Cornell Universität) statt. Auch dort wurden als letzter Themenschwerpunkt die Archive behandelt. Darunter wurden die „Dispositive des Sammelns, Speicherns und Tradierens“, sowie der Vorgang des „Aussortierens, Wegwerfens, [und] Entwertens“ beleuchtet und hinterfragt. Ein Fokus lag dabei auf der digitalen Gegenwart und den Speicherkapazitäten sowie den durch die Kurzlebigkeit der Archivierungsmedien bedingten Verlustdrohungen. Deutlich wurde, dass noch immer kein Archivierungsmedium gefunden wurde, das den Anforderungen der digitalen Gegenwart gerecht wird.

Denn wie selektiert man heute etwa den Nachlass eines Schriftstellers? Gehören alle Blogeinträge, replies auf diversen Social Media Kanälen und Plattformen wie facebook, tumblr, und instagram dazu? Was passiert mit tweets und retweets? In Anbetracht der Tatsache, dass die heute gespeicherten Daten in wenigen Jahren durch Medien-Austausch und Weiterentwicklung vielleicht nicht mehr zugänglich sein werden, stellt sich umso dringlicher die Frage nach dem Wie der zukünftigen Daten-Archivierung: Was sind die Objekte der Archivierung und wie genau findet der Selektionsprozess für Informationen/Daten statt, die in den (digitalen) Datenbanken für nachfolgende Generationen hinterlassen werden?

In Digitale Datenbanken sucht Burkhardt einen neuen Zugang zu diesen Fragen und beleuchtet und die modernen Archive anhand der Entwicklung von Hardware und Software, Verfahren und medialen Praktiken. Die Arbeit will eine Antwort darauf geben, wie technische Verfahren der Verwaltung digitale Informationen bedingen. Sie untersucht, welche Objekte auf welche Weise gegenwärtig in den Datenbanken gefunden werden können, und analysiert deren Erkenntnisgewinn.

Damit unternimmt Burkhardt den Versuch, die bisherige Medientheorie unter dem Gesichtspunkt von Archiven mittels Geschichte der (digitalen) Datenbanken neu zu erzählen. Schon die Einleitung „More, more, more!“ verweist auf den übermäßigen Datenfluss, mit dem wir heute konfrontiert sind. Burkhardt problematisiert die enorme Fülle von „Erkenntnispotenzialen“, die diverse „Informationssammlungen“ bieten. Diese stehen für die „bedrohlichen Informationsexzesse der digitalen Medienkultur“. Schließlich geht es um Milliarden von Gigabytes, den sogenannten Exabytes.

Der Autor schlägt vor, Medien begrifflich als „das Andere des Kommunikationsprozesses“ zu fassen, was nicht „als Medium X oder Y“ definiert werden kann. So werden nicht etwa die Medien zum Untersuchungsgegenstand der Medienwissenschaften, sondern vielmehr „historisch wandelbare mediale Konfigurationen, die sich in unterschiedlichen Hinsichten auf signifikante Weise verändern können“. Burkhardt definiert ‚Medium‘ in diesem Sinne als „temporär relativ stabile mediale Konfigurationen“ wie etwa Malerei, Buchdruck, oder Fernsehen.

Der drohende Information Overload durch die heutige Datenmenge manifestiert sich durch das Sammeln von Informationen von Internetdienstleistern, Firmen und Staaten, und den täglichen Umgang mit diesen Big Data. In diesem Kontext fragt Burkhardt in Digitale Datenbanken, wie sich diese Datenmengen auf das kulturelle Leben, das Gedächtnis und das Wissen auswirken. Die Datenbank wird zunehmend als spezifische und technische Infrastruktur, als auch universelle Metapher von digitalen Informationssammlungen in den Fokus von Medien und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen gerückt.

Für Burkhardt bildet dies einen Untersuchungsgegenstand, der noch nicht erschöpfend behandelt werden konnte, weil er noch im Werden begriffen ist. Deswegen bezieht sich seine Forschung auf die  Entwicklungen der Technikwelt und schließt auch den heterogenen Charakter von „medialen Praxen“ mit ein. Die Computergeschichte dient ihm hierbei als Hilfe für das theoretische Verständnis der medialen Gegenwart.

Ein Ziel der medientheoretischen Herangehensweise mittels der Datenbanken ist, „die heterogene Vielgestaltigkeit der Versammlung, Verwaltung, Auswertung und Präsentation von Informationen in, mit und durch Datenbanken freizulegen“. Statt Lev Manovichs These zu folgen, dass eine Datenbank eine symbolische Form der digitalen Medienkultur sei, erörtert Burkhardt Mikrologiken der digitalen Datenhaltung. Was die Bedeutung von digitalen Datenbanken betrifft, beruft er sich auf Konrad Becker und Felix Stalder. Er bezeichnet sie als „Techniken der Versammlung, Verwaltung und Verfügbarmachung von Informationen in und mit Computern“ und schlägt eine Differenzierung von Phänomenologiken digitaler Datenbanken vor.

Daraus ergibt sich der zentrale Stellenwert der Auseinandersetzung mit dem „vielfältigen, heterogenen und zum Teil gegenläufigen Praktiken der Versammlung, Verwaltung, Selektion und Auswertung von digitalen Informationen in der heutigen Medienkultur“. Hierbei gilt Burkhardts Interesse vor allem der Analyse der „vielgestaltigen Realität digitaler Informationsverarbeitungspraxen sowie dem Imaginären digitaler Datenbanken“. Eine  Herausforderung, entziehen sich Datenbanken doch „einer Einordnung in etablierter Raster medientheoretischer Reflexion“.

Bei Burckhardts Definition des Datenbank-Begriffs lässt sich hierbei eine Ambiguität beobachten: Die Begriffe Daten und Informationen werden nicht strikt voneinander getrennt, da er Daten als „eine Form der Materialisierung sowie ein Typus von Informationen“ begreift. Des Weiteren thematisiert er technische Logiken von und mediale Praxen mit Datenbanken. Eine Datenbank wird somit zu „einer Chiffre für die Informationsexzesse der digitalen Medienkultur“ und im gleichen Zuge eine „Metapher für digitale Sammlungstechnologien“.

Burkhardt erklärt das „Doppelleben“ des Wortes Datenbank, um zu zeigen, wie sie eingeschränkt werden muss: „Jedwede Form von digitalen Informationssammlungen verweist andererseits auf spezifische Technologien der Verwaltung von Informationssammlungen (Datenbankmanagementsysteme, DBMS)“. Daraus folgt, dass „Techniken und Praktiken der Versammlung, Verwaltung und Verarbeitung von Informationen“ deutlichen Einfluss darauf haben, „welche Informationen auf welche Weise gesucht, präsentiert und ausgewertet werden können“. Eine Datenbank kann nicht sämtliche Daten auf einmal speichern, sondern funktioniert ausschließlich selektiv.

Die Frage nach dem digitalen Archiv ist nach Burkhard gleichzeitig die Frage nach dem digitalen Gedächtnis. Im Kern definieren beide ihr Wesen durch die Akte des Erinnerns und des Vergessens. Denn obwohl beispielsweise seit 1996 das Internet Archive einen Versuch darstellt, das gesamte Web zu archivieren, indem es einen „universal access to all human knowledge“ geltend macht, ist dieser Versuch allein durch die „Realität partikularer Informationssysteme“ zum Scheitern verurteilt. Die Grenzen des Internet Archive sind offensichtlich: Es ist stets Restriktionen unterworfen wie etwa Zugriffsbeschränkungen und spezifischen Sammel-, Speicher- und Zugriffslogiken im Web.

Die Datenbank als ein vollständiges Gedächtnis muss somit in letzter Konsequenz „Phantasie“ bleiben. Oder eine „Vollständigkeitsutopie, die ausbleiben wird“, wie Burckhardt Stephan Porombka zitiert. Der Gedanke eines vollständigen Archives, etwa einer „Vollständigkeit der Bibliothek“ nach Jorge Luis Borges, wird demnach als Dystopie entlarvt, denn in einer vollkommenen Datenbank würde man zugleich alles und nichts finden.

Zur Bedeutung der Datenbanken nennt Burkhardt als Beispiel den Klout-Score, der mit bestimmten Metriken die Erfassung von Einflüssen in der digitalen Gegenwart zu messen versucht. Als Kalkulationsgrundlage dienen verschiedene Datenbanken wie beispielsweise diejenigen von twitter, instagram, facebook und co. Die Quantität der vorgegebenen Daten anhand der ausgewählten Datenbanken bestimmt dabei die gemessene Online-Reichweite, den Klout-Score. Diesen interpretiert Burkhardt als eine „permanente quantitative Evaluierung von unseren Handlungen in, mit und durch digitale Medien(-Technologien)“. Er plädiert in diesem Zuge für eine kritische Analyse dieser Messungen um etwaige gesellschaftliche Konsequenzen herausfiltern zu können.

Eine einheitliche Medientheorie digitaler Datenbanken, so Burkhardts These, könne nicht geschrieben werden. Es könne dabei lediglich darum gehen, verschiedene Perspektiven auf eine Datenbankkultur im digitalen Zeitalter zu eröffnen. Wenig überraschend schließt Digitale Datenbanken daher mit einem „Plädoyer für eine kritische Datenbankkultur“. Für den Autor, so das Fazit, stellen „digitale Datenbanken […] die Quantifizierung aller Bereiche dar“. Die geforderte kritische Datenbankkultur beobachtet deren Auswirkungen und erkundet mögliche Alternativen.

Spannend wäre gewesen, wenn der Autor in seinem Kapitel zur Definition des Mediums die These von Joseph Vogl mit einbezogen hätte. Der Berliner Wissenschaftler konstatiert unter anderem in seinem Aufsatz „Medien-Werden: Galileis Fernrohr“ in Hinblick auf die Medienfrage, dass es „keine Medien gibt“. Beim Medienbegriff spielen bei Vogl „bestimmte Technologien, bestimmte Geräte und Maschinen, symbolische Formen, Gattungen, Institutionen, soziale Funktionen, bestimmte Symboliken“ eine Rolle. Die Medien-Funktion beschreibt er als ein „Zusammentreffen heterogener Momente“. Für eine „historische Einzelanalyse“ wie Digitale Datenbanken von Burkhardt wäre zumindest die Erwähnung von Vogls Aufsatz von nicht unbedeutender Relevanz gewesen.

Die Besonderheit seiner Untersuchung liegt vor allem darin, dass es unter der Creative Commons Lizenz zur Vervielfältigung und freiem Gebrauch im Netz einsehbar und zum Download zur Verfügung steht. Dieser Schritt ist ungewöhnlich, aber gleichzeitig die passendste Art der Veröffentlichung für ein Werk, das den Anspruch hat, die sich schnell wandelnde und verändernde digitale Welt unter die Lupe zu nehmen. Der offene Zugang zum Werk erleichtert die Verbreitung seiner Erkenntnisse. Allerdings weicht Burkhardt trotz seiner Affiliation zu den digitalen Medien nicht ganz vom traditionellen Weg der wissenschaftlichen Publikationen ab: Das 390 Seiten starke Werk ist auch im konventionellen Buch-Format erhältlich.

Nach der Lektüre stellt sich die Frage nach der Archivierung der Daten: Muss jeder (auch gelöschter) tweet ins Archiv aufgenommen werden? Oder die retweets, die heute schon gefiltert rebloggt werden (beispielsweise wird bei der Übertragung von Twitter auf die verknüpfte Facebook-Seite nur der Originaltweet gepostet, keine retweets). Des Weiteren stellt sich die Frage nach Retrieval-Systemen, da alte Systeme heute schneller veralten und nach schon kurzer Zeit nicht mehr zugänglich sind. Wer besitzt schon noch einen Floppy-Disk-Reader oder Mini-Disk-Reader? DVDs werden heute bereits abgelöst von Blue-Rays, diese wiederum werden ersetzt durch derzeit universell abrufbare cloud-Lösungen, welche ebenfalls bald durch neue Speichertechnologien ersetzt werden könnten.

Zu diesen Entwicklungen bietet Burkhardts Werk theoriegeschichtliche Grundlagen für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Digitale Datenbanken trägt somit erheblich zu einem neuen medienwissenschaftliches Forschungsfeld bei.

Titelbild

Marcus Burkhardt: Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
388 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837630282

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